Musikalische Anfänge

[13] Meine musikalische Anlage offenbarte sich in sonderbarer Weise. Nach einem Hochzeitsdiner blieb eine Anzahl halbgefüllter Gläser[13] zurück. Ich bemerkte, daß jedes, je nach seiner Füllung, einen tieferen oder höheren Ton gab. Mit diesen Gläsern stellte ich eine Skala zusammen und mit einem Stäbchen spielte ich dann mir bekannte Weisen zum großen Erstaunen meiner Umgebung – und das »Genie« war geboren. Musik im eigentlichsten Sinne hatte ich nie gehört. Die Tanzmusik, von vier Handwerkern auf entsetzlich verstimmten Blasinstrumenten gespielt, verdiente wohl kaum den Namen Musik.

Auch mein erster Musikunterricht war nicht danach angetan, mir von der Musik und ihrer erhabenen Mission einen besonderen Begriff zu geben.

Einer unserer Chorsänger, der ein bißchen Geige spielte, nahm mich als Elfjährigen in die Lehre und der Unterricht begann damit – nachdem er mir gezeigt, wie man Geige und Bogen hält – daß er auf seiner Geige einen Walzer spielte und ich, ohne von Noten oder Takt das geringste zu wissen, sollte auf meiner Geige akkompagnieren, das heißt er spielte in C-Dur, markierte mit dem Fuß den Niederstrich (das erste Viertel), und ich sollte auf den tieferen Saiten in Doppelgriffen E-C und F-D, zweites und drittes Viertel, nachschlagen. Nun, ich glaube, der Lehrer hat mit dem Fiedelbogen jedenfalls besser auf meine kleinen Finger nachgeschlagen als ich. Nun aber sollte mir doch eine Ahnung von Musik und ihrer poesievollen Macht aufdämmern.


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In diesem meinem Heimatdorfe hat das Wort Poesie weder dem Sinne, noch der Empfindung nach überhaupt existiert. Die Menschen daselbst, in ärmlichsten Verhältnissen lebend, in kümmerlicher Arbeit nur den notwendigsten materiellen Lebensbedürfnissen nachgehend, auf die einzig und allein ihr Sinn und[14] Streben gerichtet war (oder noch ist), hatten nach seelischen Erhebungen keinerlei Bedürfnis. In tiefer Familienliebe und Zusammengehörigkeit sowie in tiefer religiöser Andacht konzentrierte sich alles Gefühlsleben und fand da sein Genügen. Der Begriff »Kunst« in all ihren Abstufungen, wie Musik, Bildwerke, Theater, Lektüre, existierte nicht. Meine Mutter war zwar eine eifrige Leserin, aber das mußte sie fast heimlich tun, denn es galt für Sünde, ein deutsches Buch zu lesen. Im allgemeinen gab es auch keine Bücher, am allerwenigsten Musik um ihrer selbst willen.


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Nun trat ein Ereignis ein, das über meine Zukunft entscheiden sollte.

An unser Haus grenzten Baumgärten. Dahinter dehnten sich weite Acker und an diese anschließend ein Haselnußwäldchen. Das war mein liebster Aufenthalt.

Eines schönen, sonnigen Tages ging ich dahin, legte mich auf den Rücken ins Gras, starrte in den blauen Himmel und ließ mir die warme Sonne ins Gesicht scheinen. Es war Sonntagvormittag. Feierliche Stille umgab mich, nur Bienen und Käfer summten, hoch in den Lüften jubilierten die Lerchen süße Weisen.

Da, mit einem Male erklangen sanfte Kirchenglocken aus weiter Ferne, und als diese schwiegen, erbrauste die Orgel mit Macht. Sie wurde sanft und vier Stimmen mit ihr vereint sangen in Dreiklängen die heilige Messe.

