Neuntes Kapitel.
[114] Aus Goethes häuslichem Leben. – Die ästhetische Fleischersfrau. – Goethe auf der Probe.

Eine neue Ara begann für mich. Da ich nun zu dem Rang eines wirklichen Hofschauspielers aufgerückt war, so wurde mir öfters die Ehre zu teil, in die Abendzirkel der Frau Geheimrätin von Goethe eingeladen zu werden, bei denen sich die Unterhaltung zunächst um Tagesneuigkeiten drehte, dann Whist, Boston und Ragusa gespielt wurde und zuletzt ein gutes Abendessen folgte.

Die Gesellschaft bestand außer ihrer Pflegetochter, der Ullrich, späteren Geheimen Hofrätin Riemer, meist aus jungen Mitgliedern des Theaters. Selten erschien Goethe und dann nur auf Augenblicke. Er sprach mit diesem oder jenem, sah auch wohl dem Spiele, das auf seinen Befehl nicht unterbrochen werden durfte, eine Weile zu und entfernte sich wieder.

Einmal trat er herein und zeigte seiner Frau ein kleines Etui mit den Worten: »Sieh, liebes Kind, was mir meine liebe Freundin, die Geheimrätin Willemer, für eine allerliebste Neuigkeit zum Andenken übersandt hat!« Es war eine goldene Schnalle, woran seine Orden im kleinsten Format mit venetianischen Kettchen befestigt waren. Madame Lortzing, die neben der Geheimrätin saß und ein großer Liebling Goethes war, fragte ganz unbefangen, welcher ihm der[114] liebste von all den Orden sei. Keinem andern hätte ich solche Dreistigkeit raten mögen, denn er liebte es gar nicht, um seine Gedanken befragt zu werden und noch dazu in solchem diffizilen Fall, aber bei ihr machte er eine Ausnahme und erwiderte: »Kleine Neugier! Doch den Kindern muß man zuweilen den Willen tun« – und wies auf den Orden der Ehrenlegion.

Sein Sohn, der Kammerrat August von Goethe, und sein Sekretär John erschienen mitunter nach geendetem Spiel beim Essen; dann kam allerdings ein anderes Leben in die Gesellschaft, denn der junge Goethe war ein höchst geistreicher Mensch, voll Witz und Humor. Von Vater und Mutter hatte er die körperliche Schönheit geerbt, und jedes Auge weilte mit Wohlgefallen auf seiner männlichen Gestalt und seinen edlen Zügen. Sein Begleiter hingegen war klein und sehr schmächtig, das Gesicht langgezogen und mit einer sehr großen Nase ausgestattet; seine hohe Stirn trug das Gepräge des Scharfsinns. Um die feingeschnittenen Lippen spielte gewöhnlich ein sarkastisches Lächeln, hinter welchem sich entweder eine boshafte Bemerkung oder Gott Bacchus verbarg, dem er mit ganzer Seele ergeben war. Seine Verehrung für diesen heidnischen Gott veranlaßte einmal eine höchst drollige Szene.

Zuweilen lud Goethe auch einige seiner Eleven zum Mittagessen ein. Mir war eines Tages ebenfalls dies Glück zuteil geworden. Goethe verlangte von seinen Untergebenen und namentlich von seinen Hausgenossen die größte Pünktlichkeit; vor ein Uhr mußte alles versammelt sein. Gerade an dem Tage, wo ich die Ehre hatte, bei dem Meister zu speisen, traf es sich, daß John ausblieb. Wir setzten uns ohne ihn zu Tische, und Goethe schien sehr ungehalten zu sein. Da öffnete sich endlich die Tür, der Verbrecher trat mit ungeheurer Grandezza herein und machte die zeremoniöseste Verbeugung. Goethe wollte ihm wahrscheinlich eine Bemerkung[115] zu hören geben, aber das Wort erstarb ihm beim Anblick des Missetäters auf der Lippe. Die Riesennase desselben war mit Puder bedeckt, unter dem ein purpurner Schimmer hervorleuchtete. Dem Anschein nach war dieser hervorstehende Teil seines Gesichts mit einem Prellstein in zu nahe Berührung gekommen, und der Puder sollte die Folgen verdecken. Goethe war selten aus seiner gemessenen Haltung zu bringen, aber hier war es denn doch damit zu Ende; er erhob sich und begab sich lachend in das andere Zimmer. Seine Entfernung war das Signal zu einem allgemeinen Gelächter, bei welchem sich John ganz verwundert umblickte und die Frage stellte: »Wodurch hat mein Eintritt solche allgemeine Heiterkeit erregt?« – »John,« rief der junge Goethe, »was für ein Zufall hat Ihre Nase mit einem Mehlsack in Berührung gebracht?« Damit war für den Armen das Rätsel des Gelächters gelöst, und augenblicklich entfernte er sich. Der Meister trat wieder ein und begab sich ohne jegliche Bemerkung auf seinen Platz, nur seine Gemahlin sagte: »Lieber Geheimrat, John läßt sich entschuldigen, er ist nicht ganz wohl.« – »Nun, dann serviere man ihm auf seinem Zimmer,« erwiderte Goethe, und damit war die Sache abgetan.

