Vorrede.

Als Thier ward der Mensch hülfloser erschaffen, als alle übrigen Thiere. Er hat keine angebornen Waffen wie der Stier zur Vertheidigung, keine dem Feinde überlegene Schnelligkeit wie das Reh, keine Flügel, keine Schwimmfüsse, keine Flossen – keine der Gewalt undurchdringliche Schale wie die Schildkröte, keine von der Natur dargebotenen Schlupfwinkel, wie tausend Insekten und Würmern zur Sicherheit offen stehen, keine den Feind entfernende physische Eigenschaft, die den Igel und die Zitterroche furchtbar machen, nicht den Stachel der[5] Bremse oder ein Viperngift am Zahne – allen Anfällen feindseliger Thiere ist er blosgestellt, wehrlos. Auch der Uebermacht der Elemente und der Meteore hat er als Thier nichts entgegen zu setzen. Ihn deckt gegen die Fluthen nicht das glänzende Haar der Robbe, nicht die dichte, fette Feder der Ente, nicht das glatte Schild der Wasserkäfer; sein gegen das Wasser nur um eine Kleinigkeit leichterer Körper schwimmt unbehülflicher, als der keines andern vierfüssigen Thieres und mit naher Todesgefahr. Ihn schützt nicht wie den Eisbär oder den Eidervogel eine dem Boreas undurchdringliche Decke. Neugeboren weiss das Lamm die Euter seiner Mutter aufzusuchen, aber der schwache Säugling müsste verschmachten, wenn seiner Mutter Brust ihm nicht entgegen käme. Nirgends wo er geboren ward, schuf die Natur seine Nahrung schon zubereitet ihm entgegen, wie dem Dasypus die Ameisen, dem Samarmog die Heuschrecken, der Schlupfwespe die Raupen oder der Biene den geöffneten Becher der Blumen. Weit zahlreichern Krankheiten ist der Mensch unterworfen als die Thiere, denen gegen diese unsichtbaren Feinde des Lebens eine geheime Hülfswissenschaft angeboren ward, der Instinkt, welcher dem Menschen fehlt. Der[6] Mensch nur allein entwindet sich mühsam seiner Mutter Schoosse, weich, zart, nackt, ohne Wehre, hülflos und entblösst von allem, was sein Daseyn auch nur erträglich machen könnte, entblösst von allem, womit die Natur selbst den Wurm im Staube reichlich zum frohen Leben ausstattete.

Wo ist die Güte des Schöpfers, die den Menschen, und nur ihn allein unter allen Thieren der Erde in den Bedürfnissen des Lebens enterben konnte?

Siehe, der Urquell der Liebe enterbte im Menschen nur seine Thierheit, um ihn desto reicher mit dem Funken der Gottheit, einem Geiste auszustatten, welcher dem Menschen die Fülle aller Bedürfnisse und alles erdenklichen Wohlseyns aus sich selbst hervorbringe, und aus sich selbst die namenlosen Vorzüge entwickele, welche den Erdensohn über alles, was da lebet, emporheben – einem Geiste, welcher, selbst unvernichtbar, auch seiner Hülle, der zerbrechlichen Thierheit stärkere Mittel zur Erhaltung, zum Schutze, zur Vertheidigung, zum Wohlbehagen zu erschaffen befähigt ist, als keine der begünstigtsten Kreaturen unmittelbar von der Natur erhalten zu haben sich rühmen kann.

Auf diese Energie des menschlichen Geistes,[7] Hülfsmittel zu erfinden, hatte der Vater der Menschen vorzüglich gerechnet bei Abwendung der Uebel und Störungen, die den zarten Organism des Menschen befallen würden.

Nur klein und sehr beschränkt sollte die Selbsthülfe seyn, die sich der Körper allein zur Entfernung der Krankheiten leisten könnte, damit der menschliche Geist desto mehr angetrieben würde, würksamere Hülfskräfte auszuspähen und zur Heilung anwenden zu lernen, als der Menschenschöpfer in das organische Gebilde allein zu legen für gut fand.

Nicht was die rohe Natur darbietet, sollte die Gränze der Abhülfe unsrer Bedürfnisse bleiben; nein, unser Geist sollte sie unbestimmbar weit zu unserm vollen Wohlbehagen erweitern können.