Ein Strom von Wohllaut, von weichen Harmonien überflutete mich. Diese durch Entfernung idealisierten, immateriellen, weithin schwebenden süßen Klänge, wie tief senkten sie sich in das der Musik entgegenblühende Kinderherz! Ich hatte so etwas nie gehört, denn die Kirche, von der wir entfernt wohnten, durften[15] wir nie betreten. Zum ersten Male hörte und empfand ich die erschütternde Macht der Harmonie, der Musik überhaupt. In meiner Unwissenheit konnte ich mir keine Rechenschaft geben über das, was ich hörte – aber ich hatte Tränen in den Augen und noch heute erschauere ich, gedenke ich dieses ersten, so mächtigen musikalischen Eindrucks. In diesem Augenblick hatte sich mein Geschick, meine Zukunft entschieden, war mein Lebensberuf bestimmt – ich war Musiker und – sonderbar genug – durch die katholische Kirche.


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Im Jahre 1842 wurde ich einem tüchtigen Geigenlehrer in Ödenburg übergeben. Eipeldauer hieß der Wackere; Lehrer an der Ödenburger Musikschule.

Und so wanderte ich zweimal in der Woche, mit Geigenkasten und Notenschule bewaffnet, zu Fuß zwei Stunden Weges zeitlich früh von Deutsch-Kreutz nach Ödenburg zum Unterricht und nachher ebenso zurück.

Eines Morgens sieben Uhr früh stand ich auf dem Marktplatze in Ödenburg, die Stunde meines Unterrichtes erwartend. Da wurde es bei wolkenlosem Himmel allmählich dunkler. Große Aufregung ergriff die Marktleute; alles Geflügel schrie und flatterte ängstlich. Die zunehmende Dunkelheit vertiefte sich bis zu schwarzbrauner Färbung – es war die totale Sonnenfinsternis des Jahres 1842.


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In diesem Sommer machte ich meinen ersten zwölfstündigen Marsch.

Das Bad Wolfs am Neusiedler See bildet mit DeutschKreutz und Ödenburg ein Dreieck, von einem zum andern genau zwei Stunden Weges. Eines Tages ging ich mit meinem[16] Vater nach Wolfs, da meine Schwester dort die Kur gebrauchte. Von dort aus mußte ich einen vergessenen Brief von DeutschKreutz holen, zurück nach Wolfs, von dort aus zur Post nach Ödenburg, zurück nach Wolfs und von da heim nach DeutschKreutz. Summa zwölf Stunden. Für den Zwölfjährigen eine gute Vorstudie seiner späteren, durch dreißig Jahre fortgesetzten Bergwanderungen.


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Nun will ich zweier Erlebnisse gedenken, die zu den stärksten Eindrücken meiner Kindheit gehören.

Die Stadt Ödenburg hatte ein neues Theater gebaut, das in diesem Jahre eröffnet wurde. Direktor Pokorny vom Theater an der Wun hatte es in Pacht genommen und eine gute Gesellschaft dahingebracht. Zwei junge Männer nahmen mich mit zu einer Vorstellung. Wir gingen zwei Stunden, mußten vier Stunden auf die Eröffnung des Theaters warten, dann hinauf – Stehplätze auf der letzten Galerie. Das dunkle, noch nie gesehene Theater, der geschlossene Vorhang, endlich Licht, das stimmende Orchester – wie mir das Herz klopfte vor geheimnisvoller, süßer Erwartung des Wunderbaren, das sich ereignen sollte – und es ereignete sich – man gab den »Verschwender«. Atemlos, traumverloren, berauscht stand ich da, horchte und lauschte ergriffen – unvergeßlich fürs ganze Leben. In unserer blasierten Zeit, wo man vierjährige Kinder schon ins Theater – wenigstens zu Kindervorstellungen führt, kann man sich nur schwer die Wirkung vorstellen, die dieses poesieumflossene Feenmärchen auf das noch so gänzlich unberührte, unvorbereitete und doch schon so empfängliche Kindergemüt machte. In gleicher Weise und mit gleich starker Wirkung hörte ich bald darauf die »Schweizerfamilie« von Weigl.


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[17]

Im Geigenspiel schien ich gute Fortschritte gemacht zu haben, denn schon nach einjährigem Unterrichte trat ich im Jahre 1843 in einem Vereinskonzert zum ersten Male auf.