Frau von Goethe war sehr lebenslustig, und dabei voll Güte und Liebenswürdigkeit; wo sie jemand eine Freude machen oder Hilfe leisten konnte, geschah es mit Wohlwollen und Uneigennützigkeit. Sie liebte es, junge Leute um sich zu haben, und nahm öfters teil an deren mutwilligen, heiteren Spielen. In »Die Lustigen von Weimar« beschreibt Goethe die Einteilung ihrer Tage, nur daß die Fahrten nach Jena höchstens alle vier Wochen stattfanden. Donnerstags fuhr sie mit der Ullrich und noch einigen jungen Damen nach Belvedere, wohin sich auch ihr gewöhnlicher Zirkel von jungen Mädchen und Männern begab. Da wurde zunächst[116] Kaffee getrunken, dann in den Park gegangen, dort wurden Gesellschaftsspiele vorgenommen und die Schaukeln benutzt. Dienstag war das schon erwähnte Spielkränzchen, Montag und Mittwoch ihre Theaterabende. Bei aller Vergnügungslust war sie eine der trefflichsten Hausfrauen und die aufmerksamste Gattin, die es geben konnte.

Wie sein erhabener Fürst und Freund, so war auch Goethe ein Mann nach der Uhr und machte die Glocke zu seiner Herrin. Früh um sechs Uhr im Winter, im Sommer um vier Uhr verließ er sein Bett, dessen Gestell nicht aus Mahagoniholz verfertigt und mit Goldleisten verbrämt, noch mit seidenen Decken und Kissen ausgefüllt war, sondern aus braungebeiztem weichem Holz, einer Matratze und gewöhnlicher Decke und Kissen bestand. Außerdem befand sich in dem nur geweißten, einsensterigen Kämmerchen noch ein alter Großvaterstuhl und ein dreibeiniges Ecktischchen, worauf ein Waschbecken von Steingut stand, ein großer Schwamm und die nötigen Reinigungsutensilien lagen; daneben hing an einem Nagel das Handtuch. Bis um die Mittagsstunde arbeitete er, dann fuhr er eine Stunde spazieren, wobei gewöhnlich Riemer sein Begleiter war. Punkt ein Uhr wurde zu Mittag gespeist. Um drei Uhr zog er sich von der Tafel zurück oder dehnte auch, wenn um vier Uhr eine Theaterprobe abzuhalten war, die Unterhaltung bis dahin aus. Die Abende, an denen kein Theater war, verbrachte er zumeist mit gelehrten Freunden.

Er liebte auch musikalische Unterhaltung, die in früherer Zeit, unter Eberweins Leitung, viel ausgedehnter stattfand. Seit diese größeren musikalischen Aufführungen in seinem Hause aufgehört hatten, begnügte er sich mit Liedern. Meist wurde dann der Kammersänger Moltke, der eine Menge Gedichte von ihm komponiert hatte, herbeigerufen. Auch ich hatte einst die Freude, zu diesem Zweck zu ihm beordert[117] zu werden; wahrscheinlich wollte er sich überzeugen, ob ich Fortschritte im Vortrag, der bei ihm die Hauptsache war, gemacht habe. Ich sang zuerst »Des Jägers Abendlied«, von Reichardt komponiert. Er saß dabei in einem Lehnstuhl und bedeckte sich mit der Hand die Augen. Gegen Ende des Liedes sprang er auf und rief: »Das Lied singst du ganz schlecht!« Dann ging er, vor sich hinsummend, eine Weile im Zimmer auf und ab und fuhr dann fort, indem er vor mich hintrat und mich mit seinen wunderschönen Augen anblitzte: »Der erste Vers sowie der dritte müssen markig, mit einer Art Wildheit vorgetragen werden; der zweite und vierte weicher, denn da tritt eine andere Empfindung ein; siehst du, so (indem er scharf markierte): da ramm, da ramm, da ramm, da ramm!« Dabei bezeichnete er zugleich, mit beiden Armen auf- und abfahrend, das Tempo und sang dies »da ramm« in einem tiefen Tone. Ich wußte nun, was er wollte, und auf sein Verlangen wiederholte ich das Lied. Er war zufrieden und sagte: »So ist es besser! Nach und nach wird es dir schon klar werden, wie man solche Strophenlieder vorzutragen hat.« Nachdem ich ihm nun nech »Zwischen Weizen und Korn« und »Da droben auf jenem Berge« vorgesungen, bat ich um die Vergünstigung, ihm »Willkommen und Abschied« wieder einmal vorsingen zu dürfen, wobei ich bemerkte, daß ich das Lied seit längerer Zeit fleißig studiert habe. Mit einem freundlichen Kopfnicken gewährte er mir meine Bitte. Ich trug das Lied, auf das ich im Hinblick auf Goethes früheren Tadel wirklich eifrigstes Studium verwendet hatte, mit wachsender Empfindung vor, und diesmal sang ich dem Meister mehr zu Dank.

