Beschwerden aus dem Publikum

[53] »Liebe Schriftstellerin, könnten Sie nicht in unserem Namen ...?«

Nicht gerne, aber – Mut hat auch der Mameluck.

Also im Namen vieler Patienten:

Sehr verehrter Herr Doktor ..., nein, nicht Sie meine ich, lieber, guter alter Onkel Doktor, der die Familie seit zwei Generationen in so selbstloser Weise pflegt und stillschweigend andere am Leben erhält, oft ohne irgendein Entgelt; auch nicht Sie, Herr Professor, dessen Lebenswerk im Dienste der Wissenschaft eine einzige Opfertat ist. Ich meine die andern, jene, denen nicht die Kranken, sondern die Krankheit das Wichtigste ist, die nur zu leicht vergessen, daß Geist und Seele noch wichtiger sind als der Körper. Dürfen also die Kassenpatienten Sie daran erinnern, daß sie das Anschnauzen gar nicht brauchen zum Gesundwerden? Daß unser Körper schließlich und endlich unser Besitz ist und nicht der Ihrige? Daß wir ab und zu besser wissen, wo es uns weh tut? Dürfen wir Ihnen auch sagen, daß es nicht immer den von Ihnen erwarteten Effekt hat, wenn Sie den Patienten, der sich in Schmerzen vor Ihnen windet, anschreien? Mag sein, daß er momentan die Zähne zusammenbeißt, aber der Schreck bleibt ihm sein Leben lang. Das gilt besonders von Müttern in ihrer schwersten Stunde. Wenn mancher junger Arzt so forsch tut, so ist das kein Zeichen von Stärke, vielleicht eher von Hilflosigkeit. Ein freundliches Wort, eine streichelnde Bewegung, ein Lob der Tapferkeit, auch wenn sie nicht vorhanden ist, vermöchten mehr zu helfen.[53]

Erlebtes aus dem Spital: Eine junge Frau liegt seit acht Stunden in den Wehen und fragt in ihrem Jammer, ob es noch lange dauern wird. »Ich hab' Ihnen schon gesagt«, erwidert der Assistenzarzt schroff, »daß Sie noch einige Stunden aushalten müssen.« Die alte Pflegerin wischt den kalten Schweiß von der Stirne der Frau, streichelt ihre Arme und meint: »Gar lang dauert's nimmer, es wird bald da sein. Sehr bald. Und dann: die Freud – die Freud!« Und die werdende Mutter sagt bald »Ja, ja« zu allem, zu dem Trost, zu dem Schmerz, zur Freude, und hält tapfer die folgenden Stunden durch.

Dürfen wir auch den Herrn Professor oder den Herrn Lehrer um einiges bitten, was ihnen und uns das Leben erleichtern würde?

Wäre es nicht zum Beispiel möglich, bei Prüfungen auf das Bulldoggengesicht zu verzichten? Muß man durch eisige Atmosphäre den Kandidaten so lange einschüchtern, bis er nicht mehr Muh sagen kann? Eine solche Haltung ist doch schon Parteilichkeit, Stellungnahme gegen den Schüler. Und wozu das beliebte Fallenstellen, die Spitzfindigkeiten, die mit dem Allgemeinwissen gar nichts zu tun haben und nur den Zweck haben, die Kandidaten aufs Glatteis zu führen, irre zu machen und endlich aus dem Sattel zu heben?

Wozu auch die vorgefaßten Urteile: »Sie haben wieder zu wenig gelernt!« »Wir werden sehen, ob Sie heute mehr können als sonst.« »Na – wie ist es? Wenn Sie nicht einmal das wissen, ist es überflüssig, weiterzuprüfen.« Man muß nicht beim ersten Versagen in einen Jammer ausbrechen wie ein heulender Derwisch: »Ich sage ja, mit Ihnen ist nichts anzufangen! Es hat keinen Zweck.«

