11. In Bezug auf die vierzehnte und funfzehnte Wahrnehmung.

[500] Diese beiden Wahrnehmungen leiten zuvörderst, und zwar vorzüglich in Hinsicht auf die verfeinerten Menschenklassen, zu einer Klugheitsregel, die in ihrer Allgemeinheit und ohne die ihr nöthigen nähern Bestimmungen und Einschränkungen, so lautet:


Verabsäume, bei dem Bestreben nach wahrer innerer Vollkommenheit, auch den äußerlichen Schein derselben nicht.


Aber so allgemein ausgedruckt, wie sie hier steht, würde diese Regel manchem Mißverständnisse und einer sehr verkehrten Anwendung ausgesetzt sein. Wir müssen sie also näher zu bestimmen suchen.[500]

Es ist ausgemacht wahr, daß bei weiten die meisten Menschen mehr auf das Aeußere oder den Schein, als auf das Innere oder das Wesen der Dinge sehen, und in ihren Urtheilen und Neigungen sich mehr von jenem, als von diesem leiten lassen; aber es ist auch nicht minder wahr, daß ihre Eitelkeit nichts weniger an uns ertragen kann, als in die Augen fallende Vollkommenheiten, und daß man uns in den meisten Fällen eher den Besitz wirklicher Tugenden und wahrer Verdienste, als den Schein oder das Bekanntwerden derselben, zu gute hält.

Es ist ferner im Allgemeinen wahr und ausgemacht, daß wir sowol aus Bescheidenheit, als aus Klugheit, unsere Tugenden und Verdienste mehr zu verbergen, als gelten zu machen suchen müssen: aber es ist auch eben so wahr und ausgemacht, daß man uns, so lange man nicht weiß, was in uns steckt, vernachlässigen und keiner Aufmerksamkeit würdigen wird.

Es ist endlich wahr und ausgemacht, daß ächte Tugenden und wahre Vollkommenheiten, auch wenn unsere Bescheidenheit sie noch so sehr zu verbergen sucht, über kurz oder lang dennoch von selbst bekannt zu werden pflegen: aber es ist auch auf der andern Seite durch vielfältige Erfahrungen gleichfalls entschieden, daß oft die besten und würdigsten Menschen von ihren Zeitgenossen fast durchgängig verkannt wurden, und die[501] Achtung und Liebe, die sie bei ihren Lebzeiten verdient hätten, erst nach ihrem Tode bei einer gerechtern Nachwelt fanden.

Lauter Widersprüche, die, wenn wir sie verfolgen wollten, ohne erst einen allgemeinen Ueberblick der vorliegenden Gegenstände angestellt zu haben, uns in einen Irrgarten von Betrachtungen führen würden, aus dem selbst der Ariadne Knäul uns nicht wieder heraushelfen könnte! Laß uns also einen Stand-ort nehmen, auf dem wir die Verwickelung jener sich durchkreuzenden Erfahrungssätze und ihr endliches Zusammentreffen – denn es ist ja unmöglich, daß wirkliche Erfahrungen sich wirklich widersprechen sollten – übersehen können. Und nun bemerke:


1. Daß es einige Tugenden, Verdienste und Vollkommenheiten gibt, welche zunächst nicht sowol der Person, an der sie wahrgenommen werden, selbst, als vielmehr der menschlichen Gesellschaft überhaupt und Jedem, der mit einer solchen Person in irgend einem Verhältnisse steht, insbesondere zu Statten zu kommen scheinen. Ich sage scheinen; denn in der That gibt es keine einzige menschliche Tugend, die, indem sie Andern nützt, nicht auch zugleich ihrem Besitzer Vortheil brächte. Aber bei einigen fällt dis nicht sogleich ins Auge, und die meisten Menschen urtheilen, wie wir wissen, nur[502] nach dem, was in die Augen fällt. Das sind, z.B., die Tugenden der Redlichkeit, her Uneigennützigkeit, der Sanftmuth, der Gefälligkeit, der Artigkeit, der Dienstfertigkeit, der Freundlichkeit, der Bescheidenheit u.s.w. Von solchen nun verlangen unsere Mitmenschen, nicht nur, daß wir sie besitzen, sondern auch, daß wir sie bei jeder Gelegenheit ihnen zeigen und beweisen sollen. Aber wohlverstanden! nicht durch Worte und wörtliche Versicherungen – denn diesen traut man, durch Erfahrung gewitziget, wenig – sondern durch die That und durch diejenigen übereinkünftlichen Zeichen, welche man, gleich Bankzetteln und Wechseln, für baare Münze annehmen zu wollen, nun einmahl einig geworden ist. Von diesen Tugenden also muß man nicht bloß das Wesen, sondern, so sehr man kann, auch den Schein anzunehmen und bei jeder Gelegenheit zu behaupten suchen, überzeugt, daß man den Leuten nie zu viel davon zeigen kann, und daß sie uns den Besitz derselben nie beneiden werden.


