Die Musik.

[82] Musik! du mächtige! vor dir verschwindet

Der armen Sprache ausdrucksvollstes Wort,

Warum auch sagen, was das Herz empfindet,

Tönt doch in dir die ganze Seele fort.


Der Freundschaft Worte haben oft gelogen,

Es täuscht die Liebe durch Beredsamkeit,

Musik allein hat nie ein Herz betrogen

Und viele tausend Herzen hocherfreut.

Helene von Orleans.


Eine sehr beliebte Unterhaltung in Gesellschaften ist die Musik, und das mit vollem Recht, denn durch sie werden die Gedanken und Gefühle angeregt und von einem trivialen Gesprächsthema abgelenkt auf ein höheres, geistigeres Gebiet. Die Macht der Melodieen erhebt und bewegt die Herzen, sie werden sich dadurch wärmer und herzlicher zu einander finden.

Es ist die Pflicht eines jeden, der etwas Musik treibt, in der Geselligkeit dies nicht zu verleugnen und sein bescheidenes Teil dazu beizutragen, daß andere sich dadurch erfreuen.

Die junge Dame warte natürlich in angemessener Zurückhaltung, bis sie zum Musizieren aufgefordert wird. Sie braucht keine Virtuosin auf dem Flügel oder im Gesange zu sein, diese findet man ja selten, aber sie muß vorher wissen, daß sie ein Klavierstück möglichst geläufig und fehlerfrei, ein Lied mit reiner Stimme singen kann. Hat sie diese Zuversicht von sich nicht, ist es besser, sie nimmt[82] die Aufforderung, etwas vorzutragen, nicht an, als daß sie durch eine stümperhafte Leistung die Ohren ihrer Zuhörer beleidigt.

Sie richte sich in der Wahl der vorzutragenden Klavierpiecen oder Gesänge nach dem Geschmack der um sie versammelten Zuhörer. Eine lange, sehr ernste klassische Musik in heiterer Gesellschaft vorgetragen, das wird nicht angebracht sein, die Zuhörer werden derselben nur aus Höflichkeit folgen, während kurze, ansprechende Musikstücke und Lieder die erheiternde Wirkung in der Gesellschaft selten verfehlen. Jede junge Dame, welche es auf dem Fortepiano zu einiger Fertigkeit gebracht hat, sollte sich also zu Hause einige dieser für die Geselligkeit passenden Vorträge einüben; dasselbe gilt vom Gesange.

Eine grandiose Opernarie, welche viele vielleicht von den ersten Sängerinnen bereits gehört haben, von einer Dilettantin mittelmäßig gesungen mit anhören zu müssen, ist stets peinlich, während anspruchslose, kleinere Lieder fast immer gefallen.

Es macht keinen guten Eindruck, wenn eine musikalische junge Dame sich erst sehr lange nötigen läßt, ehe sie etwas vorträgt. Bei der einen ist es Blödigkeit, doch muß sie dieselbe zu überwinden suchen, bei einer anderen vielleicht sogar Eitelkeit, sie will sich eben erst lange bitten lassen. Damit man ersteres von ihr nicht mutmaßt, letzteres nicht glaubt, folge sie also einer Aufforderung mit bescheidener Miene und mit dem Bestreben, soviel es in ihren Kräften steht, zur allgemeinen Unterhaltung beizutragen, denn dadurch allein entsteht die Behaglichkeit in der Gesellschaft.

Die Pflicht, welche sie als Zuhörerin hat, sobald andere etwas vortragen, besteht darin, ihnen vollste Aufmerksamkeit zu schenken; kein leises Sprechen während des Vortrages ist erlaubt, kein Hin- und Hergehen oder Klappern mit Tasse und Teller.

Ist sie selbst die Vortragende und es entsteht ein unvorhergesehenes Geräusch, etwa durch den Eintritt neuer Gäste, so ist es ratsam, daß sie ihr Musikstück, ihren Gesang ruhig fortsetzt, ohne sich plötzlich darin zu unterbrechen, nur, wenn Personen, welche ganz besonders geehrt werden müssen, erscheinen, höre sie sofort auf, besonders wenn sie vielleicht[83] in der Gesellschaft die Tochter des Hauses ist und ihnen entgegentreten muß.

Erscheint sie verspätet in einer Gesellschaft und hört schon im Vorzimmer, das gerade musiziert wird, ist es wohlanständig, draußen zu warten, bis der Vortrag beendet ist. Sie stellt sich bei solcher Unpünktlichkeit der Wirtin mit einigen entschuldigenden Worten vor, z.B.:

»Entschuldigen Sie gütigst mein spätes Kommen, es war mir leider unmöglich, früher zu erscheinen, verzeihen Sie, verehrte Frau, die Störung, die ich verursache.«

»Es thut mir unendlich leid, gnädige Frau, daß mich eine ganz besondere Veranlassung hinderte, pünktlich mich einzustellen.«

Für Beifallsbezeigungen, wenn die junge Dame ihren musikalischen Vortrag beendet hat, danke sie durch eine leichte Verneigung und bleibe nicht am Flügel sitzen, als erwarte sie eine neue Aufforderung, sondern gehe wieder zu ihrem Platz zurück.

Dieselbe Bescheidenheit soll ein junges Mädchen in dem Vorzeigen einer selbstgefertigten Malerei oder Handarbeit darthun.

Nur, wenn sie von den Gästen des Hauses aufgefordert wird, hole sie ihre Erzeugnisse auf diesen Gebieten herbei, damit ja niemand von ihr denke, daß sie sich damit hervorthun will.[84]

Quelle:
Ernst, Clara: Der Jungfrau feines und taktvolles Benehmen im häuslichen, gesellschaftlichen und öffentlichen Leben. Mülheim 3[o.J.]., S. 82-85.
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