Familienmitglieder

[72] Wenn den Eltern erwachsene Kinder und Anverwandte im Hause zur Seite stehen, so gilt die Regel, daß sich die Mitglieder zueinander um so höflicher und formvollendeter benehmen, je größer der häusliche Kreis ist. In erweiterter Gestalt wird er die Formen des gesellschaftlichen Verkehrs erfordern, ebenso wenn fremde Personen als Untermieter, zahlende Gäste oder in sonstiger Eigenschaft Fremde aufgenommen sind und am häuslichen Leben teilnehmen.

Heranwachsende und erwachsene Söhne benehmen sich im Familienkreis so zuvorkommend und aufmerksam, wie sie es Fremden gegenüber tun würden. Die heutige Jugend ist selbständig und freier in ihren Ansichten wie im Verkehr, als es den älteren Generationen gestattet war. Das hat seine Vorteile und gibt den jungen Menschen, sobald sie den guten Ton achten, einen sympathischen Zug von Reise. Der Sport und der ungestörte Verkehr mit Altersgenossen beider Geschlechter bringt einen frischen Zug ins Leben, stellt aber an Selbstdisziplin und Verantwortung große Ansprüche an die Jugend. In seinem Vater wird auch der selbständigste Sohn den älteren Herrn sehen, dessen Meinung er respektiert, selbst wenn sie von der seinigen abweicht, und wird ihm jede Rücksicht und Höflichkeit erweisen,[72] zu denen sich Gelegenheit bietet. Daß ein Sohn seiner Mutter stets dankbare Liebe zeigt, versteht sich von selbst, aber sie bleibt für ihn außerdem die Dame, deren Wünschen er unbedingtes Entgegenkommen schuldet und die er mit der liebevollen Aufmerksamkeit des Kavaliers umgibt. Es wird ihm auch eine Freude sein, den Schwestern kleine Dienste zu erweisen. Zu seinen Pflichten gehört, sie zu beschützen, und im Verkehr mit ihnen waltet derselbe gute Ton wie im Umgang mit den andern Mädchen des Bekanntenkreises. Jüngere Geschwister sollen im »großen Bruder« einen treuen Freund und Berater lieben.

Die erwachsene Haustochter ist – falls sie nicht durch einen Beruf gezwungen ist, dem Hause fern zu sein – die natürliche Stütze ihrer Mutter. Es muß ihr eine liebe Pflicht sein, durch Heiterkeit und Hilfsbereitschaft Wärme und Sonne zu verbreiten. Hindert ein Beruf sie an häuslicher Tätigkeit, so sollte sie sich wenigstens abends und Sonntags der Familie widmen, der Mutter so viel wie möglich helfen und die kleinen Unannehmlichkeiten des Tages verschweigen.

Die tägliche Arbeit einer Hausfrau und Mutter ist ebenso schwer und ermüdend wie jeder andere Beruf; freundliche Berücksichtigung ihrer Ruhestunden gebührt ihr daher im gleichen Maße, wie die in geschäftlichen, gelehrten und künstlerischen Berufen tätigen Familienmitglieder sie mit Recht beanspruchen.

[73] Älteren Personen, Freundinnen, Kindern und Dienstboten gegenüber wird sich ein liebenswürdiges Haustöchterchen immer so zeigen, daß von allen Seiten die Liebe auf sie zurückstrahlt, die sie ihrer Umgebung entgegen bringt.

Ältere Verwandte, Großeltern, Onkel, Tante, Schwägerin, Schwager usw. – die im Hause leben, sind von allen Familienangehörigen mit Achtung und Liebe zu behandeln. Sie stehen überall vor den Kindern des Hauses, denen Unarten und ungehörige Neckereien zu verbieten sind. Diese Angehörigen haben zum Dank für den gastlichen Schutz des Hauses die Verpflichtung, sich der Hausordnung in jeder Weise einzufügen, so wenig wie möglich lästig zu fallen und nicht fortwährende Rücksichten zu beanspruchen.

Gebildete Hausangestellte sind in jeder Weise als gleichberechtigt in der Familie zu behandeln. An ihnen liegt es dann, sich durch bescheidenes, liebenswürdiges Wesen und treue Pflichterfüllung eine Stellung zu erringen, die sie im wahrsten Sinne zu Freunden des Hauses macht.[74]

Quelle:
Gleichen-Russwurm, Alexander von. Der gute Ton. Leipzig [o. J.], S. 72-75.
Lizenz:
Kategorien: