Besuch machen

[122] Übelnehmerei ist eine Hauptbeschäftigung der gesellschaftlich nicht besonders Gebildeten. Sie zeigt sich in hervorragendem Maß beim Abstatten und Empfangen von Visiten und Einladungen, verstößt aber in jeder Beziehung gegen den guten Ton.

Schicker Anzug für Herrn und eine elegante, der Saison entsprechende Toilette der Damen sind Grundbedingung, hübsche, nicht auffällige Visitenkarten gehören dazu. Diese Kärtchen – heute, der nationalen Mode folgend gern Besuchskarten genannt – erlebten ziemlich oft erheblichen Wechsel in bezug auf Form, Farbe und Ausstattung. Einst konnten sie kaum klein genug ausfallen, waren mit winziger Schrift bedruckt und zeigten ein schmales goldenes oder farbiges Rändchen. Dann wuchsen sie, trugen große Schrift und alle Titel, bis sie zur Einfachheit des sogenannten englischen Formats [länglich mit sanft abgerundeten Ecken] gelangten. Jetzt herrscht ziemlich Anarchie in Form und Ausstattung, der individuelle Geschmack waltet – doch gehört ausgesprochene Einfachheit zum guten Ton. Wappen und Kronen sind nicht mehr zeitgemäß, ein Conglommerat fragwürdiger Titel jedenfalls lächerlich – und zur Vorsicht mahnend. Ein viel gereister Diplomat behauptete einmal, daß man unwillkürlich Unbekannte nach ihrer[122] Visitenkarte taxiere; wird ein solcher Besuch gemeldet, so betrachte man zuerst die Karte und mache sich eine Vorstellung des Betreffenden. Ist die Karte von vornehmer Einfachheit, so empfange man den Eintretenden zweifellos zuvorkommender wie im entgegengesetzten Fall und dieser erste Eindruck bleibt oft maßgebend. Trotz Graphologie und der Liebhaberei, Handschriften zu sammeln, sind geschriebene Visitenkarten altmodisch und ohne Schick. In großen Städten gehört die genaue Adresse auf die Karte, was Gegenbesuche und Einladungen erleichtert. Auf Reisen soll das Hotel mit deutlicher Schrift angegeben sein.

Hat der Besuch einen besonderen Zweck, sei es zum Glückwunsch, zum Beileid, oder um Abschied zu nehmen, so bezeichnet man dies mit den konventionell anerkannten Abkürzungen: p. f. [pour feliciter]; p. p. c. [pour prendre congé], p. c. [pour condoler]. Man kann jetzt auch die deutschen Abkürzungen gebrauchen: u. G. z. w. [um Glück zu wünschen], u. A. z. n. [um Abschied zu nehmen], u. B. a. [um Beileid auszudrücken]. Persönlich abgegebene Karten werden an einer Ecke umgebogen.

Zu Besuchen, Frühstücken und Nachmittagstees gehört ein eleganter, moderner Straßenanzug für Damen [kein »trotteur«, der wird Vormittags zu Commissionen getragen]. Für Herren ist ebenfalls der Straßenanzug gestattet, da meistens Zeit und Gelegenheit zum umziehen fehlt. Man sucht heute den geselligen Verkehr,[123] um ihn überhaupt aufrecht zu erhalten, möglichst zu erleichtern.

Die Stunde der Besuche ist verschieden und richtet sich nach den Sitten der betreffenden Stadt. Doch ist im allgemeinen ein Besuch am Vormittag nicht mehr gebräuchlich und macht spießigen Eindruck. Herren legen unter allen Umständen Mantel, Schirm und evtl. Überschuhe im Vorzimmer ab; ob Hut und Stock mit in den Empfangsraum genommen werden, hängt von den Gebräuchen ab und wechselt oft mit der Mode. Es zeugt von Gewandtheit, wenn man bei einem Besuch, sowie überhaupt in Gesellschaft, ohne langes Komplimentieren, den Platz einnimmt, der angeboten wird.

So mannigfaltig ist die Skala der einzelnen Besuchsarten – von der Antrittsvisite bis zum gemütlichen Plauderstündchen – daß man unmöglich auf jede eingehen kann, immer werden sich neuartige Vorkommnisse ereignen, wo Nebenumstände den Fall komplizieren und so individuell wirken, daß keine Regel gilt. Takt, herzensgute und gesellschaftliche Bildung lassen allein schwierige Punkte glatt überwinden.

Einen unerwünschten Umgang so zu vermeiden, daß der Betreffende selbst kaum etwas merkt und nicht verletzt wird, ist ein seines Kunststück, das viel Erfahrung und Weltgewandtheit erfordert.

Formellen Besuchen folgt gern – wenn die Verhältnisse es irgend gestatten – eine Einladung, die den Verkehr[124] eröffnet. Zu allen Zeiten bestand echte Gastfreundschaft, wie es zu allen Zeiten ihre Karikatur gab.

Das ewige Symbol der falschen, egoistischen Gastfreundschaft ist Kirke, die griechische Zauberin, die ihre Gäste in Tiere verwandelte. Das ewige Symbol der echten, von Herzen kommenden, ist jener Greis, an dessen Hütte König Artaxerxes vorüberritt. Als der Alte erfuhr, welchen Weg der König nehmen wollte, lief er aus Verzweiflung, daß er seiner Armut wegen kein Gastgeschenk geben könne, zum Fluße Kyros, schöpfte Wasser und bot dem vorüber Reitenden den Trunk. Artaxerxes erkannte unter den Lumpen das Herz des Alten und sagte: »Du verstehst wahre Gastfreundschaft. Dies Wasser ist mir teuer, weil Du es aus dem Fluß geschöpft hast, der den Namen meines Vaters Kyros trägt.«

Nicht im Reichtum und in der Menge des Gebotenen, sondern in der Art, wie es angeboten wird, liegt das Geheimnis des Empfangenkönnens.