Da ich vorhin die Morgenspazierfahrten Goethes erwähnte, so will ich hier eine Anekdote mitteilen, die große Heiterkeit im Goetheschen Hause wie in der Stadt verbreitete.[118]

Eine Felschersfrau aus Berlin, die nur nach Weimar gekommen war, um Goethe persönlich kennen zu lernen, hatte, nachdem sie stets mit ihrem Gesuch, bei Sr. Exzellenz gemeldet zu werden, von dem Bedienten abgewiesen worden war, von einem Spaßvogel die Ausfahrstunde Goethes erfahren, der ihr zugleich den Rat erteilte, sich leise die Haupttreppe hinauszuschleichen, wenn der Wagen vor der Tür halte; auf dem oberen Absatz würde sie links eine Doppelstatue erblicken, dahinter möge sie sich verstecken und warten, bis Goethe aus der Tür trete, auf deren Schwelle »Salve« stehe; er liebe dergleichen Huldigungen, und sie würde gewiß sehr freundlich aufgenommen werden. Die Fleischersfrau folgte pünktlich allen Anweisungen, und als Goethe kam, trat sie sogleich aus ihrem Versteck mit den Worten hervor: »Bin ick endlich so jlicklich, den jroßen Dichter vor mich zu sehen?« Goethe sah sie verwundert an und fragte: »Kennen Sie mich, Madame?« – »Jott, wer sollte Ihnen nich kennen? Festjemauert in der Erde steht die Form aus Lehm jebrannt!« Goethe lachte und erwiderte: »Es freut mich, daß Sie meine Werke so gut kennen! Adieu, Madame!« und damit ging er an ihr vorüber. überglücklich kam die Frau in den Gasthof »Zum Elefanten«, dessen Wirt ein höchst jovialer Mann war. Entzückt rief die Frau Fleischerin ihm entgegen: »Nun habe ick ihn jesehen und jesprochen! Jott, welch ein Mann!«

Der Wirt machte ihr aber die arge Verwechselung, deren sie sich schuldig gemacht hatte, klar. Die ästhetische Fleischersfrau sank fast in Ohnmacht, sich so blamiert zu haben, und verließ in höchster Eile das deutsche Athen.


Das Theater in Weimar war am 10. September mit der »Schuld« wieder eröffnet worden, und am 30. Januar 1815 kam als erste bedeutende Neuigkeit die »Zenobia« von Calderon zur Aufführung.[119]

Da ich in dem Stück beschäftigt war, so wurde mir Gelegenheit, zum erstenmal einer Goetheschen Leseprobe, die bei großen Werken stets in seinem Hause abgehalten wurde, beizuwohnen, und ich konnte mich persönlich von der Wahrheit dessen überzeugen, was ich bisher darüber gehört hatte.

Ein langer, grünbehangener Tisch stand in der Mitte von Goethes Empfangszimmer. Obenan nahm er seinen Platz; ihm gegenüber, am Ende der Tafel, der Regisseur. Zur Rechten von Goethe saß die Wolff, zur Linken Oels; die übrigen reihten sich der Ordnung gemäß an; der junge Nachwuchs bildete den Schluß. Ich hatte die Ehre, neben meinem Papa zu sitzen. Vier Exemplare lagen auf dem Tisch, wovon eines Goethe, ein zweites mein Vater und die beiden anderen die Wolff und Oels in Besitz nahmen. Mein Vater flüsterte mir zu: »Nimm dich zusammen!« Du lieber Gott! was brauchte ich mich denn da zusammenzunehmen, ich hatte ja nur ein paar Worte zu sagen, und diese wußte ich bereits auswendig.