Als ich nach sechzig Jahren einer Einladung zu einer Jubelfeier dieses Vereines folgte, las ich in einer bei dieser Gelegenheit erschienenen Festschrift drei Konzertprogramme, nach welchen ich im Winter 1843 und 1844 als Schüler dieses Vereins auftrat. Ich spielte Stücke über Opernmotive von Jansa. Aber da sollte ich noch etwas Merkwürdiges erleben: ich sah und hörte das erstemal – ein Klavier! Professor Pirkhert aus Wien spielte Lisztsche, Thalbergsche Phantasien. Mein Entzücken war ebenso groß wie mein Erstaunen darüber, daß die Finger nur so hinrasten, ohne sich zu verwirren oder daneben zu greifen. Auch warum die Leute klatschten, war mir unbegreiflich.


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»Zu Wien, da lernt' ich singen und sagen«.

Walther von der Vogelweide


Mit dem Sommer 1844 beginnt ein neuer Lebensabschnitt; ich kam nach Wien zur weiteren Ausbildung. Mein um zehn Jahre älterer Bruder Josef, der in Wien Medizin studierte, nahm mich auf. Zunächst mußte ich alle niedrigen häuslichen Arbeiten machen, wie Holz- und Wassertragen, Kleider und Schuhe reinigen, doch war das selbstverständlich und machte mir auch nichts. Frühstück und Abendbrot hatte ich zu Hause; für Mittagmahl hatte ich bei sieben verschie denen wohltätigen Familien einen Freitisch in der Woche.

Der vortreffliche Quartettspieler Jansa, Mitglied der kaiserlichen Hofkapelle, wurde mein Lehrer. Er besah meine Geige, sie[18] war in schlechtem Zustande. Er wies mich an Stoß, den damals besten Geigenmacher Wuns. Seine Werkstatt war ein kleines Kämmerchen in der Grünangergasse. Als ich meine reparierte Geige dort abholte, sah ich etwas ganz besonders Aufregendes: die drei größten Geiger und Lehrer Wuns in traulichem Gespräch in dem engen Kämmerchen beisammen sitzen und sich über Geigenbau unterhalten. Es waren dies Josef Böhm, der Lehrer H. W. Ernsts, Josef Joachims und vieler anderer hervorragender Geiger, dann Mayseder, Konzertmeister der Hofoper, und Jansa. Haydn, Mozart und Beethoven zusammen hätten mich nicht mit solcher Ehrfurcht erfüllt wie diese drei Heroen der Geige. Ich hatte damals noch keine andere Welt als die der Geige.


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Mein Bruder Josef stand unmittelbar vor seinem Doktorrigorosum. Er war ein tüchtiger Chemiker und erwarb seinen Unterhalt damit, daß er für Rigorosanten chemische Kurse hielt. Später hatte er du wichtige Entdeckung des amorphen Phosphors gemacht, deren Früchte ihm leider durch seine Flucht nach Amerika verloren gingen.

Bei diesen chemischen Kursen mußte ich Famulus alles vorbereiten, die verschiedenen Präparate, Fläschchen, Gläser, Retorten ordnen. Während seines Vortrages saß ich hinter einer spanischen Wand und schrieb Duette für zwei Violinen. Es waren dies meiner Erinnerung nach meine ersten Kompositionsversuche.

Um sie mit einem Kollegen durchzuspielen, nahm ich sie mit zur Geigenstunde und ließ sie im Vorzimmer liegen. Jansa begleitete mich zufällig hinaus, sah das Manuskript, las es und sagte mit wohlwollendem Lächeln. »Nur immer zu.« Und ich schrieb immer zu, ohne irgend etwas von Harmonielehre oder[19] Kontrapunkt zu wissen. Er wohnte im vierten Stock im Schottenhof. Als ich die Treppe hinabging, kam ein junges Mädchen, etwas jünger als ich, mit dem Geigenkasten in der Hand die Treppe heraus. Ich wußte, wohin ihr Weg ging. Auf meine Frage später, wer das Mädchen sei, sagte Jansa: »Das ist ein gar talentvolles Kind namens Neruda.« Es war die nachmals berühmt gewordene Geigerin Hallé-Neruda.

