D. Wir sind verheiratet

[111] Es gab eine Zeit, mein lieber Freund, da warst du Kavalier! Ein »gentleman from top to toe«. Du behandeltest jede Frau als Dame. Insbesondere wenn deine Zukünftige dabei war. Ihre Augen glänzten, als du sie einmal in einem überfüllten Restaurant mit einer Entschuldigung ein paar Sekunden stehenließest, nur um einer tablettbeladenen Kellnerin eine klemmende Tür zu öffnen. »Wie aufmerksam er ist!« dachte deine Verlobte. »Wir werden uns gut verstehen. Es soll eine Ehe werden, wie sie die anderen – nicht führen!«

Und wie ist eure Ehe nun tatsächlich geworden?

Natürlich glücklich, brummst du, was sonst? Das soll vermutlich soviel heißen wie: Was bleibt einem weiter übrig. Eine Ehe ist glücklich, solange sie nicht unglücklich ist. Und insofern hast du natürlich recht. Unglücklich ist sie nicht.

Aber fehlt nicht irgend etwas? Etwas, das du vielleicht gar nicht einmal genauer definieren könntest? Jenes ungewisse Etwas, jenes »Je ne sais quoi«?

Du murmelst, wenn ich dich recht verstanden habe, etwas von »naturgewolltem Gleichmaß«. Ist dieses Gleichmaß wirklich so naturgewollt? Hast du nicht zu deinem Teil dazu beigetragen, daß es so wurde?

Als du am ersten Tage nach eurer Hochzeit nach Hause kamst, flogst du in ihren Arm. Am zehnten Tag schieltest du über ihre Schulter hinweg auf die Titelseite des Abendblattes. Am hundertsten Tag knalltest du den Hut auf die Garderobe und zischtest: »Ein blöder Kerl, dieser Huber!«

Und Madame erriet mit weiblichem Instinkt, daß es Krach im Büro gegeben hatte.

Beim ersten gemeinsamen Mittagsmahl nach eurer Hochzeit rücktest du deiner Frau den Stuhl zurecht und sagtest: »Wart einen Augenblick, Liebling, ich bediene dich – du hast sicherlich schrecklich viel zu tun gehabt!« Beim zehnten Mittagsmahl saßst du bereits am Tisch und gebotst mit einem Fingerzeig auf das Radio, das gerade Nachrichten brachte, Schweigen. Beim hundertsten Mittagsmahl stochertest du lustlos im Essen herum und sagtest ungnädig: »Komisch, die vorige Generation hat doch mehr vom Kochen verstanden! Wenn ich so an meine Mutter denke ...«

Und Madame erriet mit weiblichem Instinkt, daß Ehen zwar im Himmel geschlossen, aber auf Erden geführt werden.

[111] Am ersten Abend nach eurer Hochzeit stürztest du, kaum nach Hause gekommen, ins Bad, wuschst dir Gesicht und Hände, reinigtest deine Fingernägel, kämmtest dich sorgfältig, riebst das Gesicht mit Kölnischwasser ein und tratst vor sie hin – strahlend, gut aussehend und gepflegt. Am zehnten Abend bandest du nur noch die Krawatte ab, fuhrst mit der Hand kurz durch das Haar und riefst: »Ich habe einen Mordshunger!« Am hundertsten Abend warfst du dein Jackett lässig auf einen Stuhl, flegeltest dich an den Tisch und starrtest ein wenig ratlos auf deine Hände: »Weiß der Himmel, wo im Büro der viele Dreck herkommt!«

Und Madames Traumgott erhielt immer menschlichere Züge.

Du meinst, lieber Freund, diese Reminiszenzen – wir könnten sie doch noch stundenlang fortsetzen, nicht wahr? – seien lächerlich?

Sie mögen vielleicht so klingen, aber sie sind in Wirklichkeit recht ernst. Sie zeigen nämlich, daß du seinerzeit ein wenig hochgestapelt hast, als du bewußt den Eindruck zu erwecken suchtest, als seist du der Kavalier schlechthin – und nicht nur für einen Tag, eine Woche, einen Monat. Sondern für ein ganzes Leben. Einst war sie die Dame deines Herzens. Heute ist sie deine Frau. Warum verlernen die meisten Männer so schnell, auch in ihrer eigenen Frau eine Dame zu sehen? Eine Dame, die in erster Linie Anspruch darauf hätte, als solche behandelt zu werden.

Ist dieses »naturgewollte Gleichmaß«, das von Jahr zu Jahr weniger Höflichkeit kennt, nicht vielmehr bloße Herzensträgheit? Innere und äußere Bequemlichkeit, entstanden aus dem Bewußtsein des verbrieften Anspruchs auf den anderen?

Sollten wir nicht in einer glücklichen Ehe bestrebt sein, gemeinsam zu leben – auch innerlich? Anteil zu nehmen an den Sorgen und Kümmernissen, aber auch an den Freuden des anderen? Hierin liegt doch erst der tiefe Sinn der ehelichen Gemeinschaft: in der Fähigkeit des Zwiegesprächs, des Um- und Voneinanderwissens. In dem »Talent zur Freundschaft«, wie Nietzsche es formulierte. (Friedrich Schlegel meinte übrigens, eine glückliche Ehe verhalte sich zur Liebe wie ein korrektes Gedicht zu improvisiertem Gesang.)

Ich weiß, lieber Freund, was du jetzt einwenden möchtest. Dazu gehören zwei – das wolltest du doch sagen. Und du hast recht. Aber einer dieser beiden bist du! Und solange du als der eine diese Voraussetzungen nicht erfüllst, laß den anderen, deine Frau, noch aus dem Spiel. Sie wird durch das Gewicht deiner Persönlichkeit ohnehin erdrückt. Sie ist vor allem das Echo, dein Echo. Die Gesetze dieser akustischen Erscheinung kennst du noch von der Schule her. Man redet beispielsweise gegen eine Mauer, und die Worte kommen zurück. Manchmal um den Kopf gekürzt und daher im Sinn ein wenig verändert. (Aus »Pesel« etwa wird »Esel«. »Pesel« ist übrigens keineswegs ein von Physiklehrern zur Echodemonstration [112] erfundenes Wort, sondern bedeutet in Norddeutschland soviel wie »gute Stube«.) Im großen und ganzen aber kommen sie zurück. Deine Gesten und Gebärden, deine Gedankenlosigkeiten und Unhöflichkeiten, deine Streitlust und deine schlechte Laune gehorchen dem gleichen Gesetz. Vergiß nicht, daß deine Frau mehr ist als nur ein Automat, der Zärtlichkeit und Verständnis dann spendet, wenn es dich danach gelüstet. Daß Worte etwas anderes sind als nur Münzen, die zu jeder Stunde ihren Gegenwert verlangen.

Deine Frau hat, als sie mit dir vor den Altar trat und »Ja!« zu eurer Verbindung sagte, im Vertrauen auf dich gehandelt. Sie war bereit, ihr Leben neben deines, vielleicht sogar unter das deine zu stellen. Und sie wird diese Bereitschaft solange haben, wie du ihr mit der annähernd gleichen Aufmerksamkeit, der annähernd gleichen Ausgeglichenheit, der annähernd gleichen Herzlichkeit begegnest, die dir einstmals so überzeugend und selbstverständlich zu sein schienen. (Das Wörtchen »annähernd« mag dezent andeuten, daß ein gewisser »Schwund« als natürlicher Verlust einkalkuliert wurde.) Muß denn wirklich immer stimmen, was uns Männern eine »Signora« einmal nachsagte?

Daß wir uns häufig nur wenig Mühe geben, glücklich zu machen, aber ständig erwarten, glücklich gemacht zu werden?

Daß wir nur Dinge bemerkten, die fehlten, und nie mals solche, die da seien?

Daß wir Rücksichten stets in der Öffentlichkeit, selten aber zu Hause nähmen?

Daß wir Prinzipien nicht aus Überzeugung, sondern aus Bequemlichkeit ritten?

Daß wir nur ein Gedächtnis des Verstandes, nicht aber ein solches des Herzens hätten (und deshalb festliche und Erinnerungstage stets vergäßen)?

Seien wir ehrlich – in diesen Vorwürfen liegt mehr als nur ein Körnchen Wahrheit. Es ist erstaunlich, wie bibelfest wir Männer doch in einem Punkt sind: Fragt man einen Ehemann, ob er aus dem Handgelenk eine beliebige Bibelstelle zitieren könne, dann wird er sofort mit einem flüchtigen Blick auf seine Frau ausrufen: »Er soll dein Herr sein!« (Natürlich gibt es auch Fälle, in denen dieser Ausspruch nur geflüstert wird, weil die Gattin sonst unweigerlich fortführe: »Wie stolz das klingt! Geltung hat's leider nur sehr bedingt ...!« Denn sie kennt sich und zweitens Millöckers Operette »Gasparone« recht gut.)

