Ignaz Brüll

[82] Es war im Winter 1862, daß ich bei einer Morgenprobe zur Erstaufführung meines Streichquintetts bei Hellmesberger, Professor Julius Epstein mit seinem Klavierschüler, einem Knaben von etwa vierzehn Jahren traf; er sollte Hellmesberger etwas vorspielen. Ein schmächtiges Bürschchen mit schmalem Gesicht, aber schönen, warmen blauen Augen, aus denen die helle Musik sprach. Es war Ignaz Brüll der Komponist des nachmals vielgegebenen »Goldenen Kreuzes«. Er spielte einige kleine Stücke eigener Komposition, die ganz seinem kindlichen Wesen entsprachen. Diese Einheit des Menschen, seines inneren Wesens mit seiner Musik ist ihm – natürlich mit dem Wachstum und der Reise des Mannes gleichzeitig erstarkt und vertieft – auch treu geblieben bis in sein reifes Alter.

Diese Begegnung führte mich in seine Familie und seitdem, fast fünfzig Jahre, verbindet mich treue, ungetrübte Freundschaft mit ihm und den Seinigen. Ignaz Brüll hat sich neben dem Komponisten auch zum ausgezeichneten Pianisten entwickelt. Er ist in jungen Jahren viel gereist, hat auch in London viel konzertiert. Er spielte die Don-Juan-Phantasie Liszts, die Paganini-Variationen Brahms' technisch so vollendet, mit einer Selbstverständlichkeit, daß man die Schwierigkeiten der Stücke nicht ahnte. Leider entbehrte besonders in früheren Jahren seine Technik der Plastik, wie sie der große Saal erforderte. Auch das hat sich in letzten Jahren wesentlich gebessert; aber a la camera, im Hause war sein Spiel für mich stets ein hoher Genuß. Nichts Virtuosenhaftes, alles in Poesie und Gesang aufgelöst. Dabei konnte man jeden Augenblick jedes Stück der gesamten Klavierliteratur verlangen, er spielte es, natürlich auswendig, als hätte er es eben studiert. In diesem Hause wurde[82] die edelste Musik in edelster Weise gepflegt. In späteren Jahren verkehrten hier auch Brahms und Billroth gerne und ersterer liebte es, seine Lieder selbst begleitend von der Schwester Ignaz Brülls (Frau Schwarz), einer vorzüglichen Sängerin, sich vorsingen zu lassen. Auch bei Eduard Brüll, einem Hause, wo sich die Pflege guter Musik mit einem guten Tisch zu angenehmster, heiterer Geselligkeit verband, verkehrte Brahms gerne.


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Noch will ich hier einer kleinen, in diese Zeit fallenden Episode gedenken, die dazu beitragen könnte, so manches Vorurteil zu zerstreuen.

In dieser Zeit, 1862, dirigierte ich eine Zeitlang den Gesangverein »Eintracht«, ein Verein sangesfroher, junger Männer. Als ich einmal das Halleluja von Händel in einer Liedertafel mit ihnen aufführte, avancierten sie in ihrer Begeisterung dermaßen vor, daß ich alsbald nicht mehr vor ihnen, sondern in ihrem Rücken stand. O, der Enthusiasmus kann viel und war nicht zu halten.

Eines Tages ging ich mit dem Verein zu einem Bundesgesangsfest nach Wiener-Neustadt, zwei Eisenbahnstunden von Deutsch-Kreutz entfernt. Von heißer Sehnsucht ergriffen, ließ ich den Verein mit den anderen »bundesfest« singen und ging, nach achtzehnjähriger Abwesenheit den Ort meiner glücklichen, dort verlebten Kinderjahre wieder zu sehen. Ich trete ins Haus, ins Zimmer, wo ich mit den geliebten Eltern und Geschwistern gelebt, gespielt und getollt habe. Eine Frau mit dem Kinde auf dem Arme fragt nach meinem Begehren. Statt aller Antwort stürzen mir die Tränen aus den Augen, keines Wortes mächtig, eile ich hinaus aufs Feld – ins Gras und heule wie[83] ein Schloßhund. Ungarische Blätter haben mir oft nicht bloß Heimatsrechte, sondern auch Heimatsgefühle abgesprochen, weil ich nicht ungarisch spreche und so lange außer Landes lebe. Nun, ich lebe seit siebenundsechzig Jahren in Wien, habe mich aus deutschen Bildungsquellen in Wissenschaft und Kunst auferzogen und in diesem Sinne zähle ich mich auch zu den Deutschen. Auch liebe ich diese meine zweite Heimat des Wachsens und Werdens, der ich alles verdanke, was ich bin und bedeute. Aber all das hat die starken, tiefwurzelnden Heimatsgefühle nicht ausgelöscht. Es muß ein vertrocknetes, verknöchertes Herz sein, dem die Scholle, auf der seine Wiege stand, all die süßen Erinnerungen glücklicher Kindheit nicht teuer sind. In diesem Sinne habe ich meiner Geburtsheimat die Treue bewahrt.

Quelle:
Goldmark, Karl: Erinnerungen aus meinem Leben. Wien, Berlin, Leipzig, München 1922, S. 82-84.
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