Bad Fusch

[99] Hatte ich über zwanzig Jahre die Freude des Landlebens entbehrt, sollte ich es nun reichlich gunnachen. Freunde sprachen mir mit Begeisterung von dem Aufenthalte in der Fusch im Salzburgischen am Fuße des Großglockners, nahezu 4000 Fuß Meereshöhe. Ich ging mit einigen Freunden 1867 das erstemal dahin. Mit Entzücken gedenke ich dieses gottgesegneten Fleckchens und der Zeit der herrlichen Wanderungen daselbst. Um fünf Uhr früh bei strahlendem Himmel in stahlharter, frischer Luft, von der Tür ab sofort den Berganstieg. Nach kaum einer Stunde kräftigen Steigens auf der Alpe duftenden Kaffee, die Zigarre im Anblick der majestätischen Alpenwelt, des Großglockners, des Fuschereiskars, der Wiesbachhörner usw., lauter eisumstarrte, hohe Herren bis 13.000 Fuß. Welch wonniges Behagen, welches Jugendgefühl und welch körperlich elastische Frische! Dann weiter zwei Stunden auf die[99] Spitze des Kühkars (über 7000 Fuß) ein herrlicher Rundblick über die Höhen des Wilden Kaisers, Steinernes Meer, Übergossene Alm, Watzmann, Dachstein und die ganz aufgerollte Tauernkette mit ihren eisstarrenden Höhen und Gletschern. Und nun das Schönste. Von hier aus, der Spitze des Kühkars, umwandert man, immer auf gleicher Höhe bleibend, auf schmalem Fußpfade rechts und links nur senkrechte Felsenabstürze oder steile Wiesenabhänge, mit dem Gefühle des Dahinfliegens zwei Stunden unser Tal umkreisend, immer mit dem freien, unbegrenzten Ausblick über die hohe Alpenwelt. Es dürfte wenig Orte geben, welche die Möglichkeit bieten, in einer Höhe von 7000 Fuß auf schmalem Wege in kräftiger Luft zwei Stunden frei so dahin wandern zu können. Welche Pracht! – Nicht zu gedenken der Aufstiege in die Eiswelt des Großglockners, in das herrliche Ferleitental; über die Scharte (8000 Fuß) zur Franz-Josefshöhe. Ich stand am Rhônegletscher, auf der Wengernalp im Anblick der Jungfrau; aber die Erschütterung vom Ausblick der Franz-Josefshöhe in die erstarrte Eiswelt des Großglockners und seiner Umgebung läßt sich damit nicht vergleichen. Ich glaube diesem so erfrischenden Naturleben, dem kräftigen Wandern durch dreißig Jahre in der Fusch und dann in Gmunden nicht zum geringen Teile die geistige und körperliche Rüstigkeit in meinem einundachtzigsten Jahre zu verdanken.

Auf einer dieser Bergwanderungen wäre ich bald verunglückt. Ich stieg mit einem Freunde, dem Bildhauer Natter (»Haydn« in Wien, »Walter von der Vogelweide« in Bozen und »Andreas Hofer« sind seine Werke) auf den Schwarzkopf. Auf seiner Nordostseite lagerte eine mächtige, stark vergrleßte, spiegelblanke steile Schneefläche, von beiden Seiten von starkem Geröll umschlossen, unten eben auslaufend. Am Saume hinabsteigend, braucht man eine halbe bis dreiviertel Stunden; mit dem Bergstock[100] abfahrend einige Minuten. Natter, ein fester Tiroler, schlug letzteres vor. Ohne lang abzuwarten, ging er mit festem Tritt in die Mitte der Schneefläche und fuhr ab. Ich folgte ihm. Aber ich erreichte nicht die Mitte, da lag ich schon auf dem Rücken und fuhr rasend gegen das Geröll.

Und das war die Gefahr. Aber ich drückte mich so fest in den Schnee, daß die Ärmel bis zum Ellbogen mit Schnee gefüllt waren. Ich blieb liegen. Aber beim leisesten Versuch, mich zu erheben, kam ich ins Rollen. Da sprang der Führer zu mir, stieß seinen Bergstock mir zwischen die Beine, reichte mir die Hand, so konnte ich mich erheben. Dann sauften wir hinunter.

Noch eine zweite Lebensgefahr, obwohl viel später, will ich hier einschalten.

