Die sieben Grundsätze des guten Tons

Umgang ist soziale Pflicht

[17] Dieses maßgebende Wort Rudolfs v. Ihering in dem klassischen Werk »Der Zweck im Recht« verlangt von jedem auf irgend eine Weise tüchtigen Menschen eine Verpflichtung zu geselligem Leben und damit der Auswirkung des guten Tons. Man soll sich selbst, d.h. die eigene Persönlichkeit der Welt nicht vorenthalten, in intellektueller wie in moralischer Beziehung seine Kenntnisse wirken lassen, denn die Gesellschaft hat ein Anrecht darauf, daß man mit ihr nach den Gesetzen des guten Tons freundschaftlich verkehre.


Füge dich ein ohne Zwang

Jeder Mensch bedarf in Bezug auf den Umgang nicht minder der Erziehung und der geselligen Zucht wie in Bezug auf seine staatsbürgerlichen Pflichten. Es gibt kein angeborenes Schicklichkeitsgefühl sowenig wie ein angeborenes Sittlichkeitsgefühl und wenn es ein solches gäbe, so wäre damit die praktische Unterordnung des Individuums unter dasselbe noch in keiner Weise verbürgt.

Daraus ergibt sich, daß den Umgangsformen, d.h. dem guten Ton, keine bloß ästhetische, sondern eine hohe, praktisch soziale, also ethische Bedeutung zukommt.


Beachte die gebotenen Umgangsformen

[17] Alle Umgangsformen haben den Zweck, den Verkehr zu sichern, zu fördern, angenehm und behaglich zu gestalten. Sie drücken eine durch die Sitte beschaffte und gehandhabte Disziplin des gesellschaftlichen Benehmens aus, wie sie den Vorstellungen, ja sogar der Weltanschauung der eigenen Zeit entspricht. Sie geben ebenso wie die Mode den »Ton« an, den »Kammerton« der guten Gesellschaft, mit dem jeder, der keinen Mißklang, keine Verstimmung erregen will, sich in Einklang zu setzen hat. Die Sprache bezeichnet diesen Ton als guten Ton, das entsprechende Benehmen als gute Lebensart, die Kreise, in denen sie heimisch ist, als gute Gesellschaft. Damit ist ein Werturteil gefällt, dessen Maßstab ein relativer ist, entsprechend der Kulturstufe des Landes, der sozialen Schicht und des Jahrhunderts. Es ist daher ebenso wechselnd wie die Ausdrucksform der Sprache und die Tracht.


Sei korrekt, aber bleibe natürlich

Dazu gehört Sicherheit des Auftretens, gute Haltung, das Gefühl, am rechten Platz und richtig angezogen zu sein. Man wird linkisch, wenn man sich unsicher fühlt, oft auch praepotent, um die innere Verlegenheit zu bekämpfen, wird unnatürlich und macht dann schlechte[18] Figur. Die äußere Erscheinung und das äußere Benehmen ist der unmittelbare Ausdruck des Innerlichen. Je mehr wir uns zu solchem Bewußtsein erheben, desto stärker wird die Forderung, korrekt und natürlich zugleich sich zu benehmen. Auf solchem Wege erwächst die Notwendigkeit, sich um die äußere Erscheinung in jedem Augenblick des Lebens zu kümmern und nicht eitel zu nennen, was Pflege des Körpers und Hygiene der Seele ist.


Sei höflich, übe Anstand und Takt

Diese drei Eigenschaften – über welche in diesem Büchlein noch des öfteren zu sprechen sein wird – sind die Maßstäbe aller seinen Sitte. Das Kind muß zu Höflichkeit und Anstand erzogen, resp. angeleitet werden, der Takt aber stammt aus dem Herzen, das zarte Pflänzchen läßt sich pflegen, sein Keim muß von der Natur mitgegeben sein. Es gibt keine Taktregeln; der Takt geht über die Regel hinaus.


Achte die Sprache

Die Muttersprache ist ein heiliges Vermächtnis, sie ist Trägerin der Tradition und Ausdruck der Sitte. Ihr gebührt Erfurcht und Pflege. Ob man den heimischen Dialekt im Alltag redet oder Schriftsprache, ist[19] gleich. Was man spricht, soll durchdacht, sachlich und höflich sein unter Wahrung der Form. Die Kunst des Redens ist heute stark verfallen, sie ist etwas leer und tot geworden. Man redet wohl ebensoviel und ebensoleicht wie in der Blütezeit des 18. Jahrhunderts, aber es scheint, als spreche man schablonenmäßiger, gleichgültiger und nehme weniger Interesse an dem, was der andere sagt. Das liegt daran, daß unser Leben schwerer geworden ist und von allzuviel eigenen Interessen bedingt. Man kann die einfachsten Dinge liebenswürdig in gepflegter Sprache mitteilen und wird dann überall den Eindruck eines gebildeten Gesellschafters machen, dessen Rede die Gesetze der Sprache achtet, wie sein Benehmen die Gesetze des Verkehrs.


Lerne zu schweigen

Geschwätzige Menschen sind eine Qual im Umgang heute mehr denn je, wo ein jeder mit sich und seinen Sorgen vollauf beschäftigt, müßiges Gerede nicht mehr verträgt. Die wenigsten Menschen verstehen es überhaupt zuzuhören.. die wenigsten wissen, wann sie aufhören müssen zu reden und was unbedingt zu verschweigen ist. Schweigen heißt nicht maulfaul sein, schweigen heißt zu rechter Zeit stille sein, gut zuzuhören, wenn jemand spricht der etwas zu sagen hat und kühl höfliche Ablehnung zu zeigen, wenn ein Klatsch serviert wird, mag er noch so pikant sein.[20]

Wer sich die sieben Grundsätze so zu eigen macht, daß sie zu seinem Wesen gehören, wie sein Körper, sein technisches Vermögen zu sprechen und zu schreiben, dem wird es leicht, die Einzelheiten sich anzueignen, die heute zum guten Ton unserer sich neu und jung bildenden Gesellschaft gehören.[21]

Quelle:
Gleichen-Russwurm, Alexander von. Der gute Ton. Leipzig [o. J.], S. 17-22.
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