So, wie viele Männer sich die Deutung der Bibel vorstellen, will der liebe Gott ihr »Herrentum« nicht verstanden wissen. Die körperliche und (soweit vorhanden) geistige Überlegenheit Adams berechtigt keineswegs zur Verwandlung der Ehe in eine militärische Zwei-Personen-Einheit. Sie ist menschliche und moralische Verpflichtung. Und sein »taktisches Verhalten« wird von den Gesetzen des Taktes bestimmt, nicht von denen der Taktik. (Taktik in der Ehe ist streng weibliches Ressort.)

[113] Das starke Geschlecht liebt es bekanntlich, von »Erfahrungen« in der Ehe zu sprechen. Erfahrungen, die ergeben hätten, daß Frauen launisch seien, daß sie häufig nicht verstünden, auf den Mann und seine Sorgen einzugehen, sich ihm anzupassen.

Die Erfahrungen eines Ehemannes, liebe Freunde, sind häufig nichts anderes als die Definitionen der eigenen Fehler!


D. Wir sind verheiratet

Natürlich sehen das nur wenige Männer ein, und kaum einer kommt auf die nächstliegende Idee: Könnte ich nicht etwas mehr tun, um den geheimnisvollen Zauber, der über dem Anfang einer Ehe liegt, ein Leben lang zu erhalten? Ist nicht der Anspruch auf das Recht, ständig der Führende zu sein, dessen Wille Gesetz ist, ein wenig übertrieben? Ist das Verlangen, die Frau müsse in allem klein beigeben, nur für ihn da sein, nicht recht egoistisch? Und wenig gentlemanlike?

Frauen sind von Natur aus anschmiegsam. Und so wollen sie sich ganz in den schützenden Mantel unserer Herrlichkeit begeben, sich darin geborgen fühlen dürfen. Für diesen Schutz liefern sie uns den Gegenwert: ihr immerwährendes Fürunsdasein, ihre Sorge, ihre stete Bereitschaft zur Harmonie und [114] ihr »Talent zur Freundschaft«. Sie tun es aber nur so lange freudig, wie wir ihnen gebührende Anerkennung zollen. Sobald sie das Gefühl haben, daß wir für selbstverständlich halten, was letztlich doch freiwillig, wenn auch liebend gern geschieht, wird ihr seelisches Gleichmaß gestört. Denn Frauen sehen und denken mit dem Herzen. Nichts kränkt eine echte Frau mehr, als wenn der Mann ihre Existenz im Alltag der Ehe einfach zur Kenntnis nimmt, Zufriedenheit durch Schweigen, Unzufriedenheit aber durch lauten Stimmaufwand kundtut. Wie wäre es einmal umgekehrt? Zufriedenheit durch freundlich-anerkennende Worte, Unzufriedenheit durch einen ruhigen, fragenden Verbesserungsvorschlag zum Ausdruck zu bringen?

Wenn er morgens mit Stentorstimme durch die Wohnung ruft: »Ich glaube, ich muß mir künftig auch (!!) noch meine Hemdenknöpfe allein annähen ...«, so ist das natürlich eine Möglichkeit, den Tag zu beginnen. Aber so ziemlich die unglücklichste, die einem Manne einfallen könnte. Wäre es nicht netter, sie statt dessen unter das Kinn zu fassen und mit ernstem Gesicht, aber lächelnden Auges zu fragen: »Sag mal, mein Liebling, ich kann mich doch in meiner Stellung nicht der Umwelt als Halbakt präsentieren ...!«

Dieser und ähnlicher Wege gibt es unzählige.

Vielleicht probieren wir es einmal sofort, ihr ein wenig verbindlicher, liebevoller, herzlicher, wärmer entgegenzukommen. Ihr abends ein Sträußchen für zwanzig Pfennig oder ein gefülltes Schokoladenei mitzubringen. Etwa mit den Worten: »Soll kein Geschenk sein – nur so ...« Vielleicht fragen wir sie getrost einmal: »Sag mal, wie machst du das eigentlich, daß der häusliche Laden immer so klappt ...?« Oder wir wundern uns: »Erstaunlich, wie unter deinen Händen die mickrigsten Pflanzen gedeihen ...«

Auch hier sind dem Einfallsreichtum des scharfen, originellen, funkelnden männlichen Verstandes keine Grenzen gesetzt.

All das gilt natürlich in verstärktem Maße, wenn die Frau ebenfalls berufstätig ist. Denn dann hat sie praktisch zwei Berufe, den außerhäuslichen und den der Hausfrau. Und ihr habt schon gar keinen Grund mehr, auf den Lorbeeren eures männlichen Alltags auszuruhen!


