XX. Die Jahre 1815 und 1816.

[223] Sir Thomas Dyke Asland machte mir den Vorschlag, ihn auf einem Ausflug nach Graz zu begleiten, er wollte dort die Bekanntschaft der Gräfin Purgstall machen, an die er von England aus empfohlen war. Zugleich mit uns reisten über Graz nach Triest ein paar Wagen mit jungen Engländern, die der Kongreß nach Wien gezogen. In einer schönen, sternenhellen Winternacht um Mitte Januar 1815 langten wir um 9 Uhr abends in der letzten Station vor Graz, in Peggau, ein und erhielten dort die Nachricht, daß keine Pferde im Stall und vor 5 Uhr früh auch keine zu haben sein würden. Wir überlegten, was man tun könne, einige wollten sich schlafen legen, andere schlugen vor, zu spielen und Punsch zu trinken. Endlich machte ich den Vorschlag, zu Fuß nach Graz zu gehen und die Wagen mit Gepäck und Dienern am nächsten Morgen nachkommen zu lassen; der Vorschlag wurde angenommen, und wir traten die Fußreise an. Um 2 Uhr nach Mitternacht erreichten wir den Linienschranken. Unsere Pässe waren in den Wagen zurückgeblieben, wir liefen Gefahr, angehalten und zur Polizei gebracht zu werden. Ich gebot tiefstes Schweigen, und wir schlüpften lautlos unter dem Schranken durch, ohne daß einer der Zöllner erwacht wäre. Im väterlichen Haus[223] und bei der Gräfin Purgstall wurde ich froh und herzlich empfangen.

Am 20. Jänner, an welchem Talleyrand zu St. Stephan für die Hinrichtung Ludwig XVI. ein großes Trauerrequiem veranstaltete, war ich mit Sir Thomas wieder in Wien zurück. Von den Franzosen, welche auf dem Kongresse waren, befreundete ich mich nur mit dem Bevollmächtigten, dem geistreichen und liebenswürdigen Duc de Dalberg, dessen Deutschtum im Franzosentum gänzlich untergegangen war. Erst gegen Ende des Kongresses lernte ich den Geschichtsschreiber der französischen Diplomatie, Flassan, kennen, der ganz einsam und verborgen lebte. Flassan suchte keinen einzigen Literaten in Wien auf, und ich dürfte der einzige gewesen sein, der ihn besuchte. Außer dem dänischen Hofmarschall Hauch kümmerte sich keiner der vielen großen und kleinen Diplomaten, mit denen Wien damals überfüllt war, um irgendeinen Literaten der Hauptstadt, allerdings verkehrte auch keiner außer mir in der großen Gesellschaft.

Die genußreichsten Abende der großen Gesellschaft waren in diesem Winter für mich die musikalischen im Hause des Grafen Apponyi, dessen Schwiegertochter eine ausgezeichnete Sängerin war. Manchmal spielte auch dort Fürst Radziwill meisterhaft den Kontrabaß. Beethoven kannte ich schon seit zwanzig Jahren aus dem Hause des Arztes Glossé. Um diese Zeit hatte er mich gebeten, den Text seiner Komposition der Sintflut zu schreiben; ich kann nur bedauern, daß meine Dichtung seinen Erwartungen nicht entsprach.

Von allen Konzerten, die ich je gehört, sind mir zwei unvergeßlich geblieben, beide dirigierte Beethoven, die ›Schöpfung‹ im Saale der Universität, aus welcher Haydn halbtot hinausgetragen wurde, und die während des Kongresses gegebene ›Schlacht von Vittoria‹, deren allzu überwältigender Kanonendonner schon die zunehmende Taubheit des Meisters zeigte. Mehr als einmal war ich Zeuge, wie er bei sich auf einem schlechten und verstimmten Klaviere spielte, ohne die Töne anders, als wie sie seinem inneren Gehör vorschwebten, zu vernehmen.

Unter den österreichischen Ministern deutscher Gesinnung,[224] die ich näher kennenlernte, nahmen die Brüder Stadion und die Freiherren von Wessenberg den ersten Platz ein. Von den beiden Brüderpaaren hatte der eine Bruder die diplomatische, der andere die geistliche Laufbahn ergriffen, aber die beiden Abbées wirkten nicht weniger in der Diplomatie als ihre Brüder die Minister. Den Abbé Grafen Stadion hatte ich 1809, als sein Bruder leitender Minister war, kennengelernt, den Domherrn Freiherrn von Wessenberg, den ethischen Dichter, durch seinen Bruder, den im Kongreß beauftragten Minister. Diesem gaben Geist und Talent größten Anspruch auf die Stelle des Fürsten Metternich, falls diese erledigt werden sollte. Da er selbst Metternich gefährlich erschien, entfernte er ihn bald nach dem Kongreß mit einer großen Pension.

