Persönliche Würde. Bescheidenheit und Selbstbewußtsein.

[14] »Jeder Mensch gilt in dieser Welt nur soviel, als wozu er sich selbst macht.«

Als praktische Anwendung dieses Kniggeschen Satzes ergibt sich für uns die Forderung auf Grund genauer Selbsterkenntnis unsere Vorzüge ins rechte Licht zu setzen, unsere Fehler und Schwächen hingegen nicht ohne Notwendigkeit zu offenbaren. Richtige Selbsterkenntnis soll uns das Bewußtsein unseres eigenen Wertes und unserer Würde geben. Dies ist eines der allerkostbarsten Besitztümer des Menschen, die Grundlage seiner seelischen Gesundheit und Schönheit, die Wurzel seiner inneren Spannkraft und seines Haltes.

Eltern und Erzieher können sich nicht ärger am Glück ihrer Kinder versündigen, als wenn sie deren Selbstbewußtsein zu sehr unterdrücken und ihnen den Glauben an ihren eigenen Wert nehmen. Es soll nicht ungesunder Selbstüberschätzung und dummdreistem Dünkel das Wort geredet werden, aber die Tatsache ist nicht abzuleugnen, daß ein Mangel an Selbstbewußtsein und Selbstvertrauen viel schädlicher für die Entwicklung eines Lebens ist als ein Zuviel in diesem Punkte. Und viel leichter korrigiert das[15] Leben einen Ueberschuß als es einen Mangel ersetzt. Im Grunde verachtet es denjenigen, dem das richtige Bewußtsein seiner Würde fehlt.


Die richtige Selbsteinschätzung unseres Wertes verleiht uns auch die richtige Form der Bescheidenheit. Diese besteht in der Respektierung und Achtung fremder Werte, aber niemals in der Verachtung des eigenen.

Wir sollen stets durchdrungen sein von unserer persönlichen Würde, uns nichts vergeben und uns nicht zu nahe kommen lassen und unsere Vorzüge in schöner Selbstverständlichkeit zeigen. Dieses Benehmen ist ebenso weit entfernt von blöder Schüchternheit als von geschmackloser Prahlerei und dreistem Vordrängen. Letzteres wird uns in guten Gesellschaftskreisen bald unmöglich machen. Aber auch Schüchternheit verzeiht man nur jungen Mädchen und nimmt sie bei gesellschaftlichen Anfängern mit in Kauf. Im übrigen steht sie niedrig im Kurs und wird uns immer einen unbedeutenden Platz anweisen.

Es ist notwendig, daß wir Vertrauen zu uns selbst haben und dies wie eine unsichtbare Kraft auf andere übertragen. Wir müssen zu allererst selbst an unsere Vorzüge glauben, ehe wir dies von anderen erwarten dürfen.

Selbstbewußtsein ist eine gewisse Ruhe und Würde, begründet durch ein gutes Gewissen und die Erkenntnis unseres Wertes und offenbart sich durch sicheres zielbewußtes Auftreten.

Um das richtige Verhältnis zu sich selbst zu gewinnen, braucht man Nachdenklichkeit, Sammlung und oftmaliges Alleinsein. Wenn wir verletzt worden sind,[16] sollen wir durch unsere Haltung anzeigen, was wir mit Worten zur Geltung bringen wollen. Später führt man eine Aussprache herbei. Inzwischen hat man überlegt, ob man mit dem Betreffenden weiter verkehren will oder zu brechen gedenkt.

Bei Verwandten und sehr nahestehenden Personen jedoch empfiehlt es sich, möglichst sofort eine Aussprache herbeizuführen.

Quelle:
Gratiolet, K. (d.i. Struppe, Karin): Schliff und vornehme Lebensart. Naumburg a.S. 1918, S. 14-17.
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