Keine Perle, Freunde, fällt uns aus der Krone, wenn wir


rasch einen Eimer Kohlen aus dem Keller holen,

den Tisch decken, während sie das Essen bereitet,

die Schuhe zuweilen auch selbst putzen,

auch einmal das Geschirr abtrocknen.

Fragt einmal amerikanische Ehemänner ...


[115] Ja, und wenn wir uns jetzt einmal umschauen, dann stellen wir fest, daß wir uns fast ausschließlich über den männlichen »Beitrag« zur harmonischen Ehe unterhalten haben. Das heißt keinesfalls, Frauen sollten nicht auch gewisse bewährte Spielregeln einhalten. Aber das tut Eva ohnehin, oder? Sie ist von Natur aus weicher, zarter, anschmiegsamer. Sie ist die geschickte Diplomatin, die den kleinen und großen ehelichen Klippen sorgsam ausweicht. Steuermann auf großer Lebensfahrt.

Wenn die Wogen hoch gehen, ist sie es, die irgendwo ein Fäßchen beruhigenden Öles in Reserve hat. Sie bringt für all das Verständnis auf, was an Männern zuweilen unverständlich erscheint.


Eva bleibt Eva, denn sie weiß, daß Männer ...


Schweigen für Intelligenz halten (womit sie dann und wann recht haben),


den Leitartikel der Tageszeitung interessanter finden als den Dienstmädchenkrach im oberen Stockwerk (jeder Mann ist ein verhinderter Politiker),


durchaus umgänglich sind, wenn man sie von Zeit zu Zeit in Ruhe läßt (Männer haben häufig »Gedanken«, in denen man sie nicht stören soll),


grundsätzlich keine Kontrolle ihrer Taschen lieben (Bleistiftstummel sind männliche Requisiten),


unausgesprochene Wünsche lieber erfüllen als hartnäckig vorgetragene (nichts geht über Entdeckerfreude),


sich mit der Milchkanne in der Hand albern vorkommen (bei Bier ist das etwas anderes),


auch von der eigenen Frau bemuttert werden wollen (was andere natürlich nicht merken dürfen),


schlampige Frauen nicht schätzen (unrasiertes Kinn dagegen ist »männlich«),


sehr wohl um die Möglichkeiten eines lustigen Kopftuches wissen (man kann mit seiner Hilfe beispielsweise die ernüchternde Wirkung von Lockenwicklern im Keime ersticken),


gern Kegeln gehen, Skat oder Billard spielen (dann können sie sich wenigstens einmal das Jackett ausziehen),


liebend gern allein Wildwest-Filme sehen (und im Geiste über die Prärie reiten),


die Frage »Wohin gehst du?« nicht leiden können (und deshalb grundsätzlich notgelogen beantworten),


es nicht ungern sehen, wenn sie auch anderen Frauen gefallen (der Hang zur Selbstkontrolle),


[116] dagegen gern darauf verzichten können, wenn die eigene Frau andere Männer interessant findet (sie haben eine ausgesprochene Aversion gegen unlauteren Wettbewerb),


den Ausruf »Das wußte ich vorher!« speziell bei Mißerfolgen gar nicht schätzen (weise Voraussicht ist männliches Privileg),


Logik als ihre ureigene Domäne beanspruchen (und deshalb nicht mit eigenen Waffen geschlagen werden wollen),


gern die ordnende Hand der Frau spüren – nur nicht auf ihrem Schreibtisch (»genius at work!«),


aber trotzdem


ganz passable Erzeugnisse der Natur sind (was letztlich für die Frauen spricht).


Steuerklasse III: Höchste Erfüllung wird eine Ehe dann finden, wenn Kinder da sind. Denn die Ehe ist ja, nach Nietzsche, »der Wille, zu zweien das eine zu schaffen, das mehr ist als die, die es schufen«.

Die bisherigen Interessen, vielleicht noch bis zu einem gewissen Grade nach außen gewandt, richten sich auf den Kronprinzen oder die Kronprinzessin. Das eheliche Leben verinnerlicht sich, fordert Umstellung, Opfer und Rücksichtnahme. Wenn beide Ehegatten bislang sich selbst und ihren Neigungen leben konnten, wird die Gestaltung des Alltags künftig doch vorwiegend von dem jungen Sproß bestimmt sein.

Mit seinem Einzug in die Welt hat das eigentliche Familienleben begonnen.

Es bringt ein hohes Maß an Verantwortung. Doch die Freude ist um ein Vielfaches größer als die Last. Wer je ein junges Geschöpf von eigenem Fleisch und Blut in seiner Obhut aufwachsen sah, wird gern und freudig all die Freiheiten opfern, die er hatte, als er noch allein war.