Goethe las nun die Namen der handelnden Personen, dann gab er mit einem Schlüssel, womit er auf den Tisch klopfte, das Zeichen zum Beginn, und Oels fing an zu lesen; auf ein abermaliges Klopfen las Madame Wolff weiter, und Oels gab sein Buch an seinen Nachbar; ein gleiches tat dann die Wolff. So gingen die Bücher von Hand zu Hand. Nun war mir klar, was der Herr Papa mit dem »Nimm dich zusammen!« gemeint hatte; nun sah ich erst, welch kitzliche Sache es ist, Calderonsche Verse korrekt vom Blatt zu lesen und dabei einigen Ausdruck hineinzulegen. Zum Glück hatte ich das Stück auf meines Vaters Pult vorgefunden und bereits für mich gelesen; der Rhythmus und das Tempo wurden mir durch Oels und die Wolff trefflich angegeben, und so sah ich denn mit einiger Ruhe dem Zeitpunkt entgegen, wo das Klopfen des Schlüssels mich aufrufen würde.[120]

Solche Leseproben hatten das Gute, daß sie die Aufmerksamkeit aller Mitwirkenden verlangten und man auf diese Weise eine genaue Kenntnis des Ganzen erhielt, was auch Goethe dabei bezweckte. Von solchen Vorbereitungen ist heutigentags freilich nicht mehr die Rede, und die jetzige Generation der dramatischen Darsteller würde solche Zumutungen als Beleidigung betrachten.

Bei der zweiten Leseprobe wurden die Rollen kollationiert und bei der dritten im Charakter gelesen.

Es wurde den Schauspielern Zeit genug zum Memorieren ihrer Rollen gewährt; darum verlangte aber auch Goethe, daß jeder bei der ersten Theaterprobe seiner Aufgabe mächtig sei; er konnte sehr heftig werden, wenn einer sich eine Nachlässigkeit darin zuschulden kommen ließ.

Bei der ersten Theaterprobe zur »Zenobia« sollte Unzelmann, welcher den Soldaten spielte, das Unglück treffen, Goethes Zorn zu erregen. Er war einer der fleißigsten Schauspieler und ein Liebling Goethes, aber er gehörte auch zu denen, die sich durch ein Zorneswort des Meisters nicht einschüchtern ließen. Bei jener Probe nun trat Unzelmann mit der Rolle in der Hand auf die Szene und las sie ab. Sogleich ertönte mächtig Goethes Stimme aus seiner Loge, die sich im Hintergrund des Parterres befand: »Ich bin es nicht gewohnt, daß man seine Aufgabe abliest!« Unzelmann entschuldigte sich mit dem Bemerken, daß seine Frau seit mehreren Tagen krank darniederliege und er deshalb nicht zum Lernen hätte kommen können. »Ei was!« rief Goethe, »der Tag hat vierundzwanzig Stunden, die Nacht mit eingerechnet!« Unzelmann trat bis in das Proszenium vor und sagte: »Ew. Exzellenz haben vollkommen recht! Der Tag hat vierundzwanzig Stunden, die Nacht mit eingerechnet; aber ebensogut, wie der Staatsmann und der Dichter der Nachtruhe bedarf, ebensogut bedarf ihrer der arme Schauspieler, der[121] öfters Possen reißen muß, wenn ihm das Herz blutet. Ew. Exzellenz wissen, daß ich stets meiner Pflicht nachkomme; aber in solchem Falle bin ich wohl zu entschuldigen!« Diese kühne Rede erregte allgemeines Erstaunen, und jeder stand erwartungsvoll, was nun kommen würde. Nach einer Pause rief Goethe mit kräftiger Stimme: »Die Antwort paßt! Weiter!«

In dieser Probe sollte noch ein Unglücklicher an die Reihe kommen, und dieser Unglückliche war ich.

