16) Der Lügner.

[84] Die Moralisten hegen Abscheu vor jeder Art von Lüge, in der Welt aber, d.h., im gesellschaftlichen Verkehr, ist man nachsichtiger.[84]

Die verderbliche Lüge, d.h., die, welche irgend Jemand Schaden zufügen kann, ist Verleumdung, und folglich eine strafbare und schändliche Handlung.

Die Nothlüge, d.h., die, welche, ohne Jemandem zu schaden, einem Dritten nützen kann, findet im Verkehr der Welt leicht Entschuldigung.

Die Lüge, welche einem Unschuldigen das Leben retten kann, – eine Sache, die sich in den Zeiten bürgerlicher Unruhen schon oft ereignet hat, – kann zuweilen zu einer erhabenen Tugend werden, besonders wenn sie mit Ergebenheit und Selbstverleugnung gepaart ist.

Die Nothlüge, die man auf seine eigene Rechnung macht, ist entweder eine Lächerlichkeit, eine Schlechtigkeit oder eine Feigheit.

Sie ist eine Lächerlichkeit, wenn sie nur aus Eitelkeit gemacht wird, um sich mit einem Verdienst zu schmücken, das man nicht besitzt.

Sie ist eine Schlechtigkeit, wenn man sie aus materiellem Interesse macht, und eine Feigheit, wenn man sich dadurch einer Gefahr entziehen will.

Die lustige Lüge, die Niemandem schadet und die nur gemacht wird, um die Zuhörer zu amüsiren, und selbst ohne Anspruch darauf, Glauben zu finden, ist nur ein heiterer Scherz, der keine Folgen nach sich zieht.

Um sich aber die lustige Lüge zu gestatten, muß man viel Verstand haben und nur neue pikante und originelle Dinge sagen, besonders aber überraschende. Das ist indeß keineswegs leicht.

Jede sogenannte oder vorgeblich lustige Lüge, welche die angegebenen Eigenschaften nicht besitzt, wird zur langweiligen Lüge.

Das Beste wäre, überhaupt niemals zu lügen; denn wenn man die Gewohnheit des Lügens annimmt, wird es unmöglich, oder doch wenigstens sehr schwer, diesen Fehler wieder abzulegen, und nicht immer weiß der Lügner aus Gewohnheit in der Art der Lüge Maß und Ziel zu halten.[85]

Kinder, welche mit zu großer Strenge, besonders aber mit ungerechter Behandlung, erzogen werden, so daß sie beständig vor ihren Eltern oder Erziehern in Furcht schweben, werden in der Regel lügen. Sie gewöhnen sich die Lüge an, um die Strafe dadurch von sich abzuwenden, oder dieselbe doch wenigstens zu verzögern und kaum kann man sie deßhalb tadeln.

Kinder, welche mit Sanftmuth und Liebe erzogen werden, und die deßhalb ihre Eltern und Erzieher als Freunde, nicht aber als harte oder strenge Gebieter und Zuchtmeister betrachten, werden selten zu Lügnern, besonders wenn man sie von ihren Fehlern durch Vernunftgründe und liebevolle Vorstellungen zu heilen trachtet.

Ein Mensch, der als Lügner bekannt ist, könnte in seinem eigenen Interesse die augenscheinlichste Wahrheit sagen und würde dennoch schwerlich Glauben finden; denn schon das Sprüchwort heißt:


Wer ein Mal lügt, dem glaubt man nicht

Und wenn er auch die Wahrheit spricht.


Es scheint, daß in dem Munde eines Lügners selbst die Wahrheiten sich für die Hörer in Lügen verwandeln.

Es giebt Menschen, welche es zu einer solchen Gewohnheit der Lüge gebracht haben, daß sie Dinge, die sie zum Spaß als Lüge ersonnen, durch häufige Wiederholung zuletzt selbst für Wahrheit halten.

Quelle:
Fresne, Baronesse de: Maximen der wahren Eleganz und Noblesse in Haus, Gesellschaft und Welt. Weimar 1859, S. 84-86.
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