Mit jedem Tag, den ein Kind lebt, mit jedem Schritt, den es macht, mit jedem Wort, das es lernt, erfüllt sich das Leben der Eltern um ein weiteres Maß. Und wer da glaubt, das eigene Leben nicht zugunsten seines Kindes einschränken und umstellen zu können, der ist nicht geboren für die höchste Freude, die eine weise Vorsehung schuf.

Drei Dinge sind es, die über der Erziehung eines jungen Menschen stehen sollten: die Pflege des Anstands und der guten Sitten, die Weckung des Herzens und die Bildung des Geistes. Hänschen lernt leichter als Hans. Und lernt spielend, was ihm am guten Beispiel vorgelebt wird.

[117] Ein Kind erziehen heißt, die in ihm schlummernden Anlagen wecken. Diese Anlagen können zuweilen etwas tiefer liegen und müssen dann mit um so größerer Sorgfalt freigelegt werden. Ungezogene Kinder sind fast immer Produkte mangelnder erzieherischer Fähigkeiten und nur selten die Laune einer ungnädigen Natur.

Lob erreicht mehr als Tadel, Güte mehr als Strenge, Verständnis mehr als Ungeduld.

»Kinder sind auch Menschen« – diese Erkenntnis blieb der modernen Psychologie vorbehalten. Je früher wir den »Menschen im Kinde« für uns gewinnen, um so leichter wird es sich lenken lassen. Es kann innerlich frei und unbeschwert sein, ohne Furcht heranwachsen und sich doch gern unserer weisen und weisenden Hand fügen – wenn wir es verstehen, ihm Vorbild zu sein.

Die Erziehung eines Kindes ist um so leichter, je früher sie beginnt. (Wer da bezweifeln sollte, daß ein Säugling schon Verstand hätte, der fahre den Junior vom ersten Schrei an spazieren, nehme ihn auf den Arm oder schaukle ihn – und höre dann plötzlich mit dieser lieben Gewohnheit auf. Er wird sich wundern, wie laut so ein kleines Menschlein bereits protestieren kann.)

Die kleinen und die großen Pflichten des guten Tons lassen sich mühelos schon frühzeitig vermitteln. Vom einfachen Bitte und Danke über Begrüßung und Verabschiedung bis zur Verbeugung oder einem Knicks gegenüber Erwachsenen. Von der rechtzeitigen Gewöhnung an kleine Handreichungen über die Höflichkeit gegenüber großen Leuten bis zu den ersten Tischmanieren. Von der körperlichen Sauberkeit über die absolute Ehrlichkeit bis zur Erkenntnis von Gut und Böse.

Trotz dieser behutsamen und doch bestimmten Lenkung darf dem Kinde nichts von seiner Freiheit verlorengehen. Die meisten von uns haben das Glück, sich unbeschwerter, heiterer Jugendjahre erinnern zu können. Bescheren wir unseren Kindern einen gleich glücklichen Lebensbeginn! Wenn wir es verstehen, mit ihnen jung zu bleiben, ihnen nicht nur weise Eltern, sondern auch übermütige Freunde zu sein, werden sie uns gern auf dem Weg ins Leben folgen. Sie werden das nötige Verständnis für die Gesetzmäßigkeit der Welt im Spiel leichter aufzubringen lernen als unter nüchternem Zwang. Und sie werden sich dieser Gesetzmäßigkeit gern und willig unterordnen, wenn wir ihnen diese Ordnung täglich vorleben.

Dazu gehören gewisse Regeln.


So sollen Eltern ...


nicht in Gegenwart ihrer Kinder streiten,


im Hause die gleiche korrekte Sprache pflegen, die ihren Kindern in der Schule beigebracht wird,


[118] auch den Kindern gegenüber höflich sein (« ...gib mir bitte die Zeitung herüber!«),


sich von ihren Kindern auch nicht bei der geringsten Unwahrheit ertappen lassen,


an sich die gleiche Gepflegtheit und Sauberkeit demonstrieren, die sie von ihren Kindern verlangen,


ihren Kindern die kleinen und großen Höflichkeiten stets vorleben,


auf die gleichen Tischmanieren achten, die ihren Kindern später das gesellschaftliche Fortkommen erleichtern,


in Gegenwart der Kinder nie abfällig über Dritte reden,


unumgängliche Strafen in normalen Grenzen halten,


bei der Auswahl ihrer Ausdrücke, sowohl in der Unterhaltung als auch während einer Strafpredigt, darauf bedacht sein, daß der Wortschatz ihrer Kin der nicht um unschöne oder gar ordinäre Schimpfworte bereichert wird,


für die kleinen Sorgen und Nöte ihrer Kinder stets Zeit haben.


