Kulturprobe

[173] Fühlst du dich beschämt, wenn du zu leicht siegst?

Wenn der Schwächere vor dir gedemütigt wird?

Wenn Besiegte beschimpft oder verhöhnt werden?

Wenn Gewalt dir gibt, was das Recht dir nicht hätte geben können?

Wenn du einen Menschen, der von dir abhängt, gekränkt oder ausgenützt hast?

Reicht dein Anstandsgefühl auch noch dorthin, wo Gesetz und Strafe dich nicht erreichen können?

Hilfst du auch dort, wo niemand dir Dank zu sagen braucht?

Bist du im Kampf und Spiel auch mit einem unerbittlichen Gegner fair?

Ist dir Gemeinheit in Haltung, Wort und Tat ein Greuel?

Hast du zuviel Stolz, um dir einen Vorteil zu erschleichen? Zuviel Ehrgefühl, um durch Intrigen hochzukommen oder jemanden zu schädigen? Verteidigst du deine Freunde, deinen Glauben, deine Meinung auch dann noch, wenn alle sie anklagen?

Ist dir die Prahlerei mit Geld, Begabung, Erfolg oder Kraft fremd?

Empfindest du die Lächerlichkeit anmaßenden Benehmens?

Kannst du anstatt mit Schimpf mit schweigender Verachtung strafen?

Kannst du wachsen, ohne größenwahnsinnig zu werden?

Sind dir die großen Gefühle der anderen ebenso heilig wie deine eigenen?[173]

Weißt du, auch wenn du allein bist, Haltung zu bewahren?

Verstehst du den Sinn der Anmut, der Beschwingtheit, des Gelockertseins?

Ist dir ein Schuß lieber als eine Ohrfeige?

Liebst du Reklame, Schmeichelei, Zurschaustellung der Gefühle?

Scheint dir Spionage, Indiskretion, Denunziation erbärmlich?

Ist dir Güte lieber als Menge?

Kannst du Schönheit ohne Begierde genießen?

Kannst du schweigen?

Kannst du fest bleiben, ohne zu erstarren?

Läßt du den andern deine Überlegenheit vergessen?

Hast du mitten in der Pflichterfüllung Zeit für ein Lächeln?

Weißt du, daß alles Göttliche leicht ist?

Verstehst du die Kunst, richtig abzuwägen, abzuschätzen und deine Haltung danach einzurichten? So daß du nicht nach Schmetterlingen mit Kanonen schießest und heilige Dinge zum leichten Spiel mißbrauchst?

Weißt du, daß du nicht allein auf der Welt bist? Daß als letzte Instanz der Schöpfer über dem Geschöpf steht und nicht du?

Bist du einer jener Menschen, die immer ein Leuchten hinter sich lassen?

Wenn du das alles bist und kannst, dann bist du wahrhaft ein Kulturmensch, und neben dir können wir rufen: »Freut euch des Lebens!«[174]

Quelle:
Haluschka, Helene: Noch guter Ton? Graz 1938, S. 173-175.
Lizenz:
Kategorien: