Zehntes Kapitel.
[124] »Proserpina«. – Totenfeier für Schiller und Iffland. – Mein Übergang ins Charakterfach. – Abgang des Wolff'schen Ehepaares. – »Epimenides' Erwachen«.

Der »Zenobia« folgte schon am 4. Februar 1815 »Proserpina«. Karl Eberwein hatte zu diesem Monodrama eine höchst sinnige Musik geschrieben, Goethe das Ganze angeordnet und mit großem Eifer in Szene gesetzt.

Die Wolff, die länger als ein Jahr unter seiner unmittelbaren Leitung sich dem Studium dieser Rolle mit unermüdlichem Fleiß hingegeben, war ganz vortrefflich als Proserpina und ließ in Plastik und Rhetorik nichts zu wünschen übrig; das einzige, was diese vollendete Leistung etwas[124] abschwächte, war das dumpfe, ziemlich klanglose Organ der Darstellerin. Dennoch war die Wirkung eine gewaltige zu nennen. Das Schlußtableau wurde mit großem Beifall aufgenommen, weil ein ähnliches Bild auf der Weimarschen Bühne noch nicht gesehen worden war.

Goethe hat sein Arrangement des Orcus selbst folgendermaßen geschildert:


»Das Schattenreich war also gedacht und geordnet: In der Mitte eine schwachbeleuchtete Höhle, die drei Parzen umschließend, ihrer Beschäftigung gemäß von verschiedenem Alter und Kleidung, die jüngste spinnend, die mittlere den Faden ausziehend und die älteste mit der Schere bewaffnet; die erste emsig, die zweite froh, die dritte nachdenkend. Diese Höhle dient zum Fußgestell des Doppelthrons, auf welchem Pluto seinen Platz ausfüllt, die Stelle jedoch zu seiner Rechten leer gesehen wird. Ihm linker Hand, auf der Nachtseite, erblickt man unten, zwischen Wasserstürzen und herabhängenden Fruchtzweigen, bis an den Gürtel in schäumenden Wellen, den alten Tantalus, über ihm Ixion, welcher das ihn aus einer Höhle fortreißende Rad aufhalten will, gleichfalls halbe Figur; oben auf dem Gipfel des Felsens Sisyphus, ganze Figur, den auf der Klippe schwebenden Steinblock hinüberwerfend.

»Auf der lichten Gegenseite waren die Seligen vorgestellt. Und wie nun Laster und Verbrechen am Individuum kleben und solches zugrunde richten, alles Gute und Tugendhafte dagegen uns in das Allgemeine zieht, so hatte man hier keine besonders benannten Gestalten angeführt, sondern nur das allgemeine Wonnevolle dargestellt. Wenn auf der Schattenseite die Verdammnis auch dadurch bezeichnet war, daß jener namhaften Heroen jeder allein litt, sprach sich hier die Seligkeit dagegen dadurch aus, daß allen ein geselliger Genuß bereitet war.

»Eine Mutter, von vielen Kindern umgeben, zierte den würdigen Grund, worauf der elysische Hügel emporstieg. Über ihn eilte den Berg hinan eine Gattin dem herabkommenden Gatten entgegen; ganz oben in einem Palmenlusthaine, hinter welchem die Sonne aufging, Freunde und Liebende im traulichen Wandeln. Sie wurden durch Kinder dargestellt, welche gar malerisch fernten. Den Farbenkreis hatte der Künstler über das Ganze verteilt, wie es der Licht- und Schattenseite zukam.«


Zum Andenken Schillers und Ifflands, der am 22. September 1814 gestorben war, wurden am 10. Mai die beiden[125] letzten Akte der »Hagestolzen« nebst einem Nachspiel von Goethe und Peucer gegeben. Bis auf die letzte Rede, die von Madame Lortzing als Margarethe vortrefflich gesprochen wurde, fand das Nachspiel nur geringen Beifall. Den Schluß des Abends bildete, mit verändertem Epilog, die »Glocke«.

Da schon seit längerer Zeit die Reisen nach Lauchstädt und Halle von einer Seite her mißfällig betrachtet worden, wußte man den Herzog zu dem Befehl zu bestimmen, inskünftige die Sommerreisen einzustellen und den Sommer über das Weimarsche Hoftheater nicht zu schließen; nur der Antrag der Erfurter Kaufmannschaft: die Hofschauspieler möchten in den Monaten Juli und August zwölf Gastvorstellungen geben, wovon jede mit 150 Talern garantiert werden sollte, wurde höchsten Orts genehmigt. Da die Kosten jeder Vorstellung kaum 50 Täler betrugen, so erwuchs der Theaterkasse dadurch ein Vorteil von 1200 Tälern.