Noch eines: Auch Eltern sollten zu gegebener Zeit schweigen und ihr Wissen um kleine Unarten der Kinder für sich behalten können. Mir fällt da eine Geschichte ein, die mir vor einigen Jahren mit meinen beiden Söhnen, damals vier- und sechsjährig, passierte: Sie lagen abends in ihren Betten, und ich hatte ihnen zum soundsovielten Male vom Rotkäppchen erzählt. Diesmal in moderner Fassung. Rotkäppchen fuhr mit einem Fahrrad durch den Wald. Klingelte fröhlich vor sich hin. (Wundert sich der Jüngere: »Kam denn da wer?«) Reifenpanne. (Zwischenfrage des Älteren: »Womit hat sie den Reifen geflickt?«) Neugieriges Eichhörnchen. Elster nascht aus vollem Körbchen. (»Du – das ist aber gemein!«) Und so weiter – über Fauna, Flora und Technik bis zu der durch den Förster beim bösen Wolf vorgenommenen Laparatomie. Jubelnde Begeisterung. Inständige Bitten um Fortsetzung. Meinerseits Hinweis auf Uhrzeit. »Gute Nacht, ihr Nasenbären!« (Seit drei Jahren stets gleichbleibender Lacherfolg.) Licht aus, Kinderzimmertür hinter mir zu. Enttäuschung und schwacher Protest.

Und ich beschließe, mir einmal anzuhören, was die beiden sich jetzt erzählen. Bleibe stehen und lausche. Nach längerem Schweigen sagt Eckart, der Ältere: »Du, Wölfi, ich sag' dir mal was! Wenn Pappi jetzt nicht gleich kommt und noch ein Märchen erzählt, dann machen wir mitten in die Stube!« Und Wolfgang jubelt: »Au ja – und lauter kleine Häufchen!«

Während ich mich bemühte, nicht laut hinauszuprusten, war ich doch einigermaßen neugierig, ob sie die schreckliche Drohung wahrmachen würden. Natürlich passierte nichts. Sie blieben vergnügt in ihren Betten und kicherten sich angesichts der bloßen Vorstellung dieser originellen Rache in den Schlaf. (Und ich [119] glaube nicht, daß sie irgendwelchen charakterlichen Schaden genommen haben, obwohl sie bis zum heutigen Tage noch nicht wissen, daß ich ihre nicht ganz stubenreinen Pläne belauschte.)

Eltern sollten ihren Kindern stets geliebte und verehrte, vorbildliche und verständnisvolle Freunde sein.


Kinder wollen ihre Eltern immer um sich wissen. Das Elternhaus ist der Hort, die gemütliche Höhle, vor der man spielt und die Zuflucht gewährt, wenn es gefährlich wird. Und es kommt eine Zeit, da die Kinder die Eltern dringend brauchen, auch wenn sie sich dessen kaum bewußt sind. Die Jahre gehen im Fluge dahin, und eines Tages ist es so weit: Söhne wollen Männer sein. Da kommt die große Unruhe. Die Natur meldet sich. Geheimnisse tauchen auf. Rätsel drängen nach Lösung. Das Leben stellt Fragen.

In dieser Zeit merkt der junge Mensch, daß er zum Manne reift. Er schwankt zwischen Stolz, Kraft und Unsicherheit. Er kommt in die Flegeljahre. Die Maße stimmen nicht mehr, die äußeren nicht und die inneren noch weniger. Er weiß es und kann es doch nicht ändern. Er möchte Mann sein und sehnt sich doch noch ein wenig zurück in das Kinderparadies. Doch diese Tür schließt sich langsam, wie von unsichtbarer Hand bewegt. Hinter ihr flüstert es wie einst in den Kindermärchen, vor ihr lockt es geheimnisvoll und neu. Und ratlos tastet sich der junge Mensch vor.

In dieser Zeit sollte sich jeder Vater der eigenen Sorgen erinnern, die auch nicht anders waren. Jetzt kann er seinem Jungen verständnisvoller, väterlicher Freund sein. Nachsichtig vor allem, denn junger Wein will gären. Unwahrheiten sind vielleicht nur Übertreibungen, Flegeleien nur jugendliches Ungestüm, Rauheiten nichts als überschäumendes Temperament.