Ich spielte den Hauptmann der Zenobia, der den Aurelianus gefangen zu nehmen und nur wenige Worte zu sprechen hat. Mit großer Sicherheit trat ich aus der vierten Kulisse heraus und schritt mit Würde über die Bühne, um die Heldentat, die Gefangennahme des Aurelianus, zu vollbringen. Da ertönte es: »Schlecht! So nimmt man keinen Kaiser gefangen. Noch einmal!« Ich kam also noch einmal, dann zum dritten, vierten und fünften Mal, und immer blieb der Ausspruch derselbe, nur daß er bei jeder Wiederholung markiger wurde. Ganz zerknirscht wagte ich endlich die bescheidene Frage: »Exzellenz, wie soll ich's denn nur machen?« – »Anders!« war die belehrende Antwort. Ja, das war leicht gesagt, aber wie? Mein Herr Papa, der seinen Sitz rechts im Proszenium hatte, warf mir schon längst ingrimmige Blicke zu; ja, der hatte gut werfen, ich hätte mich lieber selbst hinauswerfen mögen, um der Qual und Schande zu entgehen. So trat ich denn den schauerlichen Gang zum sechsten Mal an, um dem Willen Goethes nachzukommen und es »anders« zu machen, aber es blieb beim alten. Da rief der Gewaltige: »Ich werde dir es vormachen.« Nach einer Weile betrat er in seinem langen blauen Radmantel, den Hut halb schräg auf seinem Jupiterhaupte, die Bühne. Er nahm mir das Schwert aus der Hand, stellte mich als Zuschauer in den Vordergrund der Bühne und kam nun mit einem martialischen[122] Gesicht und – ich kann's nicht anders bezeichnen – mit Hahnenschritten im raschesten Tempo auf den Aurelianus losgestürzt, das Schwert drohend über dessen Haupte schwingend. Das war allerdings ganz anders, als ich es gemacht hatte, aber ich wußte nun, wie er es wollte, und ahmte ihn treu nach. Da kniff er mich mit dem Zeige- und Mittelfinger, wie seine Art war, wenn er seine Zufriedenheit zu erkennen geben wollte, in die Backe, daß ich hätte laut aufschreien mögen, und ging dann wieder hinab in seine Loge. Mein Vater wandte sich mit einem sarkastisch-freundlichen Lächeln gegen mich und flüsterte mir über die Achsel zu: »Ich breche dir den Hals, wenn du es so machst!« Ich stand da, wie gewisse Tiere am Berge, der Papa aber fuhrt for: »Wenn wir nach Hause kommen, werde ich dir schon erklären, wie es Goethe meint.«

Bei der Hauptprobe dieses Stücks sollte Goethe nochmals in Harnisch gebracht werden. Sein Prinzip war, diese gleichsam als die erste Vorstellung zu betrachten; darum durfte kein Unberufener während der Handlung auf der Szene stehen oder auch nur den Kopf aus der Kulisse stecken. Letzteres Verbrechen ließ sich in dieser Probe ein ästhetischer Maschinist mit einem gewaltig dicken Schädel zuschulden kommen. Sogleich donnerte Goethe herauf: »Herr G'nast! schaffen Sie mir den ungehörigen Kopf aus der ersten Kulisse rechts, der mit unanständiger Neugier sich in den Rahmen meines Bildes drängt.«

Ebenso war es ihm ein Greuel, wenn die Schauspieler ihre Stichworte nicht abwarteten und dem Mitspieler vor der Zeit in die Rede fielen; da rief er mit seiner Stentorstimme: »Man lasse den andern ausreden! Gute Sitte verlangt dies in anständiger Gesellschaft, um wieviel mehr auf der Bühne. In Herbergen und bei Trinkgelagen kann solche Unsitte stattfinden, auf der Bühne aber darf sie nie vorkommen«[123]

Die Darstellung der »Zenobia« ging rund und gut zusammen, errang sich aber nicht den Beifall, der dem »Standhaften Prinzen« und dem »Leben ein Traum« zuteil geworden war. Goethe spricht sich in seinen »Jahres- und Tagesheften« folgendermaßen darüber aus: »Die drei ersten Akte gerieten vortrefflich, die zwei letzten, auf nationales, konventionelles und temporäres Interesse gegründet, wußte niemand zu genießen, noch zu beurteilen, und nach diesem letzteren Versuche verklang gewissermaßen der Beifall, der den ersten Stücken so reichlich geworden war.«

In denselben Annalen sagt er dann weiter: »Das Weimarsche Theater war auf seinen höchsten, ihm erreichbaren Punkt zu dieser Epoche gelangt, der man eine erwünschte Dauer auch für die nächste und folgende Zeit versprechen durfte.« Dem war aber leider nicht so, denn zwei Hauptstützen des Dramas, beide Wolff, verließen die Weimarsche Bühne schon im folgenden Jahre, und Goethe selbst zog sich 1817 von der Leitung des Theaters zurück.

Quelle:
Genast, Eduard: Aus Weimars klassischer und nachklassischer Zeit. Erinnerungen eines alten Schauspielers. Stuttgart 1919, S. 114-124.
Lizenz:
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