Einst war Gastfreundschaft eine Tugend, die unter die religiösen Verpflichtungen zälte. Als einziges Mittel freundschaftlichen Verkehrs von Stadt zu Stadt, von Volk zu Volk gehörte sie zu den wichtigsten Trägern der Kultur.

Veränderte Lebensbedingungen haben aus der alten Pflicht teils eine Last, teils ein Vergnügen gemacht, je nach dem Standpunkt, von dem aus man Besuche und Gesellschaften, Einladungen und Empfänge betrachtet.[125] Vom heiligen Gastrecht des Altertums ist nichts übrig geblieben, als eine gewisse Höflichkeit, welche die Gastgeber ihren Gästen schulden. Zwar gleicht die Menge freundlicher Redensarten, mit denen man sich begrüßt, recht abgegriffenen Münzen, aber die Gastfreundschaft wird doch noch von Vielen im Herzen hochgehalten, wenn auch der Begriff abgestumpft und abgeschliffen ist, wie manches, das einst als große, wichtige Kulturarbeit unersetzliche Dienste geleistet.

Wird Gastfreundschaft von Herzen gewährt und hingenommen, so verschönt und bereichert sie das Leben, wie keine andere Art des Verkehrs. Taktvolle, anregende Freunde lassen einen Frieden zurück, der dem Besuche noch lange harmonisch nachklingt. Unruhige, klatschbringende und anspruchsvolle Menschen wirken jedoch störend auf die friedliche Atmosphäre des Hauses und erwecken ein »Gott sei dank!«, wenn sie die Tür von außen geschlossen haben. Mit göttlicher Wärme hat einst die Gastfreundschaft das Eis gebrochen, mit der einseitiges Vorurteil das Herz gegen »Fremde« verschloß. Aber sie mußten sich würdig erweisen und richtig einstimmen in den Ton des Hauses, wie es noch heute goldene Regel sein soll für jeden Gast.

Gastfreundschaft war es zuerst, die jene Schrankem durchbrach, hinter denen sich ein Volk besser als das andere dünkte, und lehrte die Schätzung des Menschen, der – losgelöst von Stamm und Baum – nur als das wirkt, was er wirklich ist. Das Gastrecht führte die[126] sprödesten Völker zusammen, wie auch heute gesellschaftlicher Verkehr die beste Brücke bildet von Nation zu Nation, denn der gute Ton im Umgang bietet die sicherste Grundlage für schwierige Verhandlungen, mögen sie geschäftlicher oder diplomatischer Natur sein.

Die Zahl der Eingeladenen sollte immer klein bleiben, riet Abbé Barthélemy, ein Lebenskünstler des 18. Jahrhunderts und Kant sah die richtige Grenze zwischen der Zahl der Grazien und jener der Musen. In der Gegenwart findet diese Beschränkung weniger Anklang, denn, wie man rasch und ohne Liebe in seinem Auto Städte und Gegenden durchfliegt, so will man auch rasch, ohne Liebe und Gemüt möglichst viele Menschen »abgemacht« haben.

Dieses »Abmachen« ist ein Fehler des geselligen Lebens geworden. Wo noch lange Tafeln gedeckt werden und wo sich die Türen Abends oder Nachmittags weit öffnen, um eine ziemlich wahllose Menge Geladener einzulassen, verbindet sich meist ein bestimmter Zweck oder eine unangenehm empfundene Repräsentationspflicht mit dem Gebahren der Wirte. So ist es in Großstädten üblich, möglichst viele Menschen auf einmal einzuladen. Wenn der Platz zu Hause nicht reicht im Hotel; kann man es in den eigenen vier Wänden machen, mit geborgter Küche und Geschirr. Ein Witzbold meinte, man solle nicht mehr »Gastfreundschaft«, sondern »Gastfeindschaft« sagen in solchen Fällen.[127]

Wer hat nicht gesehen, mit welch unerfreulicher Heftigkeit das Büffett gestürmt wird, sobald sich die Türen des Speisesaals öffnen! Wer hat nicht mit achselzuckenden Bedauern über den Verfall seiner geselliger Sitten geklagt! Nun, es mag ein schwacher Trost sein, aber er ist ein Trost immerhin, daß zu allen Zeiten nur unter geistig und seelisch Auserwählten jene anmutige Geselligkeit gepflegt wurde, an der sich Kant in Königsberg ergötzte, von der die Enzyklopädisten in Paris erzählten, die Weimars Klassiker genossen. Verborgen in vielen kleinen Kreisen lebt sie auch heute noch. Wer bestrebt ist, den guten Ton mit Geist zu würzen und mit herzlicher Liebe zu pflegen, kann ihrer teilhaft werden, wenn er es nur ernstlich versucht. Die Kunst der Unterhaltung besteht nicht nur in der Fähigkeit gut zu sprechen. Oft erzielt richtiges Zuhören größere Erfolge als lebhaftes Reden. Wer so zu hören versteht, daß er den Sprecher überzeugt, sein Thema finde Interesse, und durch passend eingeworfene Fragen, Bemerkungen oder Antworten, dem Redenden neue Einfälle entlockt, wird als guter Gesellschafter gelten, selbst wenn er wenig spricht.[128]

Quelle:
Gleichen-Russwurm, Alexander von. Der gute Ton. Leipzig [o. J.], S. 122-129.
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