Hier gilt es, mit der Weisheit des Älteren zu unterscheiden zwischen den unbedenklichen Erscheinungen einer natürlichen Entwicklungsstufe und ernsten charakterlichen Schwächen. Daß Pythagoras gegenüber Cowboystars, Boxweltmeistern und Rennfahrern vorübergehend in den Hintergrund tritt, ist nicht tragisch. Erst wenn wirklich bedenkliche Charakterzüge auftauchen, wenn sich der jugendlich-großzügige Umgang mit der Wahrheit zur Unehrlichkeit, zur Verlogenheit entwickelt, wenn unbekümmertes Spiel in Derbheit, in Roheit ausartet, dann allerdings ist es an der Zeit, die Zügel ein wenig straffer zu nehmen. Doch immer noch möglichst unmerklich! Junge Pferde scheuen leicht! So wie ein guter Reiter auch das temperamentvollste Pferd ohne Kandare reiten kann, sollte auch das temperamentvollste Kind bei einigem Geschick lediglich mit der Trense gelenkt werden können.

Es ist in diesem jugendlichen Stadium der Aufgeschlossenheit nicht allzu schwer, einen jungen Menschen für Dinge zu interessieren, die ihn auf dem gewünschten [120] Geleise halten. Da gibt es Bücher, deren Lektüre man ihm ermöglicht. Da gibt es zahlreiche Sportarten, die man ihm erschließen kann. Da läßt sich sein Freundeskreis durch häusliche Einladungen ein wenig sichten und kontrollieren. Pfadfindervereinigungen unter Leitung zuverlässiger Erwachsener können ihnen nicht nur die Schönheiten der Natur und die Weite des Landes, sondern auch den Sinn für gesunde Einordnung in eine Gemeinschaft erschließen. Auch der männlich-kindliche Hang zu besonderen Spielen, zu Basteleien und handwerklicher Betätigung kann in dieser Zeit besonders gefördert werden.

So wird man dem heranwachsenden Knaben durch Verständnis, Güte und wache Aufgeschlossenheit dieses Stadium ein wenig erleichtern helfen.

Besondere Aufmerksamkeit verdient das so gefürchtete, heikle Problem der Aufklärung. Hier können Väter oder väterliche Freunde bei dem heranwachsenden Jungen die gerade heute so große Gefahr des verderblichen äußeren Einflusses bannen. Was hier zu sagen ist, muß rechtzeitig, offen und ohne falsche Scham gesagt werden. Namhafte Psychologen haben übereinstimmend festgestellt, daß die Aufklärung über das Mysterium des Werdens so früh wie möglich erfolgen sollte. Und die Praxis zeigt immer wieder, daß das rechte Wort zur rechten Zeit den unheilvollen Einflüsterungen älterer »Freunde« viel von ihren Gefahren nimmt. Wenn der Vater seinen Sohn mit diesem oft so ängstlich gemiedenen Thema vertraut macht, ehe Dritte es erstmals mit dem schwülen Hauch des Pikanten umgeben können, wird sich die Wandlung des Kindes zum Manne völlig natürlich und unbeschwert und innerlich wie äußerlich ungefährdet vollziehen. Wer als Vater vor dieser Pflicht zurückschreckt, darf sich später nicht wundern, wenn der junge Mensch aus den scheinbar unlöslichen Nöten dieser Sturm- und Drangzeit körperliche und seelische Schäden zurückbehält. Vor diesen Schäden gilt es das heranwachsende Kind an der Schwelle des Lebens zu bewahren: durch ernste Offenheit auch den letzten Fragen gegenüber, durch nüchterne und doch eindringliche Aufzeigung der Gefahren, die in der Versuchung liegen, durch weisen Appell an die Gesetze der Vernunft und der Moral – niemals aber durch Drohungen oder durch unklares Gerede von »Sünde«, »Unreinheit« und anderen Allgemeinplätzen, die das körperliche und seelische Dilemma vergrößern, statt es zu beseitigen.


Die gleiche Aufgabe, die dem Vater den Söhnen gegenüber erwächst, fällt der Mutter bei den Töchtern zu, denn Töchter werden flügge. So wie der Vater Freund seines Sohnes sein muß, so sollte jede Mutter beste und intimste Freundin ihrer Tochter werden. Wenn beim heranwachsenden Mädchen die Zeit der tiefgreifenden, teilweise beunruhigenden körperlichen Veränderungen naht, wenn unbestimmte Sehnsüchte die Gefühle verwirren, dann steht die Mutter zum zweiten Male vor einer großen Stunde. Dann gestaltet ihr Wort, ihr mütterlicher Instinkt den späteren Lebensweg des jungen Mädchens. Auch hier gilt es, anderen zuvorzukommen.