In meinem siebzigsten Lebensjahr machte ich die Wahrnehmung (oder vielmehr die Ärzte), daß starkes Bergsteigen meinem Herzen nicht mehr besonders erfreulich war. Ich gab die dreißig Jahre fortgesetzten Bergwanderungen auf und ging nun als Ersatz alljährlich vier Wochen aus Meer nach Abbazia. Auf einem der kleinen Schiffe, die stündlich zwischen Abbazia und Fiume verkehren, bringe ich fünf bis sechs Stunden des Tages zu. Auf dem Hinterdeck befindet sich die in die Kajüte der Matrosen führende Schiffsluke, auf beiden Seiten durch eine einen halben Meter hohe Eisenwand geschützt.

Ich stand mit dem Rücken vor einer dieser Eisenwände, als das Schiff, von einer kräftigen Schirokkowelle auf die Seite geneigt, mich rücklings kopfüber in die Luke warf. Wäre ich in die zwei bis drei Meter tiefe Luke senkrecht mit dem Kopfe auf den Boden gestürzt, Kopf und Genick wären gebrochen gewesen.

Glücklicherweise schlug ich mit dem Kopf auf die gegenüberliegende Eisenwand, sonst hätte mich der jähe Sturz in die Tiefe gerissen. So aber blieb ich unter den Knien an der Eisenwand[101] mit dem Kopf nach unten hängen. Matrosen befreiten mich aus meiner unangenehmen Lage.


*


Um diese Zeit – 1867 – gab es noch keine Eisenbahn in diesem versteckten Erdenwinkel. In Bad Fusch, wenig bekannt, war der Andrang noch nicht groß, ein Bauer führte die primitive Hotelwirtschaft. Wir waren daher noch eine kleine, aber äußerst fröhliche, übertolle Gesellschaft, die sich größtenteils aus Künstlern (Materna, Dessoff u. a.) rekrutierte. Wir – meine engere Gesellschaft – wanderten fast immer zu vieren, zwei Weiblein, zwei Männlein (die trrssliche Konzertsängerin Helene Magnus war eine davon), auf die Berge; alle vier sozusagen etwas musikalisch. Bald entstand das Bedürfnis nach Musik. Klaviere gab es Gott sei Dank noch nicht. Lagerten wir auf einer Berghöhe, so arrangierte ich eine Art Choral, indem ich einen Akkord unter uns austeilte, jedem einen Ton gab, 4/4 auszuhalten. Während dieser Dauer, den Akkord wechselnd, gab ich jedem seinen neuen Ton usw. So entstand ein vierstimmiger Choral, rhythmisch etwas eintönig, aber hoch oben in reiner, dünner Luft von entzückendem Wohllaut, im Anblick der erhabenen, herrlichen Alpenwelt, begleitet von einem eigentümlichen Gefühl der Andacht. Da kam ein Freund (Onkel Eduard Brüll) auf den Einfall, ein auf die Fusch bezügliches Lied zu dichten. Ich komponierte es, auf Weg und Steg wandelnd, vierstimmig. Und so entstanden nach und nach sechs Lieder, die ich in gleicher Weise alle in Musik setzte; wir sangen sie auf unseren Wanderungen und schließlich auf Bergeshöhen auswendig1. Bei einer[102] solchen Wanderung erlebte ich ein merkwürdiges Naturphänomen. Auf der Spitze des Kühkar (7000 Fuß). Wir lagerten bei herrlichem Sonnenschein und wolkenlosem Himmel beim Imbiß. Da bemerkten wir in unserer unmittelbaren Nähe ringsherum zahlreiche kleine Wölkchen in Meterhöhe aus dem Grase aufsteigen, nicht höher als von brennenden Zigarren. Wst machten den beschäftigten Führer darauf aufmerksam. »Jesas, Maria und Josef,« schrie er auf, »fort so schnell als möglich.« Wir begriffen nicht, aber wir folgten, schnell Röcke und Mäntel umgeworfen, und stürzten talab. Wir hatten kaum 200 Schritte gemacht, als ein furchtbares Gewitter, Donner und Blitz, Wolkenbruch mit Hagel über uns losging. Wir hatten eine halbe Stunde zur nächsten Alpenhütte zu laufen und kamen tief durchnäßt daselbst an. Den Zusammenhang möge ein Naturforscher erklären. Noch einen andern Beweis von der Wetterkunde der Landleute sollte ich auf drollige Weise erhalten. Ich ging hinab nach Zell am See, um andern Tags in das großartige Kaprunertal zu gehen. Es war strahlend schöner Sonnentag. Ich frage die alte Hotelwirtin (Post): »Was glauben Sie, liebe Wirtin, hält das Wetter morgen?« Sie schnuppert in die Luft und sagt: »Morgen ham mer an Schnee.« »Warum glauben Sie das?« »I riachs!« war die Antwort. Anderen Morgens (im Juli) war alles tief verschneit; ich konnte nicht ins Kaprunertal. Damals gab's noch keine Hotels und keine Straßen daselbst.


