Krankheit

[101] Im Laufe einer Ehe und eines Familienlebens wechseln kranke und gesunde Tage. Krankheiten werden dann oft zum Prüfstein für Charakter und Lebensart, so daß einige Worte am Platze sind über richtiges Verhalten Kranken gegenüber. Inhaber kleiner Wohnungen ziehen im Krankheitsfall oft ein Krankenhaus vor, aber in leichteren Fällen wird wohl auch dort die häusliche Pflege vorgezogen.

Als Krankenzimmer wählt man ein möglichst helles, lustiges Gemach in möglichst ruhiger Lage. Das Bett wird mit der Kopfseite an die Wand gestellt, so daß man bequem an die drei anderen Seiten kommen kann; ein Wandschirm dämpft zu scharfes Licht ab.

Die Anordnungen des behandelnden Arztes sind Gebote, die aufs genaueste befolgt werden müssen; eigenmächtige Kurmethoden sind in keinem Fall erlaubt.

Das Bewußtsein, gefährlich oder gar unheilbar krank zu sein, darf in dem Kranken nicht aufkommen, weil es seinen Zustand verschlimmern würde. So groß auch die Sorge der Angehörigen um den lieben Leidenden sein möge – in das Krankenzimmer gehören nur ruhige, freundliche Gesichter, nur Menschen, die sich und ihre Gefühle beherrschen.[101]

Jeder Kranke hat den Wunsch und die Hoffnung, gesund zu werden, hofft auch dann, wenn er das Gegenteil sagt. Daher ist es ratsam, jede seiner besorgten Fragen mit heiterer Ruhe zu beantworten, durch das Aussprechen der Hoffnung auf baldige Genesung dem Kranken die Zuversicht zu geben, die sein bester Heilfaktor ist.

Besuche von Freunden und Verwandten sind im Krankenzimmer nur mit Erlaubnis des Arztes zu gestatten. Wer einen lieben Kranken besucht, sollte in allem, was er spricht, recht vorsichtig sein und nur kurze Zeit am Krankenbette verweilen.

Lange Berichte über ähnliche Krankheiten anderer Personen können nur aufregend und schädlich wirken. Am besten wird gar nicht von Krankheiten gesprochen; höchstens darf eine glückliche Heilung erwähnt werden.

Ganz besonders muß der Besucher sich hüten, über schlimme Veränderungen im Aussehen des Kranken sichtlich zu erschrecken und etwas darüber zu äußern.

Das Vertrauen des Kranken zu seinem Arzte sollte durch einige beifällige Worte noch mehr befestigt und auch dann, wenn der Besucher etwa gegenteiliger Meinung ist, nie durch eine unvorsichtige Äußerung erschüttert werden.

Daß in einem Krankenzimmer die Stimme etwas gedämpft und daß nicht laut gelacht wird, ist wohl selbstverständlich; aber auch Flüstern muß vermieden[102] werden, weil der Kranke sich bei dem Gedanken erregen könnte, man wolle ihm etwas verheimlichen.

Blumen, die Kranken geschickt werden, sind immer willkommene Freundschaftsboten, selbst dann, wenn der Arzt nicht erlaubt, daß sie dauernd im Krankenzimmer bleiben. Für Schwerkranke empfiehlt es sich, geruchlose Blüten zu wählen; weiße Blumen vermeide man möglichst oder stelle sie mit farbigen zusammen. Nahestehende können auch Früchte, Wein und leichte Erfrischungen oder Süßigkeiten senden; ebenso tut ein freundliches Briefchen oft Wunder an der Stimmung eines Kranken.

Bei ansteckenden Krankheiten verbietet sich jeder Besuch von selbst, und die Angehörigen eines solchen Kranken haben die Pflicht, diesen und sich selbst von jedem nicht durchaus notwendigen Verkehr entfernt zu halten.

Nach einer solchen Krankheit ist für eine gründliche Desinfektion aller gebrauchten Gegenstände, des Krankenzimmers und nötigenfalls des ganzen Hauses Sorge zu tragen. Gegenstände, Betten und Kleidungsstücke, die ein von ansteckender Krankheit Genesener oder ein daran Gestorbener gebraucht hat, ohne gründlichste Desinfektion zuverschenken oder zu verkaufen, wäre im höchsten Grade gewissenlos und kann entsetzliche Folgen nach sich ziehen.

Während der Genesungszeit eines Patienten ist die größte Vorsicht in jeder Hinsicht geboten, da Rückfälle[103] einer Krankheit oft gefährlicher sind als diese selbst war.

Ein rechtdenkender, rücksichtsvoller Kranker wird einsehen, daß seine Krankheit den Seinen viel Sorge und Mühe verursacht und er wird daher geduldig und dankbar sein, um seiner Umgebung das Leben nicht durch Launen und Klagen noch schwerer zu machen. Je ernster die Krankheit ist, um so größer wird die Pflicht des Patienten, sich so zu verhalten, daß im Fall der Genesung die Seinen sich wirklich freuen, ihn zu behalten, und daß im Fall des Todes sein Scheiden schmerzlich betrauert ist.[104]

Quelle:
Gleichen-Russwurm, Alexander von. Der gute Ton. Leipzig [o. J.], S. 101-105.
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