[121] Keine Mutter möge behaupten, daß die Zeiten heute anders seien als früher und die weibliche heranwachsende Jugend den Rat der »Alten« nicht mehr benötige, ja vielleicht sogar grundsätzlich ablehne. Eine bequeme Ansicht, die den Vorzug hat, die Mutter von einer ihrer größten und verantwortungsvollsten Pflichten zu befreien. Aber – wie töricht ist sie doch!


D. Wir sind verheiratet

Haben nicht die Nachkriegsjahre mit erschreckender Deutlichkeit bewiesen, wohin die Jugend gerät, wenn die gütigführende Hand fehlt? Sind nicht das moralische [122] Chaos, die Vielzahl unglücklicher Ehen und die erschreckend hohe Zahl von Scheidungen warnende Beispiele? Diese Erscheinungen sind nicht zuletzt die Folge einer zeitweise mangelnden mütterlichen Führung, die gerade im entscheidenden Lebensabschnitt der weiblichen Jugend fehlte. Da gab es weder Rat noch Warnung, weder Vorbild noch Richtung. Die Jugend suchte den rechten Weg, doch nur selten fand sich jemand, der ihn ihr gewiesen hätte. Ratlosigkeit wurde bald zur Sorglosigkeit, gegenüber dem Leben ebenso wie in der Partnerwahl.

Heute schon arbeiten verantwortungsbewußte kirchliche und weltliche Kreise am Wiederaufbau dessen, was auf dem Gebiete familiärer, ethischer und moralischer Werte zusammenstürzte. Ihr Mütter könnt diese Arbeit unterstützen, und wenn ihr es klug und freudig tut, werdet ihr eines Tages mitgeholfen haben an der Errichtung des großen, massiven Gebäudes einer wiedererstandenen gesellschaftlichen und moralischen Ordnung.

Lehrt eure Töchter ohne falsche Scham die Gefahren des Lebens sehen, die den weiblichen Wesen nun einmal in höherem Maße drohen als den männlichen. Eure Enkel werden es euch danken.

Das heißt nicht, daß der Schulkamerad den Spuren eurer Fünfzehnjährigen nicht errötend folgen dürfte – sobald auch er wieder gelernt hat zu erröten. Das bedeutet auch nicht, daß die Sechzehnjährige nicht ihren jungen Deutschlehrer anhimmeln sollte – »Romeo und Julia« verliert erheblich in der Interpretation eines Sechzigjährigen.

Haltet eure Töchter mit der starken Kraft des mütterlichen Herzens »under control«, nicht mit der unpersönlichen Strenge der Erziehungsberechtigten. Ihr habt es in einem Punkte leichter als die Väter mit den Söhnen: Töchter gehen euch im Hause zur Hand, wenn ihr es versteht, ihnen klarzumachen, daß sie in diesem frühzeitig begonnenen Hausfrauenstudium Kenntnisse sammeln, die später stets Anklang finden werden. Und wenn ihr sie hinausgehen laßt zu Sport und Spiel, Tanz und vielleicht auch Flirt, dann tut es nicht, ohne ihnen eine Erkenntnis vermittelt zu haben: daß guter Ruf und die aus natürlicher Zurückhaltung geborene mangelnde Erfahrung mit Männern keineswegs ein Manko, sondern, heute wie einst, wertvollstes Kapital eines jungen Mädchens sind.

Und damit wären wir beinahe am Ende dieser Betrachtungen, die genau so entscheidenden Einfluß auf die korrekte eigene Welt haben wie vieles andere. Wir sagten: beinahe. Denn ein Hinweis sei noch gestattet, daß nämlich auch Väter Töchtern gegenüber Pflichten haben. Sie entstehen aus der Erkenntnis, daß Töchter in ihren Vätern nur allzugern das Idealbild des Mannes schlechthin sehen möchten. Je mehr es der Vater versteht, sich selbst mit jenen Zügen auszustatten, [123] die er später einmal von seinem künftigen Schwiegersohn erhofft, um so leichter wird er auch seine Tochter unmerklich leiten können. Und so wäre es gar keine schlechte Idee, wenn sich der Herr Papa einmal aufraffen und selbst mit seiner flüggen Tochter bummeln gehen würde, statt dies allzu sorglos Dritten zu überlassen und etwas von unreifem Gemüse zu murmeln. Da das Leben häufig eindringlichen Anschauungsunterricht erteilt, hätte er hier eine willkommene Gelegenheit, seiner heranwachsenden Tochter rechtzeitig besinnliche Kommentare zu geben, die andernfalls eines Tages zu spät kommen könnten.

Quelle:
Graudenz, Karlheinz: Das Buch der Etikette. Marbach am Neckar 1956, S. 111-124.
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