2. Daß es unter den übrigen Tugenden, die sich zunächst auf die Person, die sie ausübt, selbst zu beziehen scheinen, einige gibt, deren Gegentheil Allen, die es wahrnehmen, auf eine so widrige und ekelhafte Weise in die Augen fällt, daß man auch bei diesen, nicht bloß die Sache, sondern auch den Schein verlangt.[503] Dazu gehören, z.B., die Mäßigkeit, nicht bloß im Essen und Trinken, sondern auch in Ansehung jeder andern Begierde und Leidenschaft, die Reinlichkeit, die Ordnungsliebe, die Ehrbarkeit, die Keuschheit u.s.w. Lauter Tugenden, deren Gegentheil nicht bloß das sittliche Gefühl der bessern Menschen, sondern auch ihren Geschmack oder Schönheitssinn, ja sogar ihr Auge und die übrigen körperlichen Sinne zu sehr beleidiget, als daß sie nicht alles, was auch nur ihre Einbildungskraft an dieselben erinnern kann, verabscheuen sollten. Auch diese Tugenden muß man daher nicht bloß zu besitzen streben, sondern auch den Schein des Gegentheils auf jede mögliche Weise von sich zu entfernen suchen.


3. Daß es aber auch andere Tugenden, Verdienste und Vollkommenheiten gibt, welche ihren Besitzer zu sehr auszeichnen, und ihm da, wo sie erkannt werden, zu viel Achtung und Ehre zuziehn, als daß die Eitelkeit und Selbsucht derer, die ihm darin nachstehen, gleichgültig dabei bleiben könnten. Dazu gehören, z.B., große Fähigkeiten und Geschicklichkeiten jeder Art, und von den sittlichen Tugenden diejenigen Grade, welche den Besitzer derselben über die gewöhnliche Menschheit erheben. Diese muß man, wenn man den meisten Menschen nicht mißfallen will, mehr zu verbergen, als an den Tag zu legen[504] suchen, doch so, daß man nicht gerade etwas sage oder thue, was auf das Gegentheil davon könnte schließen lassen. Der einzige Fall, wo es rathsam ist, Vortrefflichkeiten dieser Art, wiewol immer mit großer Bescheidenheit, zu äußern, ist der, wenn man mit Leuten von gleichen oder größern Verdiensten zu thun hat, die es nicht schmerzen kann, etwas von dem, was sie selbst in Ueberschwang besitzen, auch bei uns zu finden. Höchstsorgfältig aber müssen wie dergleichen Aeußerungen solchen Leuten gegenüber vermeiden, die aus die nämlichen Vortrefflichkeiten Anspruch machen, ohne sie wirklich zu besitzen. Diese würden sich dadurch gedemüthiget und in den Augen der Anwesenden zernichtet fühlen; ein Gefühl, welches tief zu Herzen zu gehn und dem, her es veranlaßt, nie vergeben zu werden pflegt.

Diese drei Bemerkungen sind, glaube ich, hinreichend, das Widersprechende in den obigen Erfahrungen auszulösen und zu vereinigen; und wer sich in seinem ganzen Benehmen gegen Andere danach richtet, der wird nicht leicht zu besorgen haben, sowol gänzlich verkannt zu werden, als auch die Eitelkeit und Selbsucht der Menschen durch seine Tugenden und Vollkommenheiten in einiger Allgemeinheit wider sich aufzubringen. Wäre beides auf eine Zeittang und bei einigen Klassen von Menschen dennoch nicht ganz zu vermeiden, wie denn das unter gewissen[505] Umständen wol der Fall sein kann: nun so hat es damit wenig auf sich, und so müssen wir uns in solchen Fällen theils mit unserm innern Bewußtsein, theils mit der doppelten Erfahrung zu trösten wissen, daß der Mensch, der es allen Leuten recht machte und Allen gefiel, erst noch geboren werden soll, und daß ein an sich lauterer Quell, zwar wol auf eine Zeitlang, aber nicht für immer getrübt werden kann. Dis führt mich auf die Betrachtung des Werthes, den wir auf das Urtheil der Menschen über uns und unsere Handlungen überhaupt zu legen haben. Laß uns auch diesen auf die der Vernunft legen.


Wenn ich ein Freund von sonderbarer Stellung schlichter Gedanken wäre, so würde ich sagen: das Urtheil der Menschen über uns und unsere Handlungen sei die wichtigste und zugleich die allernichtswürdigste Sache von der Welt; es hänge lediglich von uns ab, und es hänge wiederum auch ganz und gar nicht von uns ab; es sei unserer sorgfältigsten Aufmerksamkeit werth, und es verdiene ganz und gar nicht, daß wir im geringsten uns darum bekümmern. Allein da ich mehr Zeit und Worte gebrauchen würde, diese sinnreichen Widersprüche aufzulösen, als die ganze Sache in ihrer schlichten und natürlichen Gestalt[506] zu zeigen: so schlage ich, meiner Gewohnheit nach, lieber diesen letzten Weg ein.

Allerdings ist der Menschen Urtheil über uns, ganz besonders für dein Geschlecht, eine Sache von großer Wichtigkeit, weil unser gutes Fortkommen in der Welt, der glückliche Fortgang unserer Geschäfte und überhaupt ein großer Theil unserer äußeren Glückseligkeit davon abhängen. Allerdings verdient es daher unsere große Aufmerksamkeit, und es ist klug und weise gehandelt, daß wir uns bestreben, nichts zu reden oder zu thun, was mit Recht getadelt werden kann. Allerdings hängt endlich auch unser guter Name in so fern von uns ab, daß wir es durch ein kluges und rechtschaffenes Betragen dahin zu bringen vermögen, daß wenigstens die Weisesten und Rechtschaffensten unter unsern Mitbürgern nicht umhin können, in Ganzen genommen eine gute Meinung von uns zu haben. Dis alles ist von selbst einleuchtend, und gründet sich auf Erfahrungen, die Jeder darüber zu Rathe ziehen kann. Aber nun laß uns auch die andere Seite betrachten.

Ist es recht, auf das Urtheil der Menschen, so wichtig es auch immer für uns sein mag, Rücksicht zu nehmen, wenn Vernunft und Pflichtgefühl nach deutlich erkannten und überwiegenden Gründen einmahl entschieden haben? Hängt es in jedem Falle von uns ab, auch die Leichtsinnigen und Thoren, auch die neidischen[507] und verläumderischen Menschen, durch unser Verhalten zu befriedigen? Und ist es daher weise, den Tadel solcher Leute zu Herzen zu nehmen, sich darüber zu härmen, sich wol gar in rechtmäßigen und vernünftigen Handlungen dadurch stören zu lassen? Es ergibt sich abermahls ganz von selbst, daß alle diese Fragen mit nein! zu beantworten sind. Laß uns nun, nach dieser Auseinandersetzung, diejenigen Verhaltungsregeln merken, welche daraus hergeleitet werden können.


1. Sorge ja dafür, daß dein Betragen jedesmahl den Beifall der weisen und guten Menschen habe. Dahin wirst du es aber in den meisten Fällen sicher bringen können, wenn dein Betragen immer klug, rechtmäßig und gewissenhaft zugleich ist. Ich sage: in den meisten Fällen; denn zuweilen geräth man freilich wol in Lagen und Umstände, die keine menschliche Seele, außer der unsrigen, so ganz nach allen ihren Seiten zu übersehen vermag, welche eine Art zu handeln erfodern, die von der gewöhnlichen weit abweicht, und die daher von allen Menschen, selbst von den guten und weisen, getadelt zu werden pflegt, weil die gesammten Gründe unsers Verfahrens nur uns selbst und dem Allwissenden allein bekannt sind. Aber in Fällen dieser Art sei unbekümmert, mein Kind! Denn wenn nur unser Gewissen[508] rein geblieben ist: so dürfen wir versichert sein, daß die Vernunftmäßigkeit unsers Betragens früh oder spät in einem hellen Lichte erscheinen, und die kleinen Flecken, welche der unverdiente Tadel auf unsern guten Namen spritzte, wieder völlig werde verschwinden machen.