Graf Stadion, der frühere Minister des Auswärtigen, war jetzt Finanzminister und nach Metternich der erste Mann im Staate, wie dieser in alle Geheimnisse desselben und des Kongresses eingeweiht. Mehrmals wandte ich mich an ihn, Metternich war für mich während des Kongresses nicht erreichbar, mit Anfragen und Bitten um leitende Maßregeln. Am Morgen war das Vorzimmer des Fürsten mit Ministern und Diplomaten gefüllt, dann begannen die allgemeinen Konferenzen, deren Protokolle Gentz führte, abends auf den Bällen und in den Salons war es nur Souveränen, deren Ministern und Damen möglich, zum Fürsten-Staatskanzler zu gelangen.

Eine der Fragen, mit denen ich mich an Graf Stadion wenden mußte, war die, ob ich dem russischen Minister, dem Grafen Capo d'Istria, ein Memoire über die Errichtung der orientalischen Akademie geben dürfe, um das er mich gebeten hatte. Er beabsichtigte, nach diesem Muster die Lehranstalt für russische Dolmetsche zu verbessern. Graf Stadion fand nichts dagegen einzuwenden und versprach, dem Fürsten Metternich darüber Mitteilung zu machen.

Mein Werk über die Staatsverfassung und Staatsverwaltung des Osmanischen Reiches wurde während des Kongresses vollendet und war das erste, womit ich mir den Danebrog- und den St.-Annen-Orden verdiente. Durch den Grafen Capo d'Istria ließ ich dem Kaiser von Rußland ein[225] Exemplar überreichen und durch Herrn von Hauch dem König von Dänemark, das Werk war dem Erzherzog Johann gewidmet.

Die Freunde und Verteidiger von Gentz, an ihrer Spitze Prokesch, haben nicht nur seinen Sybaritismus, sondern auch seine Geldgier und seine allen Mächten, die ihn bezahlten, feile Seele zu beschönigen und zu verteidigen gesucht. Prokesch meinte sogar, daß die Geldsummen, die Gentz unter den verschiedensten Titeln bezog, kein seines Talentes würdiger Betrag seien. In Österreich ist kein Beispiel vorhanden, daß irgendein hoher Beamter auf so glänzende Art für seine Arbeiten bezahlt wurde, kein Beispiel einer solchen Überhäufung von Pensionen, Geschenken und Belohnungen, wie sie Gentz während des Kongresses und nachher bezogen hat. Neben der österreichischen Hofratsbesoldung hatte er schon vor dem Kongreß eine englische Pension von jährlich 500 Pfund, durch Lord Castlereaghs Verwendung wurde sie ihm zur Zeit des Kongresses mit einem Kapital von 50.000 Gulden abgelöst. Beim Kongresse erhielt er von jeder der acht Mächte 1000 Dukaten, die Interessen dieser zusammen 86.000 Gulden betrugen allein so viel wie seine damalige Hofratsbesoldung von 4000 Gulden, die später auf die des Staatsrates mit 8000 und dann auf 10.000 erhöht wurde. Für die Agentschaft der Fürsten der Moldau und Wallachei erhielt er jährlich 18.000 Gulden. Dazu kommen noch die besonderen Geschenke anderer Länder und aus dem geheimen Fonds der Staatskanzlei. Auch Rothschild trug dazu das seine bei.

Die Kongreßgelder verwendete er zur Bezahlung seiner Schulden, die er für seine sybaritische Tafel, sein Landhaus zu Weinhaus und sein Haus am Glacis gemacht hatte. Fürst Esterházy hatte einen Koch entlassen, der ihm für eine Schildkrötensuppe 100 Gulden gerechnet hatte, diesen, der dem reichsten Magnaten Ungarns zu teuer war, nahm Gentz in seine Dienste. Aus den Abfällen von der Tafel seines Herrn baute sich der Koch später ein schönes Landhaus.

