§. [112] 60.

Entstehen nun diese, vom antipathischen Gebrauche der Arzneien sehr natürlich zu erwartenden, übeln[112] Folgen, so glaubt der gewöhnliche Arzt sich dadurch zu helfen, daß er, bei jeder erneueten Verschlimmerung, eine verstärktere Gabe des Mittels reicht, wovon dann ebenfalls nur kurz dauernde Beschwichtigung68 und[113] bei dann noch nöthiger werdenden, immer höherer Steigerung des Palliativs, entweder ein anderes, größeres Uebel, oder oft gar Unheilbarkeit, Lebensgefahr und Tod erfolgt, nie aber Heilung eines etwas älteren oder alten Uebels.[114]


68

Alle gewöhnlichen Palliative für die Leiden des Kranken haben (wie man hier sieht) zur Nachwirkung eine Erhöhung derselben Leiden und die ältern Aerzte mußten daher die Gaben verstärkt wiederholen, um eine ähnliche Minderung hervorzubringen, die dennoch nie von Dauer war, nie hinreichte, um eine verstärkte Rückkehr des Leidens zu verhindern.

Aber Broussais, während er vor 25 Jahren die unsinnige Mischerei mehrerer Droguen in den Recepten der Aerzte bestritt und ihr in Frankreich ein Ende machte (was ihm die Menschheit billig verdankt), führte durch sein sogenanntes physiologisches System (ohne der schon damals verbreiteten, homöopathischen Heilkunst zu achten) eine, die Leiden der Kranken wirksam mindernde und (was die bis dahin üblichen Palliative nicht vermocht hatten) die verstärkte Rückkehr aller ihrer Leiden dauerhaft hindernde Curart ein, die sich auf alle Krankheiten der Menschen erstreckte. Unfähig, die Krankheiten mit milden, unschuldigen Arzneien wirklich zu heilen und Gesundheit herzustellen, fand Broussais den leichtern Weg, die Leiden der Kranken auf Kosten ihres Lebens nach und nach immer mehr und mehr zu stillen und endlich mit dem Leben ganz auszulöschen; eine Curart, die leider seinen kurzsichtigen Zeitgenossen genügte. – Je mehr der Kranke noch Kräfte hat, desto auffallender sind seine Beschwerden, desto lebhafter fühlt er seine Schmerzen. Er wimmert, er stöhnt, er schreit, er ruft um Hülfe, stärker und stärker, so daß die Umstehenden nicht schnell genug zum Arzt eilen können, um ihm Ruhe zu verschaffen. Broussais hatte nur nöthig, die Lebenskraft des Kranken herabzustimmen, immer mehr und mehr zu mindern und siehe! je öfterer er ihm zur Ader ließ und durch jemehr Blutegel und Schröpfköpfe er ihm den Lebenssaft aussaugen ließ (denn fast an allen Leiden sollte, nach ihm, das unschuldige, unersetzliche Blut, schuld sein!) desto mehr verlor der Kranke die Kraft Schmerzen zu empfinden, oder durch heftige Klagen und Gebehrden seinen verschlimmerten Zustand auszudrücken. Der Kranke scheint nun um desto ruhiger, je schwächer er geworden ist; die Umstehenden freuen sich seiner scheinbaren Besserung und eilen, wenn die Krämpfe, die Erstickung, die Angst-Anfälle, oder die Schmerzen sich erneuern wollen, wieder zu den Mitteln, welche schon so schön beruhigt hatten und Aussicht auf abermalige Beruhigung geben; (in langwierigen Krankheiten und wenn der Kranke noch etwas kräftig war, hatte er sich schon die Nahrung entziehen und Hunger-Diät halten müssen, um das Leben desto erfolgreicher herabzustimmen und den beunruhigenden Zuständen ein Ziel zu setzen). Der schon so sehr geschwächte Kranke fühlt sich unfähig, gegen die fernere Schwächung durch Aderlaß, Blutegel, Blasenpflaster, warme Bäder u.s.w. zu protestiren oder sie zu verwehren. – Daß auf solche, oft wiederholte Minderung und Erschöpfung der Lebenskraft, Tod erfolgen müsse, merkt der seines Bewußtseins immer weniger und weniger mächtige Kranke schon nicht mehr und die Anverwandten werden durch einige Minderung, auch der letzten Leiden des Kranken, mittels Blutabzapfens und lauer Bäder so eingeschläfert, daß sie sich verwundern, wie der Kranke unvermuthet ihnen so eben unter den Händen wegsterben konnte. »Da man jedoch, weiß Gott! den Kranken auf seinem Krankenlager anscheinend nicht mit Heftigkeit behandelte, da der kleine Lanzet-Stich bei jedem Aderlaß nicht eben schmerzhaft und die Gummi-Auflösung in Wasser, (eau de gomme, fast die einzige Arznei, die Broussais erlaubte) nur milde von Geschmack und ohne sichtbare Wirkung ist, auch die Blutegel nur etwas beißen und die vom Arzte verordnete Menge Blut ganz in der Stille abziehen und so die lauen Wasserbäder doch auch nur besänftigen können, so muß die Krankheit wohl gleich von vorne herein tödtlich gewesen sein, so daß der Kranke, trotz aller Bemühungen des Arztes die Erde verlassen mußte.« So trösteten sich die Anverwandten und vorzüglich die Erben des selig Verstorbnen.

Die Aerzte in Europa und anderwärts ließen sich diese so bequeme Behandlung aller Krankheiten über Einen Leisten gar wohl gefallen, da sie ihnen alles Nachdenken (die mühsamste Arbeit unter der Sonne!) ersparte und sie dabei bloß zu sorgen hatten, »die Erinnerungen des Gewissens zu besänftigen und sich etwa damit zu trösten, daß sie nicht Urheber dieses Systems und dieser Curart wären, daß alle übrigen Tausende von Broussaisten eben so thäten und daß vielleicht auch mit dem Tode Alles vorbei sei, wie es ihnen ihr Meister öffentlich gelehrt hatte.« So wurden viele Tausend Aerzte jämmerlich verführt (uneingedenk der Donnerworte des ältesten unserer Gesetzgeber: »Du sollst kein Blut vergießen, denn das Leben ist im Blute«) mit kaltem Herzen das warme Blut ihrer heilungsfähigen Kranken in Strömen zu vergießen und so mehr Millionen Menschen (Broussaisch) allmälig ihres Lebens zu berauben, als stürmisch in Napoleons Schlachten fielen –. Mußte vielleicht, nach der Fügung Gottes, jenes System Broussaiss', das Leben der heilbaren Kranken medicinisch zu vernichten, vorausgehen, um der Welt die Augen zu öffnen für die einzig wahre Heilkunst, die Homöopathie, worin alle heilbaren Kranken Genesung und Wiederbelebung finden, wenn diese schwerste aller Künste, von einem unermüdeten, scharfsinnigen Arzte, rein und gewissenhaft ausgeübt wird?

Quelle:
Samuel Hahnemann: Organon der Heilkunst. Nach der handschriftlichen Neubearbeitung Hahnemanns für die 6. Auflage, Ulm 1958, S. 112-115.
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