2. In allen solchen Fällen aber, in denen der äußere Schein wider dich ist, weil die wahren Bewegungsgründe deiner Handlungen nur Gott und dir bekannt sind, sei nicht so stolz auf deine Tugend, daß du den Tadel der bessern Menschen für gar nichts achten solltest. Belehre vielmehr, wenn's immer möglich ist, wenigstens Einige derselben, über die wahren Ursachen, welche dich bewogen haben, so und nicht anders zu handeln, und söhne dadurch ihren Verstand und ihr Herz mit dir und deinem Betragen wieder aus. Diese werden dann, weil sie gute Menschen und deine Freunde zugleich sind, sich eine Angelegenheit daraus machen, dich auch bei Andern zu vertreten, und, wofern die Gründe, welche dein Verfahren rechtfertigen, von der Art sind, daß sie nicht bekannt gemacht werden dürfen, sich mit ihrem ganzen Ansehen dafür verbürgen, daß du solche Gründe wirklich gehabt habest.[509] Und mehr bedarf es gemeiniglich nicht, um dem verläumderischen Gerede ein Ende zu machen.


3. Sollte es sich aber gleichwol je ereignen, daß Vernunft und Gewissen etwas von dir verlangten, wovon du voraussähest, daß das Urtheil der ganzen Welt sich dawider erklären und daß es dir unmöglich fallen werde, auch nur einen Einzigen von der Rechtmäßigkeit deines Verfahrens zu überzeugen: so verschmähe großmüthig und standhaft das Urtheil der ganzen Welt, und thue herzhaft, was Vernunft und Gewissen von dir verlangen. Denn keines Menschen gute Meinung von dir muß dir theurer sein, als das Bewußtsein, vor Gott und deinem Gewissen recht gehandelt zu haben, und sollte deine ganze irdische Glückseligkeit darüber zertrümmern. Das Gefühl, rechtschaffen gehandelt zu haben, wird ein hinlänglicher Ersatz dafür sein.


4. Verachte übrigens, im Bewußtsein deiner Unschuld und Rechtschaffenheit, von ganzem Herzen das Gezische und Geklatsche der Verläumdung, als eine Sache, welche Keiner, als etwa der in jeder Betrachtung ganz unbedeutende Mensch, vermeiden kann, welche deinem eigentlichen guten Namen auch[510] gar nicht schadet, und welche daher auch gar nicht werth ist, daß ein Mensch von Verstand und Weltkenntniß sich im mindesten darum bekümmere. Denn je mehr du vor Andern hervorstechen wirst, je größer deine Tugenden und Verdienste sein werden, und je mehr du dich bestreben wirst, die Vernunft zur alleinigen Schiedsrichterinn über deine Handlungen zu machen: desto weniger wird man dich und dein Betragen fassen können, desto weniger wird man es dir verzeihen, daß du nicht bist, wie andere Menschenkinder, desto eifriger wird man sich bemühen, dich aus deinen höhern Kreisen in seine eigene hinabzuziehen.

Und das werden gerade diejenigen am meisten thun, die dir ins Angesicht die meisten Schmeicheleien sagen! Auch das mußt du wissen, damit du nicht unerfahrner Weise Rechenpfennige für Dukaten haltest, und dich nicht auf einen Reichthum verlassest, von dem es sich, wenns zum Umsatze kommt, gar bald zu zeigen pflegt, daß er aus lauter falschen Münzen bestehe. Aber dis bezieht sich auf die letzte unter den obigen Beobachtungen, deren anwendbare Schlußfolgen ich nun gleichfalls noch besonders ausziehen muß.

Quelle:
Campe, Joachim Heinrich: Vaeterlicher Rath für meine Tochter. Braunschweig 1796 [Nachdruck Paderborn 1988], S. 500-511.
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