Jansa empfahl mir, fleißig gute Musik zu hören, und nannte den Sonntagsgottesdienst in der kaiserlichen Hofkapelle als die beste und für mich billigste Gelegenheit hiefür. Ich erinnerte mich des so starken Eindrucks im Haselnußwäldchen in meiner Heimat und lange Zeit fehlte ich an keinem Sonntag in der kaiserlichen Hofkapelle.

Anderweitigen Schulunterricht erhielt ich auch jetzt noch nicht. Aber ich trat in einen Kreis hochgebildeter junger Männer, Doktoren der Medizin, die bei meinem Bruder verkehrten. Ich lernte reines Deutsch sprechen. Das erste Buch, das mir mein Bruder in die Hand gab, war »Knigges Umgang mit Menschen«. Es schien wohl sehr nötig. Das zweite war »Götz von Berlichingen« und als drittes las ich die »Türkenbelagerung von Wien«.


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Um diese Zeit verübte ich einen ebenso dummen als niederträchtigen Streich. Die erste Wohnung, in die ich bei meinem Bruder eintrat, war in der Schlösselgasse (Alservorstadt). Nun wohnten wir in der Piaristengasse. Mein Bruder bereitete sich zu seinem Rigorosum vor, in Gemeinschaft mit dem nachmals berühmten Professor Zeißl. Ich wurde beauftragt, ein ganzes Skelett zum Zwecke anatomischer Studien aus dem nahen Allgemeinen Krankenhause zu holen. Wir bewohnten ein Zimmer[20] und Vorzimmer; an diese schlossen sich zwei Zimmer, die unsere Hausfrau mit ihrer Tochter, einem Mädchen von 16 Jahren, bewohnte.

Ich hatte das Skelett, sorgfältig in ein Leintuch gewickelt, abgeholt. In tiefer Abenddämmerung hörte ich das trällernde Mädchen sich nahen, um die Betten abzuräumen. Ich stellte das ins Leintuch gehüllte Skelett senkrecht vor die Türe und hockte mich dahinter. Das Mädchen öffnete die Türe und blieb erstarrt stehen. Ich zupfe und ziehe das Leintuch vom Kopfe, so daß der Totenschädel bloß war und mache einen tiefen Seufzer. Das Mädchen stößt einen furchtbaren Schrei aus und stürzt ohnmächtig zusammen. Die Mutter eilt herbei, wir bringen das bewußtlose Mädchen zu Bette. Sie hatte ein mehrwöchiges Fieber. An den nötigen wohlverdienten Ohrfeigen hat es mein Bruder Gott sei Dank nicht fehlen lassen.


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Mein Geigenunterricht bei Jansa mußte nach 11/2 Jahren leider aufhören. Ich hatte tüchtige Fortschritte gemacht; aber mein armer Vater konnte nicht weiter. Die zahlreiche Familie, das spärliche Gehalt (200 fl. jährlich), der Unterricht bei Jansa, 24 fl. monatlich, selbst mit den Nebeneinkünften aus der Notärstelle ging es nicht weiter.

Zu weiterem Unglück für mich bekam mein Bruder, der mittlerweile Doktor wurde, die Stelle als Sekundararzt im Allgemeinen Krankenhaus. Er übersiedelte dahin und ich war ziemlich an die Luft gesetzt. Ich mietete ein Kämmerchen in der Leopoldstadt. Nun begann für mich eine gar traurige, viele Jahre dauernde Zeit des Elends, des Hungerns. Die Verhältnisse meines Bruders waren nicht danach, mich wesentlich zu[21] unterstützen; die des Vaters noch weniger. Mein Bruder zahlte mir die Zimmermiete, gab mir aus seinem Holzvorrat meterlange weiche Scheite, die ich, in Papier gehüllt, in meine entfernte Wohnung tragen, dort selbst zerkleinern und in den 4. Stock bringen mußte. Vom Hause erhielt ich allwöchentlich einen Laib Brot, ein Säckchen gerösteten Mehls – ein Löffel davon in heißes Wasser gab eine Suppe –, die frischgewaschene Wäsche und einen Silberzwanziger (1/3 Gulden). Es war wenig. Aber es genügte, um nicht zu verhungern. All das mußte ich mir von einem Manne holen, der allwöchentlich Gänse von Kreutz nach Wien brachte. Doch wenn der Mann ausblieb, was in wärmerer Zeit immer geschah – o weh! Verzweiflung. Woher am nächsten Tag für eine Woche Brot nehmen? Die Zeit des Elends hat noch viele Jahre gedauert, aber diese war wohl die schrecklichste.

