§. [139] 69.

Bei der antipathischen (palliativen) Verfahrungsart aber geschieht gerade das Widerspiel. Das dem Krankheitssymptome vom Arzte entgegengesetzte Arzneisymptom (z.B. die gegen den empfindlichen Schmerz vom Mohnsaft in der Erstwirkung erzeugte Unempfindlichkeit und Betäubung) ist zwar dem erstern nicht fremdartig, nicht allöopathisch, es ist offenbare Beziehung des Arzneisymptoms auf das Krankheitssymptom sichtbar, aber die umgekehrte; die Vernichtung des Krankheitssymptoms soll hier durch ein opponirtes Arzneisymptom geschehen, was unmöglich ist. Zwar berührt die antipathisch gewählte Arznei auch denselben krankhaften Punkt im Organism, so gewiss als die ähnlich krankmachende, homöopathisch gewählte Arznei; erstere verdeckt aber nur als ein Entgegengesetztes das entgegengesetzte Krankheitssymptom und macht es nur auf kurze Zeit unmerklich, so dass im ersten Momente der Einwirkung des opponirten Palliativs die Lebenskraft von beiden nichts Unangenehmes fühlt (weder von dem Krankheits- noch vom entgegengesetzten Arzneisymptome), da sie sich beide einander gegenseitig aufgehoben und gleichsam dynamisch[139] neutralisirt zu haben scheinen (z.B. die Betäubungskraft des Mohnsaftes, den Schmerz). Die Lebenskraft fühlt sich in den ersten Minuten wie gesund und fühlt weder Mohnsaft-Betäubung, noch Krankheitsschmerz. Aber da das opponirte Arzneisymptom nicht (wie beim homöopathischen Verfahren) die Stelle der vorhandnen Krankheitsverstimmung im Organism als eine ähnliche, stärkere (künstliche) Krankheit einnehmen, also die Lebenskraft nicht, wie eine homöopathische Arznei, mit einer sehr ähnlichen Kunst-Krankheit afficiren kann, um so an die Stelle der bisherigen natürlichen Krankheits-Verstimmung treten zu können, so muss die palliative Arznei, als ein von der Krankheits-Verstimmung durch Gegensatz gänzlich Abweichendes, die Krankheits-Verstimmung unvertilgt lassen; sie macht sie zwar der Lebenskraft, wie gesagt, durch einen Schein von dynamischer Neutralisation65 anfänglich[140] unfühlbar, verlöscht aber bald, wie jede Arzneikrankheit von selbst, und lässt nicht nur die Krankheit, wie sie vorher war, zurück, sondern nöthigt auch die Lebenskraft (da sie, wie alle Palliative, in grosser Gabe gegeben werden musste, um die Schein-Beschwichtigung zu erreichen), einen opponirten Zustand (§. 63–65.) auf diese palliative Arznei hervorzubringen, das Gegentheil der Arzneiwirkung, also das Aehnliche von der vorhandnen, ungetilgten, natürlichen Krankheitsverstimmung, die durch diesen von der Lebenskraft hervorgebrachten Zusatz (Gegenwirkung auf das Palliativ) nothwendig verstärkt und vergrössert wird66. Das Krankheitssymptom[141] (dieser einzelne Theil der Krankheit) wird also schlimmer nach verflossener Wirkungsdauer des Palliativs; desto schlimmer, je grösser die Gabe des Palliativs gewesen war. Je grösser also (um bei demselben Beispiele zu bleiben) die zur Verdeckung des Schmerzes gereichte Gabe Mohnsaft gewesen war, um desto mehr vergrössert sich der Schmerz über seine ursprüngliche Heftigkeit, sobald der Mohnsaft ausgewirkt hat67.


Quelle:
Samuel Hahnemann: Organon der Heilkunst. Dresden, Leipzig 51833, S. 139-142.
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