Gentz war die Seele der Redaktion der Konferenzprotokolle, der Niederländer Hofrat Waeken mußte aus der[226] österreichischen Staatskanzlei die nötigen Behelfe liefern, außer diesen hatte Metternich noch einen dritten Hofrat in der Staatskanzlei ernannt, um auf dem Kongresse das aristokratische Prinzip in den äußeren Formen vorzustellen. Dazu brauchte Metternich einen Mann mit aristokratischem Namen, dessen Formen gut waren und von dem nichts anderes verlangt wurde, als Botschaften an Mitglieder des Kongresses in gebührender Form mündlich zu überbringen oder ein französisches Billett zu schreiben. Die Wahl fiel auf den Grafen Mercy, einen der größten Hohlköpfe, er war Hofsekretär in der Hofkammer und dort wegen seiner Unfähigkeit berühmt. Stadion konnte sich nicht entschließen, diesen zu allen Geschäften Unfähigen zum Hofrat zu befördern, Metternich übernahm ihn in die Staatskanzlei und setzte ihn als Hofrat allen Kanzleiräten vor die Nase. Beim Schluß des Kongresses wurde er ebenso wie Gentz mit dem Stefansorden ausgezeichnet und später wurde er sogar Geheimer Rat. Fürst Metternich hatte bald nach der Übernahme des Ministeriums der Staatskanzlei eine neue Einteilung gegeben, indem er sie in die Sektionen des Äußeren und des Inneren teilte, die erste, das eigentliche Kabinett, von dem die geheimen Weisungen ausgingen, die zweite hatte den Notenwechsel der laufenden Geschäfte mit den Behörden der inneren Staatsverwaltung. Die Einteilung war sehr zweckentsprechend, nur fehlte ihr die folgerichtige Durchführung. Hudelist stand der zweiten Sektion vor; da er seine diplomatische Laufbahn in Rom als Privatsekretär des Kardinals Grafen Hrzan begonnen hatte und seit seinem Eintritt in die Staatskanzlei die orientalischen Geschäfte an sich gerissen hatte, war auch die Korrespondenz mit Rom und der Türkei der Sektion des Inneren zugewiesen worden, obwohl sie nicht dorthin gehörte. Eher hätten die deutschen Geschäfte dahin gehört als die päpstlichen und türkischen, aber für Metternich waren der Papst und der Sultan von je bessere, nähere und mehr zum Inneren Österreichs gehörige Freunde als die deutschen Höfe.

Nach dem Plane, welchen Metternich dem Kaiser über diese neue Einrichtung vorgelegt hatte, sollte jeder Sektion ein Staatsrat vorstehen, der des Äußeren mit größeren Rechten[227] als der des Inneren, aber Kaiser Franz bewilligte den zweiten Staatsrat nicht, als welchen Metternich Gentz vorgesehen hatte.

Im März des Kongreßjahres langte die Nachricht von der Flucht Napoleons von Elba ein. Einen Monat, nachdem die Nachricht von dieser den Kongreß zersprengt und von den Hofbällen zum Waffentanz gerufen hatte, traf mich eine neue Ungerechtigkeit Hudelists. Ottenfels, der bisherige Legationssekretär, wurde zum Hofsekretär in der Staatskanzlei ernannt, während mir, seinem Vordermann, Hofdolmetsch und Staatskanzleirat, noch immer der Sitz in der Staatskanzlei verweigert war. Fürst Metternich ließ mich nicht vor, ich schrieb ihm und klagte dieses neue Unrecht meinem Gönner, dem Grafen Sickingen, der abends dem Kaiser davon erzählte. Die Kaiserin war sehr unwillig über diese neuerliche Bureauschikane und warf das Buch, in dem sie las, fort, der Kaiser sagte: ›C'est que Mr. de Sickingen protege fort Mr. de Hammer.‹