Um diese Zeit hat sich folgende heitere, alles beleuchtende Episode ereignet.

Mein Vater kam nach Wien und schlief die Nacht bei mir. Zeitlich morgens läutet man; ich gehe hinaus und öffne. Ein Freund stand draußen und es entspinnt sich folgender Dialog:

Er: Lieber Freund, ich muß Sie bitten, mir das Geld zu zahlen, das Sie mir schulden.

Ich: Heute leider unmöglich.

Er: Sie müssen mir das Geld geben, ich brauche es dringend.

Ich: Mit dem besten Willen kann ich es heute nicht.

Er: Aber ich versichere Sie, ich muß das Geld haben, ich kann die Summe nicht entbehren.

Ich: Und wenn Sie mich auf den Kopf stellen, ich habe sie nicht.

Ins Zimmer zurückgekehrt, sagte der Vater zu mir, der bei offener Tür alles gehört hatte: »Was ist das, Karl, du hast Schulden?« »Na, Schulden kann mans so eigentlich nicht nennen, ich bin ihm etwas Geld schuldig.« »Und wieviel?« fragte der[22] Vater. Etwas zögernd antwortete ich: »Zwei Kreuzer« (wortwörtlich). Hierauf der Vater lächelnd: »Hat er dir diese Summe bar geliehen?« Ich: »Das gerade nicht; er verkaufte mir dafür eine Speisemarke der Suppenanstalt Todesco.« Diese Marken waren unentgeltlich zu haben für den, der darum ansuchte. Ich tat's nie.


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Ich hatte nun keinerlei Unterricht, spielte viel Geige, komponierte ohne die geringste Kenntnis von Harmonielehre oder gar Kontrapunkt immer drauf los, und zwar ausschließlich für die Geige: Fantasien, Variationen, Konzerte. Von der Existenz Haydns, Mozarts, Beethovens hatte ich keine Ahnung. Auch wenn ich vielleicht hie und da von diesen etwas hörte, traten sie mir nicht näher. Meine Götter waren Bériot, Alard, Vieuxtemps. So lebte ich bis zum Sommer 1847.

Mein Bruder, der ohne weitere Ausbildung durch gute Lehrer nur wenig Hoffnung in meine Karriere als Geigenvirtuose setzte, sagte mir im Juli dieses Jahres: »Du gehst jetzt nach Hause zu den Eltern; du mußt in zwei Monaten bis ersten Oktober Prüfung aus der Z. Normalklasse machen (jetzt vierte), da heißt es fleißig arbeiten. Mit diesem Zeugnis findest du Aufnahme in der Technik. Du mußt einen andern Beruf ergreifen; mit der Geige geht es in dieser Weise nicht mehr. Tust du das, so will ich dich weiter unterstützen, wenn nicht – so nicht.« Mir wurde schwer ums Herz; ich sollte der Geige, der Musik überhaupt, entsagen: aber ich hatte keine Wahl. Und so ging ich auf den sogenannten Tandel- (Trödel-) Markt, kaufte mir, so gut ich es fand, die nötigen Schulbücher für dieses Studium. Bei alldem klopfte mir das Herz vor Freude.[23]

Wie oft hatte ich Nächte in verzehrender Sehnsucht nach meiner geliebten Heimat durchgeweint, namentlich in der ersten Zeit. Der Kontrast war zu groß. Aus dem sorglosen fröhlichen Kinderleben, dem Herumstreifen in Feld, Wald und Wiesen, plötzlich in die fremde große Stadt gepfercht, in die strenge Hand meines Bruders gegeben. Und gar die letzte Zeit des Elends, des Hungerns, getrennt von Eltern, Geschwistern, Jugendgespielen, von allem, was mir lieb war. Nun sollte ich die Heimat, die geliebten Eltern und Geschwister wiedersehen.