*


Im Sommer 1868 zog ich nach Baden bei Wien, wo ich in idyllischer Einsamkeit an meiner »Saba« arbeitete. In dem engen reizenden Helenental, an beiden Seiten von dicht bewaldeten Höhen und von Burgruinen umschlossen, in dem Dreieck,[103] wo Bach und Straße zusammentreffen (vor dem Durchbruch), lag mein stilles, einsames, letztes Haus mitten im schönen Garten, ein poesieverklärter, stiller Winkel, geschaffen zu geistiger Tätigkeit und Kontemplation. Öffnete ich morgens die Fenster, so strömte mir erquickender Tannen- und Blumenduft ins Zimmer. Tägliche Wanderungen über Berg und Tal wechselten mit beglückender Arbeit. Drei Jahre! Es war eine glückliche Zeit! – Leider kam die Bauwut jener Zeit (1883), auch mein Häuschen fiel ihr zum Opfer – –

Jetzt befinden sich dort auf demselben Grunde zwei vornehme Villen. Ob da noch Poesie und Poeten wohnen? – Ich weiß es nicht.


*


1870 ging ich unterirdischer Störungen wegen nach Karlsbad, dann zur Erholung von dort nach dem mir noch fremden Gmunden in Oberösterreich, da meine Freunde Brüll und Karoline, jetzt schon verheiratete Frau von Gomperz, über den Sommer dahin gezogen waren. Ich blieb vierzehn Tage, kam aber im nächsten Jahre wieder, da meiner Badener Wohnung der Ankauf drohte, zu längerem Aufenthalte – in der vorläufigen Dauer von vierzig Jahren. Diese Zahl genügt, um zu sagen, wie lieb mir der Ort wurde, wie förderlich meiner Arbeit.

Gmunden hat sich im Laufe der Jahre und dank der durchs ganze Salzkammergut fahrenden Eisenbahn zu einem stark besuchten Kurort mit internationalem Publikum und – ebensolchen Kurtaxen entwickelt.

Vor vierzig Jahren war das anders. Heute herrscht Toilettenluxus, Tennisdreß usw. Damals ging man in heimatlicher Gebirgslodenjoppe, und so alles übrige. Indessen, die liebliche,[104] reizumflossene Landschaft, der Aufenthalt an dem erquickenden, von hohen Bergen umschlossenen See übten ihren Zauber, ihre Anziehung, und die Menschen kamen mehr und mehr.

Auch Anton Rubinstein brachte hier einen Sommer in dem nahen, so lieblichen Traunkirchen zu.

An gewissen Nachmittagen fand sich Gesellschaft bei ihm ein und er, freigebig mit seiner herrlichen Kunst im Vereine mit der ebenfalls anwesenden Karoline Gomperz-Bettelheim. Dort traf ich die Wagner-Freundinnen Gräfin Schleinitz und Gräfin Dönnhoff (jetzige Gräfin Bülow). Diese letztere verblieb auch den ganzen Winter in Gmunden. In ihrem freundlichen Umgang lernte ich eine selten geistvolle Frau kennen. Stundenlang geführte ernste, selbst philosophische Gespräche ermüdeten sie nicht und sie wußte durch geistvolle Fragen immer wieder die Unterhaltung neu anzuregen. Auch als Pianistin konnte sie sich hören lassen. Später einmal traf ich sie im Konzertsaal in Wien. Wir sprachen vom Klavier. Sie sagte: »Ich spiele gerne Arrangements für zvei Klaviere; ich habe auch stets zwei Flügel bei mir.« Worauf Mosenthal die Bemerkung machte: »Engel haben immer zwei Flügel.«

Fußnoten

1 Sie wurden nachher als »Fuscherlieder« gedruckt und daraus »Neue Liebe«, »Wasserfall und Ache« und »Abschied« in Konzerten in Wien oft gesungen.


Quelle:
Goldmark, Karl: Erinnerungen aus meinem Leben. Wien, Berlin, Leipzig, München 1922, S. 105.
Lizenz:

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