Am 7. Mai war ich zu einem Souper bei der Fürstin Taxis geladen und hatte am nächsten Morgen eine Audienz beim Fürsten Metternich, in der ich alle meine Ansprüche auf tätige Geschäftsverwendung geltend machte, welche in dem Schreiben zusammengefaßt sind. (B. 27.) Ich hatte dieses Schreiben meinem Gönner, dem Erzherzog Johann, überreicht, welcher es dem Kaiser vorzulegen versprach, und versuchte den Kaiser zu einer Entschädigung der mir zugefügten Ungerechtigkeiten zu bewegen. Seither hörte ich nie mehr von der von Hudelist ausgestreuten Verleumdung, daß ich in Ägypten auf eigene Faust herumgereist sei. Die Meinung des Kaisers von meinen Reisen und Leistungen im orientalischen Fache, als Herausgeber der ›Fundgruben‹ und Verfasser des damals eben erscheinenden Werkes über das Osmanische Reich wurde auch dadurch verbessert, daß ich in einem Zwischenraume von zehn Tagen den Danebrog- und den Annenorden zweiter Klasse erhalten hatte. Ich erhielt die Nachricht von dieser Verleihung durch den Grafen Moriz Dietrichstein, der dem König von Dänemark zugeteilt war, und wurde zum nächsten Tag zur Audienz beim König befohlen, um den Orden in Empfang zu nehmen. Von dem[228] Dutzend von Orden, die ich im Laufe der Zeit bekam, hat mir keiner größere Freude gemacht als der Danebrog, weil er der erste war und weil mir das schöne, rotgeränderte, weißgewässerte Band immer schon in die Augen gestochen hatte.

Mit dem Ende des Kongresses kam auch die Entscheidung meiner Geschäftsverwendung zur Reife. Am 7. Juni gewährte mir Fürst Metternich in einer langen Unterredung Sitz und Pult in der Staatskanzlei. Mir wurde das Referat des Hofrates Perrin, der dem Erzherzog Johann für die diplomatische Korrespondenz im Felde zugeteilt worden war, übertragen, ein Gemisch verschiedenster Gegenstände der inneren Verwaltung.

Beim Eintritt in die wirkliche Verwendung in der Staatskanzlei war mir ebensowenig ein Diensteid abgenommen worden wie bei meiner Einstellung als Hofdolmetsch. Hudelist hatte mir keine geheimen Geschäfte, sondern nur laufenden Notenwechsel mit den Stellen des Inneren übertragen. Durch einen höchst seltsamen Zufall kam ich am Tage meines Eintrittes zur Kenntnis und Einsicht wichtiger Staatspapiere des vorjährigen Feldzuges, die selbst Hudelist nicht kannte. Ich bekam die zwei Zimmer angewiesen, in welchen vormals Staatsrat Collenbach gearbeitet hatte. Ich war allein in ihnen, mein Pult war ein Rollkasten, dessen Mittellade und beide oberen Seitenladen offen standen, die unteren waren verschlossen und der Schlüssel fehlte. Ich versuchte den Schlüssel des Trumeaukastens, dieser öffnete beide Laden, in einer war nichts, die andere war mit Schriften gefüllt. Zu meinem größten Erstaunen sah ich, daß es die wichtigsten diplomatischen Papiere aus der Kanzlei des Fürsten aus dem Feldzuge des Jahres 1814 waren. Später erfuhr ich den Zufall, durch den sie sich in dem Pulte befanden. Fürst Starhemberg, der Gesandte in London, hatte vor einigen Monaten in der Staatskanzlei an diesem Pulte die Akten gelesen, die ihm direkt von der ersten Sektion anvertraut worden waren. Er hatte sie in diese Lade eingesperrt und den Schlüssel mitgenommen und in seinem gewohnten Leichtsinn bei seiner Abreise auf seine Güter nach Oberösterreich weder an die Zurückstellung der Schriften[229] noch des Schlüssels gedacht. Die Schriften enthielten die Schreiben von Ministern und Generalen, die Fürst Metternich während des Feldzuges von 1814 in amtlichen und privaten Angelegenheiten erhalten hatte. Leider habe ich mir über ihren Inhalt keine Notizen gemacht. Schreiben von Fouché und Talleyrand, nach denen ich eifrig suchte, waren keine darunter, dafür aber mehrere vertrauliche des Grafen Marescalchi mit dem Plane der Einrichtung der während des Bestehens des Königreiches Italien von ihm in Paris geleiteten italienischen Staatskanzlei. Dieser Plan interessierte mich besonders, weil aus ihm klar hervorging, daß die neue, der österreichischen Staatskanzlei gegebene Einrichtung ganz dem italienischen Ministerium Marescalchis nachgebildet war. Ich fand vertrauliche Schreiben des Duc Dalberg und von Flahaut samt einem Bericht des Grafen Clam über eine Unterredung mit dem letzteren. Ich muß gestehen, daß die auswärtige Politik betreffende Schreiben mich viel weniger interessierten als die geheimen Polizeiberichte, welche das Leben in Wien betrafen. Sehr unterhielten mich die Berichte Graf Benzels über die Tischgespräche bei Baron Thugut, in denen ich vieles, was ich gesagt, um es zu den Ohren der Polizei zu bringen, getreu wiedergegeben fand. Diese Berichte durchzog ein den Erzherzogen feindlicher Geist, ganz im Sinne der Metternichschen Politik. Die Erzherzoge waren alle als Ränkeschmiede geschildert, die sich durchaus in die Politik mischen wollten. Dies war ein gemeiner, aber wirksamer Kniff, um dem Kaiser seine Brüder und Schwäger verdächtig zu machen und die Herrschaft um so sicherer dem Grafen Metternich zu erhalten. Ich las diese Schriften nach und nach ganz verhohlen. Zuerst dachte ich, es werde am sichersten sein, über den Fund jedermann, auch Hudelist gegenüber, tiefstes Stillschweigen zu bewahren, das ich wahrscheinlich auch nicht gebrochen hätte, wäre ich nicht durch eine neue, empörende Verweigerung von seiner Seite zum Sprechen herausgefordert worden. Zwei Monate war ich schon im Bureau, als ich Hudelist bat, mir zu gestatten, daß ich die alten türkischen Akten lesen dürfe, was mir Graf Stadion schon 1807 bewilligt hatte, aber durch die Ereignisse der nächsten Jahre nicht fortgesetzt werden[230] konnte. Hudelist schlug mir die Bitte ab und begründete dies damit, daß in meiner gestohlenen Brieftasche ein Blatt historischer Auszüge gefunden worden sei. ›Einem Menschen, der unvorsichtig genug ist, Auszüge aus der Registratur der Staatskanzlei in der Tasche herumzutragen, kann die Erlaubnis, weitere zu machen, unmöglich gegeben werden.‹ Dies empörte mich und ich machte ihm Mitteilung über meinen Fund, um ihm zu zeigen, wie unrecht er habe, einige hundert Jahre alte Akten mir vorzuenthalten, während die Staatsgeheimnisse der jüngsten Zeit in meinem Pulte liegen. Er stutzte um so mehr darüber, als ihm von den Papieren nichts bekannt war. Ich holte den Pack und überreichte ihn. Sein Vertrauen hatte ich dadurch abermals verwirkt.