*


Ende Juli 1847 kam ich heim. Ich legte die Geige weg und nahm die Bücher. Um 5 Uhr morgens war ich mit meinen Büchern auf dem Felde, dann schloß ich mich ins Zimmer ein und arbeitete ohne jede Anleitung bis in die sinkende Nacht.

Unter meinen Lehrgegenständen befand sich auch Geometrie. Ich öffne das alte, abgegriffene Lehrbuch und – o Schrecken! es fehlen zwei Tabellen mit sämtlichen geometrischen Figuren, auf die sich der Text bezog. Ich mußte alle Figuren aus dem Text allein, ohne bildliche Darstellung mir erklären. So auch die bekannte Eselsbrücke, den Pythagoräischen Lehrsatz: das Quadrat über der Hypotenuse ist gleich der Summe der Quadrate über den beiden Katheten. Um mir die Sache, die verschiedenen geometrischen Lehrsätze möglichst klar und anschaulich zu machen, verfertigte ich aus Bindfaden eine Meßkette, ließ mir vom Tischler den Dreifußtisch machen, aus Pappdeckel machte ich ein Diopterlineal, aus dem abgeschlagenen langen Halse einer Ölflasche eine Wasserwage. So ausgerüstet zog ich mit meinem jüngeren Bruder Sandor aufs Feld, nahm die Gegend auf, maß aus der Entfernung die Höhe des Kirchturms usw. Diese[24] Messungen dürften an Verläßlichkeit manches zu wünschen gelassen haben, aber mir verschafften sie doch Klarheit und Anschaulichkeit.

Nach kaum zwei Monaten war ich fertig. Ende September ging ich nach Wien, um dort in die Technik einzutreten. Auf dem Wege dahin hielt ich mich in Wiener-Neustadt auf, um dort bei dem Schuldirektor Prüfung zu machen. Da noch Schulferien waren, konnte dies leicht geschehen.

Ich läute also bei dem Schuldirektor, das Dienstmädchen öffnet, sieht mich an und – verschwindet. Sie kommt gleich zurück und – gibt mir einen Groschen in die Hand. Meine Kleidung ließ wohl den Irrtum begreiflich erscheinen. – Nachdem ich die edle Gabe dankend abgelehnt – wir waren wohl beide rot – und meine Absicht kundgegeben hatte, wurde ich gleich vom Schuldirektor wohlwollend empfangen. Er prüfte mich und zu meinem Erstaunen erfuhr ich, daß Geometrie gar nicht im Schulplan sei. Nur in den »Brüchen« (noch heute meine Krankheit) und im Diktandoschreiben lateinischer Wörter erhielt ich »gut«. Ich wußte gar nicht, daß letzteres gefordert wird. Sonst durchaus »vorzüglich«.

Es war die einzige öffentliche Prüfung, die ich in meinem Leben machte. Bei allem, was ich musikalisch und literarisch autodidaktisch mir erworben, ist dieses in zwei Monaten errungene Zeugnis mein stolzester Besitz. Ich bewahre diese Reliquie noch heute.


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Am 1. Oktober fand ich Aufnahme in der Technik. Nach der damaligen Schulordnung war das möglich. Ich hörte Algebra bei Professor Spitzer und verstand zunächst kein Wort von der ganzen Herrlichkeit.

Glücklicherweise fand ich auch gleichzeitig Aufnahme im Konservatorium. Ich ging zu Professor Böhm, spielte ihm etwas[25] vor (D-Moll-Konzert von Spohr), und er nahm mich in seine Ausbildungsklasse. Harmonielehre hörte ich bei Gottfried Preyer. Der Schüler am Konservatorium lernt vom Mitschüler oft mehr als vom Lehrer. Diese haben Qualitäten, gute und schlechte; beide sind instruktiv.

