Vorrede [zu Band 3]

Dieser dritte Band von Friedländers Kriminalprozessen scheint mir allgemeiner Beachtung nicht minder würdig als seine Vorgänger, die von berufenen Urteilern mit so lebhaftem Beifall begrüßt worden sind. In der Tat verdient das Bestreben des Herrn Verfassers, die merkwürdigsten unter den berühmten Kriminalprozessen unserer Zeit, des Zeitalters der kriminalistischen causes célèbres, dem Grabe zu entreißen, das ihnen in den Spalten der heut gelesenen und morgen vergessenen Tageszeitungen beschieden ist, volle und dankbare Anerkennung. Nur wer selbst einmal auf diesem Gebiet die zeittötenden und nervenmarternden Forschermühsale des ewigen Suchens und Nichtfindenkönnens durchgekostet, wer sich zum Beispiel wie ich jahrelang vergeblich bemüht hat, sich das Material für die wissenschaftliche Würdigung des berühmten Münchener Falles der Stiftsdame von Heusler zu beschaffen, vermag Friedländers Verdienst um die Erleichterung kriminalistischer Forschung nach Gebühr zu würdigen. Ich wüßte beispielshalber nicht, wo ich mich in unserer Literatur anderswo nach einer umfassenden Darstellung des Falles der Gräfin Tarnowska umschauen sollte, dieser sozialen Tragödie, die uns in den Schicksalen ihrer drei gleich unerfreulichen freulichen Helden: der hysterischen gräflichen Dirne und der beiden männlichen Sklaven ihrer Wollust und ihrer Habgier, mit so erschütternder Klarheit zeigt, welchem Ende eine[5] Gesellschaft zusteuert, die als Gesetz ihres Handelns einzig die Laune und das Gelüst des Augenblicks gelten läßt.

Sehen wir schon im Falle Tarnowska jene unheimliche Macht am Werke, die wir Suggestion nennen, jene Macht, die den Willen des Menschen zum unfreien Werkzeug eines fremden Willens herabwürdigt, und in deren Erkenntnis wir heut einen Schlüssel zur Deutung so mancher rätselvollen Erscheinung des menschlichen Seelenlebens zu besitzen glauben, so tritt uns der unheilvolle Einfluß solcher seelischen Ansteckung als ein Phänomen der Massenpsychologie in den berüchtigten Judenhetzprozessen aus dem letzten Viertel des verflossenen Jahrhunderts vollends greifbar vor Augen. In der anschaulichen Darstellung dieser Vorgänge erblicke ich das Hauptverdienst des vorliegenden Bandes.

Daß noch immer dicht unter der dünnen Decke unserer gerühmten Kultur die uralten Menschenfeinde, die Dämonen des Aberglaubens, des Rassenhasses, des Neides und der Habgier nur auf die Gelegenheit lauern, ihre schwachen Fesseln zu sprengen und die Menschen in wahnwitziger Betörung aufeinander zu hetzen – wo könnten wir des mit erschreckenderer Deutlichkeit innewerden, als in der beschämenden Erinnerung an jene von uns selbst miterlebte Volksseuche, die in dem Kulturleben unserer Zeit einen der dunkelsten Flecke bedeutet?

Unser Herz krampft sich zusammen, wenn wir der aberwitzigen Ausgeburten der Antivernunft und Antimoral gedenken müssen, die noch vor wenigen Jahrzehnten in den Hirnen und Herzen von Leuten spuken konnten, die sich gebildet, die sich gar mit Stolz Christen nannten.

Welche Gefahren insonderheit der Rechtspflege von solcher gewissenlosen Aufpeitschung des Volksempfindens noch heutigen Tages drohen, lehrt uns Friedländers geschichtlich[6] treue Darstellung der Konitzer Vorgänge, die um so tiefer wirkt, als sie sich von jeder sensationellen Parteitendenz freihält.

Wir werden diesen Teil des Friedländerschen Buchs als einen wertvollen Beitrag zu der leider noch immer erst zu schreibenden Geschichte der antisemitischen Bewegung unserer Tage schätzen dürfen, und wir Juristen insbesondere als einen ungewöhnlich lehrreichen zu der wichtigen Lehre von der Psychologie der Zeugenaussage. Der Zeuge, der in borniertem Fanatismus der vermeintlich guten Sache zu dienen glaubt, wenn er mit dreister Stirn seinen Meineid schwört, und der noch weit gefährlichere Zeuge, der sich in unbewußter Verblendung Dinge einredet, die er nicht gesehen und nicht gehört haben kann, sie alle und andere wohlbekannte mehr: der Zeuge mit dem von Vernehmung zu Vernehmung wachsenden Erinnerungsvermögen, der auf die Indizienjagd versessene Zeuge – all diese gefährlichen Wahrheitsfeinde treten uns in diesen Prozessen in mustergültiger Ausprägung vor die Augen, zu eindringlicher Warnung vor jener selbstgefälligen Selbsttäuschung, daß die Greuel mittelalterlicher Hexen- und Judenverfolgungen für uns, die wir es ja so herrlich weit gebracht, nur noch eine verklungene Schauermär aus längst vergungenen Tagen seien. –

Neben den Betörten die Betörer.

Wenn wir jenen, der unwissenden, verblendeten Menge, unser Mitleid nicht ganz versagen dürfen – welche Empfindung ist diesen, den berufsmäßigen Hetzern gegenüber am Platz, wie wir sie in Konitz bald in dieser, bald in jener Gestalt behaglich und gewissenlos in den trüben Fluten der von ihnen selbst entfesselten Volksleidenschaft fischen sehen?

[7] Doch – so könnte man mit dem Dichter fragen:

Wozu begrabnes Leid lebendig singen

Und gegen Tote Haß dem Herzen bringen?

Aber es ist gut und nützlich, von Zeit zu Zeit die Erinnerung an erlebte Schmach wieder aufzufrischen.

Vielleicht beugt man dadurch ihrer allzufrühen Erneuerung vor.

Vielleicht. –

Dürfen wir gar sagen: hoffentlich?

Berlin. 13. Mai 1911, Dr. Sello.[8]


Quelle:
Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung. 1911-1921, Band 1.
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