Diese neue Willkür überzeugte mich davon, daß weder Talent noch Fleiß, weder Kenntnisse noch Geduld meine Stellung verbessern könnten, und ich spähte nach jeder Gelegenheit einer anderen Verwendung. Der erste Kustos der Hofbibliothek erkrankte und sein in Bälde zu erwartender Tod würde einen Platz freimachen, der für meine Fähigkeiten und Kenntnisse ebenso wie für meine Lust und Neigung geeignet war. Die Hofräte Raab und Maßburg machten mich darauf aufmerksam und rieten mir, frühzeitig Schritte einzuleiten, damit mir nicht andere Bewerber zuvorkämen.

Graf Sickingen versprach dem Kaiser die Sache vorzustellen, dem sie als zweckmäßig erschien, doch konnte vor Stingels Tod nicht definitiv darüber entschieden werden. Am 6. August starb er und am folgenden Tage überreichte ich meine Bittschrift dem Staatsrate Hudelist mit der Bitte, sie zu unterstützen, da er ja nach allem, was vorgefallen, doch selbst froh sein würde, mich als Untergebenen loszuwerden. Er erwiderte nur, daß er das Ansuchen dem Fürsten Metternich einsenden werde.

Hudelist schlug vor, ich solle zwar zum ersten Kustos der Hofbibliothek ernannt werden, aber ohne den dieser Stelle zukommenden Hofratstitel und nicht mit dem Gehalte von 4000, sondern nur mit 3000 Gulden und mit Zurücksetzung vom Range des Staatskanzleirates auf den eines[231] Kaiserlichen Rates. Dies ist ein leerer Titel, der Hofsekretären, Burginspektoren, Gärtnern und Stallmeistern verliehen wird. Am 8. November teilte mir Collin diese Nachricht mit, die Anstellung war bereits vom Obersthofmeister Fürst Trauttmansdorff unterschrieben. Mein Entschluß, diese Stellung unter diesen Bedingungen nicht anzunehmen, stand sofort fest und meine Freunde, Graf Harrach, Fürst Sinzendorf und Graf Apponyi, stimmten ihm bei.