So bot er uns Aehren voll Getreidekörner aus dem Schoosse der Erde an, nicht um sie roh und ungesund zu kauen und zu verschlingen, sondern um sie dienlich zu unserer Ernährung, enthülset, zerrieben, von allem Schädlichen und Arzneilichen durch Gährung und die Hitze der Oefen befreit und in Brod verwandelt geniessen zu können, als ein durch die Vervollkommungskraft unsers Geistes veredeltes, und nun erst[8] unschädlich nährendes Produkt. Der Blitz tödtete seit Erschaffung der Welt Thiere und Menschen; aber der Weltenschöpfer wollte, dass der Geist des Menschen, was er in den neuern Zeiten nun auch that, etwas erfände, wodurch das Feuer vom Himmel abgehalten würde, seine Wohnungen zu treffen – er sollte es an kühn emporgerichteten Metallstangen herab, unschädlich zur Erde leiten. Die in Berge aufgethürmten Wogen des erzürnten Meeres drohen, sein niederes Fahrzeug zu bedecken, und – er besänftigt sie mit ausgegossnem Oele.

So lässt er die Kräfte auch der übrigen Naturpotenzen ungehindert zu unserm Nachtheile wirken, bis wir etwas erfinden, was uns vor ihren Zerstörungen sichern und ihre Eindrücke möglichst unschädlich wieder von uns entfernen könne.

So verstattet er den unübersehlichen Heeren von Krankheiten, den zarten Körperbau anzugreifen, ihn zu bestürmen und mit Tod und Vermichtung zu bedrohen, wohl wissend, dass das Thierische unseres Organisms für sich nicht vermögend ist, den Feind in den meisten Fällen siegreich in die Flucht zu schlagen, ohne bei diesen Anstrengungen selbst viel Schaden zu leiden, oder wohl gar zu unterliegen; – schwach, beschränkt[9] und unzureichend sollten die Heilanstalten des sich selbst überlassenen Organismus bei Vertreibung der Krankheiten seyn, damit unser Geist sich seiner naturveredelnden Fähigkeit auch hier bedienen solle, wo es das unschätzbarste aller Erdengüter, Gesundheit und Leben gilt.

Auf dieselbe Weise, wie seine Natur wirke, wollte der Erzieher der Menschheit nicht, dass wir wirken sollten; wir sollten mehr thun, als die organische Natur, aber nicht auf ihre Art, nicht mit ihren Mitteln. Er verstattete uns nicht, ein Pferd zu erschaffen, wohl aber Maschinen, deren jede mehr Kraft äussert, als hundert Pferde, und mit mehr Folgsamkeit. Er liess uns Schiffe bauen, in denen wir sicher vor den Ungeheuern der Meere und Wuth der Orkane, die Erde, selbst unter den Bequemlichkeiten des Continents umsegeln könnten, was nie ein Fisch vermogte, und versagte deshalb unserm Körper die hiezu unzureichenden Flossen, die Wasserlungen und die Schwimmblase. Er versagte unserm Körper die rauschenden Fittige des grossen Kontors, und lässt uns dagegen Gefässe mit leichterm Gase gefüllt erfinden, die uns mit stiller Macht in eine weit höhere Atmosphäre erheben, als je einem befiederten Bewohner der Lüfte möglich war.[10]

So erlaubt er auch nicht, uns, wie der menschliche Körperorganismus für sich thut, des Sphacelus zu bedienen, um ein mürbe zerquetschtes Glied abzusondern, aber er gab uns das scharfe, schnell trennende Messer in unsre Hand, von Faust mit Oel benetzt, was es mit wenigem Schmerzen, mit wenigerm Fieber und mit weit geringerer Gefahr des Lebens vermag. Er erlaubt nicht, uns der sogenannten Krisen, wie die Natur, zur Heilung einer Menge von Fiebern zu bedienen; wir sollten ihre kritischen Schweisse, ihren kritischen Harn, ihre kritischen Durchfälle, ihre kritischen Abscesse der Ohr- und Leistendrüsen, ihr kritisches Nasenbluten nicht nachmachen können – aber er giebt dem Forscher Hülfsmittel in den Sinn, die Fieber eher zu heilen, als der Körperorganismus Krisen zu veranstalten im Stande ist, und sie gewisser, leichter, und mit wenigern Schmerzen, mit geringerer Gefahr des Lebens und mit wenigeren Nachwehen zu heilen, als die blosse Naturkraft durch Krisen vermag.

