Die politische Stärke der Sozialdemokratie.

[12] Und endlich ein letztes Unterpfand dieses endlichen Sieges durch sie sind ihre bisher errungenen Erfolge. Wenn man denkt, eine Partei mit diesem schwindelnd kühnem Ideal, mit einem wissenschaftlichen Apparat, dessen Handhabung die höchsten geistigen Anforderungen stellt, mit einem Menschenmaterial, das, geschichtlich angesehen, nicht auf den Höhen, sondern nur erst in den Niederungen der Kultur zu leben im Stande ist, Gegnern gegenüber, die über alle Macht des Geistes, des Geldes, politischer Vorrechte, der Tradition, der geheiligten Ueberlieferung verfügen, – diese Partei, allein auf sich gestellt, vor fünfunddreißig Jahren ein winziges, armes, mehr verspottetes als verfolgtes Häuflein und heute die stärkste Partei Deutschlands, die Ruferin im politischen Kampf, die Furcht der Feinde, die innerlich vor ihr zittern. Damals eine Partei mit noch nicht 50000, jetzt eine solche mit über 2 Millionen Stimmen. Damals ohne Geld und ohne jegliche finanzielle Unterstützung, jetzt mit einem Jahresbudget von 340000 Mark Einnahme und 243000 Mark Ausgabe, mit einem Parteivermögen, das die Existenz der Bewegung unbedingt sichert. Vor dreiundzwanzig Jahren aller ihrer Gewerkschaften beraubt, heute mit einer gewerkschaftlichen Organisation von beinahe 500000 Mann, der Elite [12] der deutschen Arbeiterschaft. Vor dreiundzwanzig Jahren ohne Presse, heute im Besitz von 87 politischen und 58 gewerkschaftlichen Blättern. Vor dreiundzwanzig Jahren in ihrer Organisation zersprengt, heute eine Organisation, die vielleicht nur noch durch die des modernen deutschen Militarismus an Straffheit und innerer Haltbarkeit übertroffen wird. Und diese deutsche Sozialdemokratie von heute Hand in Hand mit den Schwesterparteien aller anderen Kulturländer; auch diese im Vormarsch, in schneller Aufwärtsentwicklung. Gerade das letzte Jahr ist dessen Zeuge. In Frankreich endliche und endgiltige Einigung aller sozialistischen Strömungen in eine große geschlossene Partei; in Oesterreich die Sozialdemokratie die einzige Partei, die noch weiß, was sie will, die einzige nationale Partei auch, die nicht an der Zerstörung, sondern an der Erhaltung und Neuschöpfung Oesterreichs arbeitet; in Dänemark der Sieg der Proletarier über das Unternehmerthum, das seine Organisationen vernichten wollte; in Belgien und Italien der Sieg über die wahlrechtsverschlechternde Reaktion; in England endlich der Eintritt der gewerkschaftlichen Arbeiterschaft in selbständige politische Bahnen – wohin man blickt, Sieg, Vorwärtsdrängen, starkes und doch organisches Wachsthum der Sozialdemokratie. Wahrlich, sie allein ist die Macht, die das, ganz gleich ob christlich oder egoistisch gewollte, Endziel einer solidarischen Gesellschaft aller Menschen zu erreichen vermag. Und weil ich Das sehe, muß ich, der ich das Endziel will, auch sie wollen, die den Weg dahin führt. Ich muß auch deshalb ihr Anhänger, muß Sozialdemokrat werden.

Quelle:
Göhre, Paul: Wie ein Pfarrer Sozialdemokrat wurde. Eine Rede von Paul Göhre, Pfarrer a.D., Berlin 1900, S. 12-13.
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