Meine Beschäftigung beim Theater war, mein Alter in Erwägung gezogen, eine höchst günstige zu nennen. Nach Stromeyers Rückkehr von Paris nahm ich die Stelle eines zweiten Bassisten ein; im Schauspiel warf mich Goethe in allen Fächern herum; zumeist verwandte er mich als dritten Liebhaber. Nebenbei studierte ich für mich Don Carlos, Mortimer, Don Cesar usw., und Goethe erwies mir die große Gunst, daß ich ihm dann und wann Szenen aus diesen Rollen rezitieren durfte. Frohen Mutes ging ich dann zu ihm, kam aber immer in sehr gedrückter Stimmung zurück, weil er fast mit allem unzufrieden war. Mein Vater fand das aber ganz in der Ordnung, denn ich wäre ja zu solchen Aufgaben noch gar nicht reif; er begriff Goethes Geduld und Nachsicht nicht und meinte, ich hätte überhaupt gar kein Talent für Liebhaber. Solche Äußerungen waren allerdings sehr niederschlagend für mich. In späterer Zeit erkannte ich freilich, daß beide recht gehabt hatten.[126]

»König Lear« sollte gegeben werden, aber der Schauspieler, der gewöhnlich den Grafen Kent spielte, war krank geworden, und ich mußte für ihn eintreten. Voll Erstaunen empfing ich die Rolle von meinem Vater, der dabei sagte: »Goethe will einen Versuch mit dir machen; solch eine Aufgabe ist einem Burschen in deinem Alter noch nicht geworden.« Und nun kam wieder das beliebte: »Nimm dich zusammen!« Weder Goethe noch mein Vater nahmen sich beim Studium meiner an. Ei was! dachte ich, du willst den beiden Herren beweisen, daß du ebenfalls auf eigenen Füßen stehen kannst. Ich kam in die Probe, bei welcher der Meister gegenwärtig war, und hatte meine Rolle so gelernt, daß mir auch nicht ein Jota fehlte. Nach meiner Ansicht machte ich die Sache gut und erwartete ein »Nicht übel« oder »Gut« von des Meisters Lippen zu hören, aber weder ein: »Schlecht« noch »Gut« drang an mein Ohr. Ganz schlecht konnte meine Leistung nicht sein, das sagte mir die zufriedene Miene des Vaters. Ohne jegliche Bemerkung von Goethe über mein Spiel ging die Probe vorüber, worin nur, zur Belustigung aller, ein kleines Intermezzo vorkam.

Der Schauspieler nämlich, welcher den Haushofmeister darstellte und eben kein Licht war, trat bei den Schmähungen, welche Kent ihm zuschleudert, ganz entrüstet vor und sagte: »Aber Ew. Exzellenz! ich kann mir dech vor dem ganzen Publikum von einem so jungen Menschen nicht solche Dinge sagen lassen?« Eine Pause entstand, in der sich alle lächelnd ansahen, und die Goethe mit folgenden Worten unterbrach: »Dieser Einwurf hat allerdings, wenn man ihn vom menschlichen Standpunkt aus betrachtet, etwas für sich; wir wollen es überlegen. Einstweilen fahre man fort!« Der Arme hatte wegen dieser Dummheit lange Zeit zu leiden.

Den anderen Tag wurde ich zu Sr. Exzellenz beschieden. »Nun, siehst du, mein Sohn,« sagte er, »gestern hast du mir[127] bewiesen, daß du Talent für das Charakterfach hast. Einen guten Liebhaber wirst du in deinem Leben nicht abgeben, denn dein Organ entbehrt aller Weiche, die dazu gehört, aber Rollen wie Wallenstein und Götz möchten dir, wenn du in deinem Fleiß und Eifer nicht ermüdest, in späteren Jahren gar nicht übel anstehen.«

Er entließ mich sehr wohlwollend und ich eilte freudig gehoben davon.

Es wurden mir nun mehrere ältere Rollen zugeteilt, durch einen Zufall auch der Illo in »Wallensteins Tod«; Herr Wolff, der, seit er ein Engagement für sich und seine Gattin nach Berlin mit dem Grafen Brühl abgeschlossen hatte, ein ganz anderer geworden war und von seiner früheren Bescheidenheit und einschmeichelnden Liebenswürdigkeit keine Spur mehr zeigte, trat, wo er nur konnte, den Anordnungen der Direktion hindernd entgegen. Er hatte Goethe schon oft ersucht, ihm die Rolle des Illo abzunehmen, aber Goethe war, namentlich wenn es ein Schillersches Stück betraf, das er stets mit den besten Kräften besetzte, unerbittlich. An dem Tage, an dem »Wallenstein« gegeben werden sollte, ließ sich Herr Wolff krank melden. Ich wurde zu Goethe beschieden, dieser ging die Rolle mehrere Male mit mir durch, und abends spielte ich den Illo. Auch Madame Wolff griff zu solchen unkünstlerischen Mitteln, um sich unbequeme Rollen vom Halse zu schaffen. Natürlich lockerte sich dadurch das frühere freundschaftliche Verhältnis zwischen dem Wolff'schen Ehepaar und Goethe immer mehr.

Am 23. März 1816 beschlossen sie ihre Wirksamkeit bei dem Weimarschen, Theater und traten, ohne von dem Publikum besonders ausgezeichnet zu werden, beide in »Romeo und Julia« ab.