Josef Böhm war ein außerordentlicher Lehrer. Große Virtuosität, verbunden mit musikalischer Durchbildung waren Ergebnisse seines Unterrichts. Er sprach sehr wenig, sein Tadel war ein höhnisch-grinsendes Lächeln; es war vernichtend. In den fünf Monaten meines Schulbesuches seiner obersten Klasse bekam ich nur zu sehen, wie man die Geige hält. Und doch gingen aus dieser Klasse die größten Geiger hervor, so zum Beispiel Ernst, Joachim, Auer, Ludwig Strauß, Singer usw.

Freilich, ihn spielen zu hören, genossen nur seine Privatschüler. Und von diesen lernten wir. Endlich geregelter theoretischer Musikunterricht. Die Technik sah mich nur wenig mehr, desto fleißiger oblag ich den beiden Musikfächern. Ich begann endlich auch Musik zu hören. Als Schüler des Konservatoriums durfte ich auf der Chorgalerie des Kleinen Musikvereinssaals die Konzerte anhören. Da hörte ich Liszt, Thalberg, Dreyschock, Willmers, die Geiger H. W. Ernst, Vieuxtemps, Molique, den 15 jährigen Joachim (Beethoven-Konzert), die beiden jungen Hellmesberger und viele andere. Wichtiger waren mir die sechs Streichquartette Jansas im Streichersaal, am Sonntag die einzige existierende Kammermusik, und am allerwichtigsten die von Preyer geleiteten Orchesterübungen der Schüler. Die beiden letzten offenbarten mir, wenn auch nur spärlich, eine neue Welt, die Welt Haydns, Mozarts, Beethovens. Es ist charakteristisch für die Zeit, daß es damals keine Orchester-, keine Gesangs- oder Liederkonzerte gab.

Die von der Gesellschaft der Musikfreunde gegründeten Concerts spirituels sowie die philharmonischen Konzerte Nicolais waren[26] eingegangen. Und so herrschten nur die Virtuosenkonzerte mit ihren zumeist fragwürdigen Opernfantasien. Um so wohltuender und wertvoller waren mir diese unsere Orchesterübungen. Eine der schmerzlichsten Verkennungen künstlerischer Größe und bezeichnend für die Urteile dieser Zeit über den späteren Beethoven ist ein Ausspruch – der mir auch im Gedächtnis haften geblieben ist – unseres trefflichen Lehrers in Harmonielehre und Kontrapunkt, Gottfried Preyer, der als Direktor des Konservatorimus, wie schon bemerkt, auch die Orchesterübungen leitete. Einstmals ließ er uns den ersten Satz der Neunten Symphonie von Beethoven spielen. Am Schlusse derselben sagte er: »Meine Lieben, ihr müßt euch über dieses Stück nicht sehr verwundern. Beethoven war damals schon nicht mehr ganz klaren Geistes.« – So geschehen zwanzig Jahre nach dem Tode Beethovens. Und damit sage ich meinem guten, tüchtigen Lehrer nichts Böses nach – es war so ziemlich das allgemeine Urteil.

Dieses Urteil hat sich mittlerweile geändert. Noch möchte ich ein hübsches Wort von ihm anführen. Dreiundfünfzig Jahre später sendete mir Preyer zu meinem 70. Geburtstage seinen Glückwunsch. Gerührt dankte ich dem geliebten Lehrer in einem herzlich warmen Brief, ihm als Schüler meine tiefe Verehrung bezeugend. Er, der nun 93 jährige, antwortete hierauf mit folgenden Worten: »Die leere Ähre steht aufrecht, die volle neigt sich.«

Diese fruchtbare Zeit des Lernens von anderen sollte leider plötzlich unterbrochen und für immer zu Ende sein.

Quelle:
Goldmark, Karl: Erinnerungen aus meinem Leben. Wien, Berlin, Leipzig, München 1922, S. 13-27.
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