Ich wundre mich daher, dass die Arzneikunst sich so selten über die Nachahmung dieser rohen Naturveranstaltungen erhoben hat, und dass sie fast in allen Zeiten glaubte, sie könne in Heilung der Krankheiten[11] fast nichts besseres thun, als diese Krisen nachahmen, und Ausleerungen durch Schweiss, Stuhlgang, Erbrechen, Harn, Blutabzapfung, Blasenpflaster oder künstliche Geschwüre veranstalten. (Diess war und blieb die beliebteste Kurmethode von den ältesten Zeiten an, bis auf die neuesten; immer kam man auf diese wieder zurück, wenn die aus künstlichern Speculationen abstrahirten Nebenheilungsarten ihre Dienste versagten). Gleich als wenn diese unvollkommenen und erzwungenen Nachahmungen dasselbe wären, als was die vitale Natur in ihrer verborgenen Werkstätte aus eignem, freiwilligem Triebe durch die Krisen thut! Oder, als wenn diese Krisen die bestmöglichste Besiegung der Krankheit und nicht vielmehr Beweise von der (absichtlich von oben verstatteten) Unvollkommenheit und therapeutischen Unmacht unserer sich selbst überlassenen Natur wären! Nie, nie war es uns möglich, jene freiwilligen Bestrebungen des Organisms durch ein künstliches Mittel zu erzwingen (schon in der Sache liegt der Widerspruch), nie war es auch des Schöpfers Wille, dass wir es thun sollten. Sein Wille war, dass wir unser ganzes Individuum, so auch unsern Körper und die Heilung seiner Krankheiten unbegränzt vervollkommen sollten.[12]

Blos die reine Chirurgie folgte bisher zum Theile diesem weisen Winke. Statt dass die sich selbst überlassene Natur einen verborgenen Knochensplitter im Schenkel oft nur durch ein lebensgefährliches Fieber und eine fast das ganze Glied zerstörende Vereiterung heraus zu bringen vermag, weiss der Wundarzt ihn nach zweckmässiger Trennung der reizfähigen Bedeckungen in wenigen Minuten mit ein paar Fingern herauszuziehn, ohne sonderliche Schmerzen, ohne bedeutende Folgen, und fast ohne Minderung der Kräfte. Ein unmächtiges Schleichlieber mit unerträglichen Schmerzen und unablässigen Leiden bis zum Tode ist fast das einzige, was der Organismus einem grossen Steine in der Harnblase entgegen zu setzen hat; der Schnitt, einer erfahrnen Hand aber befreit den Leidenden hievon oft in einer viertel Stunde und erspart ihm die vieljährigen Quaalen und den schmähligen Tod. Oder sollten wir durch Nachahmung des Brandes und der Supuration einen eingeklemmten Darmbruch zu heben suchen, weil die Natur vor sich kein anderes Mittel dagegen, nächst dem Tode, besitzt? Wurde es hinreichend zur Hülfe und zur Erhaltung des Lebens seyn, wenn man den Blutstrom aus einer geöffneten grössern Arterie, wie die[13] Natur, nur mit einer Ohnmacht auf eine halbe Stunde zu unterdrücken verstände? wird Tourniket, Unterbindung und Tampon dadurch ersetzt werden können?

Es bleibt zwar immer der tiefsten Bewunderung werth, wie die Natur, ohne eine chirurgische Handanlegung, ohne ein passendes Heilmittel von aussen her zu erlangen, oft sich ganz allein überlassen, aus sich selbst unsichtbare Veranstaltungen entwickelt, um Krankheiten und Uebel mancherlei Art, freilich oft sehr mühsam, schmerzvoll und mit Lebensgefahr – aber doch wirklich – zu heben. Aber uns zur Nachahmung thut sie das nicht; wir können es nicht nachahmen, wir sollen es nicht nachahmen, da es unendlich leichtere, schnellere und sicherere Hülfe giebt, welche die in unsern Geist gelegte Erfindungskraft zum Behufe der nöthigsten und verehrungswürdigsten aller irdischen Wissenschaften, der Heilkunde, zu erschaffen bestimmt ist.

Quelle:
Samuel Hahnemann: Heilkunde der Erfahrung. Berlin 1805, S. 5-14.
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