An Stelle eines Nachwortes

Vom Zeremoniell über die Etikette zum harmonischen Alltag

[498] Das höfische Zeremoniell – Inbegriff von Gebräuchen, die bei feierlichen Gelegenheiten des öffentlichen Lebens befolgt werden – ist Tausende von Jahren alt. Es entwickelte sich im Altertum aus den Gepflogenheiten, die bei Beginn und Beendigung von Kriegen, bei Wahl und Ausrufung eines Herrschers, bei dessen Vermählung und schließlich bei seiner Bestattung üblich waren. Es entstand ebenso aus den Gebräuchen, die sich beim Empfang der Abgesandten fremder Herrscher, bei offiziellen Zusammenkünften und öffentlichen Veranstaltungen entwickelt hatten.

Schon die Phönizier beobachteten ein feststehendes Zeremoniell. Die griechischen Stadtstaaten entsandten untereinander bereits im 5. Jahrhundert vor Christus offizielle Missionen. Ebenso waren die Ostgoten an den Höfen ihrer Nachbarländer, vor allem am Kaiserhof des Oströmischen Reiches diplomatisch vertreten.

Nach dem Beispiel des byzantinischen Hofes verbreitete sich das Zeremoniell in Europa. Die Römischen Kaiser deutscher Nation pflegten es, und unter Karl V., der zugleich Herzog von Burgund und König von Spanien war, wurde es weiter gesteigert. Seinen Höhepunkt erreichte es in dem aus dem burgundischen hervorgegangenen spanischen Hofzeremoniell unter Philipp II., dem Sohne Karls V.

In Frankreich herrschte das komplizierteste Zeremoniell am Hofe Ludwigs XIV., des Sonnenkönigs, unter dessen Regierung französische Sprache und Kultur in Europa tonangebend wurden. Langsam verflachte es, bis Napoleon I. die einstige Strenge wiederherstellte.

Nicht unerwähnt darf das bis ins einzelne festgelegte päpstliche Zeremoniell bleiben. Sehr strenge zeremonielle Bräuche wurden auch im Fernen Osten und ganz besonders im alten China eingehalten.

[499] Die eisernen Vorschriften, die das Leben der unter dem Zwange des Zeremoniells stehenden Würdenträger von der Geburt bis zum Tode einengten, sind sicherlich von vielen der Betroffenen als lästig empfunden worden. So war es nur natürlich, daß sich im Laufe der Jahrhunderte das strenge Zeremoniell an allen Höfen zu lockern begann.

In Deutschland war bereits nach dem ersten Weltkrieg eine merkliche Vereinfachung spürbar. Man repräsentierte die Republik würdig, aber bescheiden. Und die Repräsentation nach dem zweiten Weltkrieg ist noch einfacher geworden.

Auch das schriftliche, das sogenannte Kanzleizeremoniell, hat im Laufe der Jahrhunderte mehr und mehr seinen schwülstigen Ton verloren. Dennoch besteht auch hier noch Traditionsgebundenheit, ähneln doch z.B. die Beglaubigungsschreiben – mit denen Staatsoberhäupter ihre diplomatischen Vertreter bei den Staatsoberhäuptern anderer Länder akkreditieren – jenen, die Cassiodorus, römischer Senator und Berater des Ostgotenkönigs Theoderich, vor 1500 Jahren entwarf.

Die Etikette, über die wir uns nun so lange unterhalten haben, ist eine Verwandte des Zeremoniells. Sie ist, wenn man so sagen will, die Lehre von der Verkehrsform. Sie ist für die Allgemeinheit bestimmt. Und für den Alltag. Sie hat längst nicht mehr ihre einstige Starre. Mit wenigen Ausnahmen ist sie der neuen Zeit, unserem Alltag, angepaßt. Sie belastet nicht. Statt dessen erleichtert sie unendlich viel und macht das Miteinanderleben angenehmer.

Nicht zuletzt aber öffnet sie die Herzen.

Zeremonialfehler konnten einst schwerwiegende Folgen haben. Wer weiß, ob Kriemhilde und Brunhilde auf der Kirchentreppe zu Worms in Streit geraten wären, wenn die Protokollabteilung Siegfried von Xantens aufgepaßt hätte. Dieser Streit erst führte zu dem berühmten und folgenschweren Zusammenstoß zwischen den beiden Königinnen, in deren Verlauf Kriemhilde ihrer Schwägerin aufschlußreiche Einzelheiten über die tatsächlichen Hintergründe jenes sportlichen Zweikampfes verriet, der mit Brunhildes Niederlage endete. Bekanntlich wähnte sich die wehrhafte Isländerin von Gunther geschlagen, während der tatsächliche Sieger der getarnte Siegfried war. Daraufhin mußte Siegfried sterben. Kriemhild schwor Rache. Burgunder und Hunnen vernichteten sich gegenseitig. Und kein Mensch weiß, wo der Nibelungenschatz liegt, denn Hagen verlor zwar den Kopf, aber kein Wort über sein Geheimnis.

Und all das, weil sich zwei hochmögende Damen vor der Kirche nicht über die Rangfolge einigen konnten.

Quelle:
Graudenz, Karlheinz: Das Buch der Etikette. Marbach am Neckar 1956, S. 498-500.
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