Doch, doch, Herr Professor, es hat schon einen Zweck. Ganz abgesehen davon, daß auch Sie, wenn ein Überpedant Sie prüft, in[54] Ihrem eigenen Fach durchfallen könnten, mag es vielleicht auch sein, daß der jeweilige Versager nur eine gar nicht große Lücke in einem sonst vorhandenen Allgemeinwissen ist. Aber vielleicht hätte dieselbe Frage, anders formuliert, Resonanz gefunden – haben Sie das noch nie erlebt? Und wenn Sie in der Sprechstunde mit den Eltern über die Sprößlinge reden, da wäre manchmal auch etwas mehr Rücksicht erwünscht. Es soll nämlich vorkommen, daß die Eltern ihre Kinder besser kennen als der Herr Professor. So mancher hat schon orakelt: »Aus dem Buben wird nichts, der kommt nie im Leben weiter, da ist jede Hoffnung vergebens, nie wird der eine Prüfung bestehen«, und hat sich schwer getäuscht. Der Sprachlehrer Napoleons hat zum Beispiel von seinem Schüler behauptet, er sei ein kompletter Trottel! Überhaupt – das Publikum spricht noch immer – sollte man sich mitunter erinnern, daß es ein Publikum gibt und daß man es nicht als lästige Einrichtung behandeln darf, da man es vielleicht mitunter braucht. Ein Spaßmacher fragte einmal: Wieviel Esel machen zusammen ein Publikum aus? Das war eben ein Spaßmacher, der weder die Arbeit, noch die Hilfe, noch die Beiträge des Publikums brauchte.

Man soll also dem Publikum unnötigen Ärger und unnötige Strapazen ersparen. Disziplin darf nicht von Strebern zum Zopf gemacht werden. Besagter Zopf verhält sich nämlich zur Disziplin so etwa wie die Etikette zum Anstand. Schicken Sie nicht, verehrter Herr Amtsrat, eine Partei von Pontius zu Pilatus, wenn Sie mit etwas gutem Willen die verlangte Auskunft selber geben können, und wenn ein veralteter Paragraph ohne Gefährdung der Sicherheit zugunsten der Partei ausgelegt werden kann, dann legen Sie ihn auch so aus.

Man muß den Leuten, auch wenn sie nur Publikum sind, nicht unbedingt Prügel zwischen die Beine werfen und ihnen[55] selbst die Paketaufgabe zur Strafe machen. Auch den Weg zum Steueramt kann man den Leuten erleichtern. Neue geflügelte Worte, wie: Gefällig wie ein Postfräulein, liebenswürdig wie ein Amtsvorstand, taktvoll wie ein Zollbeamter, nähmen sich ganz gut aus. Daß das Publikum dafür Verständnis aufbrächte, zeigt sich aus der Beliebtheit deutscher Schupos, deren Pflichterfüllung nicht weniger gerühmt wird als ihre Ritterlichkeit. Anerkannt wird auch die Hilfsbereitschaft von Eisenbahnschaffnern. Jedes Land hat so seine Art von Gentlemen, aber auch seine überlieferten Wauwaus, die dem guten Publikum nur das Raunzen beibringen. Ich für meine Person bin für die Abschaffung der Wauwaus – und der Raunzer.

Gleich noch ein Vorschlag: Könnte man nicht im Interesse einer leichten, allgemeinen Verständigung den Jargon in gutes Deutsch verwandeln, der sich bei Gericht, im Handel und auch sonstwo breitmacht? Auch da sollte man sagen können: Klar wie eine Urteilsbegründung.

Da wir schon beim Sprechen sind, noch eine Anregung: Wäre es nicht möglich, die um sich greifende Sprechwut etwas einzudämmen? Wir Publikum fangen an etwas müde zu werden. Man klärt uns über so vieles auf, daß wir am Ende nichts mehr aufnehmen können. Und deswegen möchten wir den unberufenen »Bloß-Rednern« nahelegen, das Wort, das wertvolle Wort nicht zum Schlagwort herabzuwürdigen; mögen es jene nur gebrauchen und meistern, die es auch in die Tat übersetzt haben und denen ja – ja und nein – nein bedeutet. Schließlich bitten wir Publikum den Herrn Spaßmacher – siehe oben –, seine Meinung, wir bestünden aus lauter dummen Köpfen, wenigstens so weit zu revidieren, daß er einigen von uns normale Denkfähigkeit zubilligt und uns gestattet, davon Gebrauch zu machen.

So und anders redet das gute Publikum.[56]

Quelle:
Haluschka, Helene: Noch guter Ton? Graz 1938, S. 53-57.
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