Bis zum Ende des Jahres 1815 kam nichts Neues von[128] Bedeutung aufs Repertoire. »Epimenides' Erwachen«, welche Dichtung Goethe für Berlin zur Jahresfeier der Völkerschlacht bei Leipzig geschrieben hatte, und die am 30. März 1815 dort gegeben worden war, konnte nicht, wie er gewünscht, am 18. Oktober desselben Jahres auf der Weimarschen Bühne zur Darstellung kommen und wurde erst am 30. Januar 1816 zur Aufführung gebracht.

Für die Ausstattung hinsichtlich der Dekoration, Maschinerie und Kostüme war das möglichste getan. Neue Uniformen hatte man für die Armeen der Preußen, Russen und Engländer machen lassen; zum Glück trug das Militär damals noch keine Waffenröcke, sonst hätte die Theaterkasse sich bankerott erklären müssen. Goethe überwachte das Ganze mit unermüdlichem Eifer und war bei den Proben äußerst sorgsam, besonders was die Gruppierungen betraf. Alle Augenblicke donnerte er ein »Hall!« den Darstellenden zu; dann hieß es: »Madame Eberwein – gut!« »Madame Unzelmann, mehr vor!« – »Herr Wolff, den Kopf mehr lauernd nach rechts gebogen, sonst gut!« – »Herr Oels – sehr gut!« – »Der darauffolgende – schlecht!« und nun begann die Auseinandersetzung. Es war eine Eigenheit Goethes, den Schauspieler, mit dem er unzufrieden war, niemals bei seinem Namen zu nennen; man konnte dies nun nehmen, wie man wollte, als Rücksicht oder Kränkung. Mein Vater behauptete, es sei das erstere.

Das Gelingen dieser Darstellung lag Goethe sehr am Herzen, darum fanden lange vorher Vorbereitungen statt. Im Sommer 1815 schrieb er von Wiesbaden an meinen Vater:


Für so manche gute Nachrichten bin ich Ihnen, werthester Genast, viel Dank schuldig, möge diesen Sommer alles recht erwünscht gehen! Meine Gedanken sind auf Herbst und Winter gerichtet. Da nun der Feldzug so glücklich vorwärts schreitet und das Beste zu erwarten ist, so wünsche ich, daß auch bei uns Epimenides erwache und uns Freude bringe.

[129] Wollen Sie wohl mit Herrn Geheimehofrath (Kirms) überlegen, wie man sich mit Herrn Kapellmeister Weber in Verhältniß setzt, um gegen billige Vergütung die Partitur zu erlangen. Besetzen können wir das Stück sehr gut; Herr Beuther wird uns an Decorationen nichts fehlen lassen und Ihre Sorgfalt würde über das Ganze hinaushelfen. Denken Sie doch darüber! Ich wünsche es zum achtzehnten October zu geben. Es scheint lange hin, will aber vorbereitet sein. Noch einige Zeit treffen mich Ihre Briefe hier. Da ich in die Nachbarschaften dringend und freundlich eingeladen bin, kehre ich doch immer hierher zurück.

In dem bewußten Geschäft kennen Sie meine Wünsche. Auf welche Weise Sie denselben zu Gunsten wirken, soll durchaus meinen Beifall haben.

Wenn Sie mir mit umgehender Post schreiben, wie die Sache steht, werden Sie mich sehr verbinden.

Empfehlen Sie mich aller Orten und sagen mir etwas von den letzten Vorstellungen von Weimar und Erfurt.

Das Wetter ist nun wieder warm und bademäßig, mein getreuer, hart angegriffener Karl auch wieder auf gutem Wege, und so fügt sich's ja wohl, bis wir vergnüglich zusammentreffen.

Wiesbaden, den 15. Juli 1815.

Goethe.


Der erste Akt dieses Gelegenheitsspiels bewegt sich im Antiken und Allegorischen, erst im zweiten Akt, wo der Jugendfürst erscheint, tritt die Handlung in die Gegenwart und verschwistert sich am Schluß wieder mit der früheren. Bei dem Siegerzug trat zuerst Blücher mit der preußischen Armee auf, dann Schwarzenberg an der Spitze der Österreicher, dann Wittgenstein mit den Russen, und endlich kam Wellington mit den Engländern. Jede dieser Armeen bestand, außer den Feldmarschällen und einigen Adjutanten, aus zehn Mann Statisten – da konnte das Publikum recht sehen, was dieser Kampf um die Freiheit des Vaterlandes für Menschenopfer gekostet hatte![130]

Aber Scherz beiseite, das Ganze war nach unseren Verhältnissen würdig in Szene gesetzt und machte sich gut. Goethes Ausspruch über Comparserie bewährte sich: »Die Wirklichkeit, die aus Hunderttausenden besteht, kann auf einem so engen Raume, wie die Bühne bietet, doch nicht verkörpert werden; ob man da 10 oder 100 Mann erscheinen läßt, bleibt sich gleich, man möge sich die anderen dazu denken.«

Es versteht sich von selbst, daß jeder dieser Feldherren vom Publikum mit ungeheurem Jubel begrüßt wurde.

Quelle:
Genast, Eduard: Aus Weimars klassischer und nachklassischer Zeit. Erinnerungen eines alten Schauspielers. Stuttgart 1919, S. 124-131.
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