Beim Obersthofmeister Fürst Trauttmansdorff, dem die Hofbibliothek unterstand, legte ich bei der Vorstellung wider diese Verleihung das größte Gewicht auf den Umstand, daß dadurch die Bibliothek selbst in ihren bisherigen Rechten und Vorzügen verkürzt werde. Er sah dies vollkommen ein und sagte dem Fürsten Sinzendorf einige Tage später, daß er dem Kaiser einen Vortrag darüber gehalten habe, daß der Hofratscharakter von der Stelle eines Kustos unzertrennlich sei. Obwohl Erzherzog Johann meine Zurückweisung nicht billigte, hatte er über diese neue mir zugefügte Ungerechtigkeit an den Fürsten Metternich geschrieben. Diese Stelle wurde nun dem mit der Verwahrung von Kupferstichen und Karten betrauten Kupferstecher Bartsch verliehen. Er war zwar der Verfasser des in der Kunstgeschichte sehr geschätzten Werkes ›Le peintre graveur‹, hatte aber nie studiert. Trotzdem erhielt er den Hofratscharakter und 4000 Gulden Gehalt.

Ich legte nun wieder Hand an die seit einem Jahre unterbrochene Reisebeschreibung Ewlias, deren zweite Hälfte noch nicht übersetzt war, daneben las ich Klassiker: Suetonius, die Biographen der Cäsaren, die großen und kleinen Geographen, und abends, wenn ich nicht ausging, politische Flugschriften. Am vorletzten Tage des Jahres wohnte ich einem Harfenkonzerte im Hause Henikstein bei, wo die älteste Tochter Karoline durch ihre fröhliche Liebenswürdigkeit, ihren Geist und ihr reines Französisch zum erstenmal meine Aufmerksamkeit auf sich zog.

Ich begann das Jahr 1816 in der Hälfte meines 42. Lebensjahres, wenn ich überhaupt noch heiraten wollte, war es die höchste Zeit für mich. Meine letzten Heiratspläne hatten sich hauptsächlich auf die Hoffnung der Beförderung[232] zum Hofrat gegründet, mit 4000 Gulden dachte ich auch eine unbemittelte Frau ernähren und haushalten zu können. Da diese Hoffnung durch die Ernennung von Bartsch zu Wasser geworden, hatte ich vorderhand alle Heiratsgedanken aufgegeben, aber Karoline hatte einen zu lebhaften Eindruck auf mich gemacht. Daß ich auch ihren Eltern als Werber willkommen sei, schloß ich aus der freundlichen Aufnahme, die ich bei ihrer Mutter, einer geborenen von Sonnenstein aus Oberösterreich, und bei dem Vater, dem Bankier Josef von Henikstein, fand.

Die ersten sechs Wochen des Jahres vergingen ohne weitere Annäherung. Ich war sehr mit der Übersetzung Ewlias beschäftigt und sandte die ersten dreißig Bogen Lord Aberdeen mit der Bitte, dafür einen Verleger in England zu finden. Ein Exemplar von Spencers Sonetten hatte ich durch Lord Castlereagh dem Prinzregenten übergeben lassen. Den Dank dafür, einige Zeilen seines Bibliothekars, bekam ich in einem Briefe des Erzherzogs Johann, die große goldene Medaille (vergoldetes Silber) des Prinzregenten erhielt ich später durch Gordon. Wenn ich jetzt auch die späten Abendgesellschaften nicht besuchte, die nach dem Theater begannen, so war ich doch häufiger Gast der Fürsten Dietrichstein und Sinzendorf und wöchentlich mehrmals des Freiherrn von Thugut.

Von einem Spaziergang nach Weidling brachte ich die ersten Schneeglöckchen mit und sandte sie am selben Abend noch Karoline von Henikstein. An diesem Abend faßte ich den Entschluß, um ihre Hand zu werben. Ich verhehlte mir keineswegs die Schwierigkeit, sie war neunzehn, ich zweiundvierzig Jahre alt. Meine bisher seltenen Besuche wurden häufiger, aber ich ließ mich immer nur im Kreise von Freunden und in Gegenwart ihrer Mutter mit ihr in Gespräche ein. Von allen ihren Talenten entzückte mich am meisten ihr Gesang und am tiefsten ergriffen mich die vom Abbé Stadler komponierten Psalmen.

So verfloß der Februar mit häufigen Besuchen im Heniksteinschen Hause, bei denen ich immer neue psychische und physische Vorzüge meiner gewünschten Braut entdeckte, ich fand aber weder Mut noch Gelegenheit, ihr meine[233] Liebe zu erklären. Am Abend des 1. März schlug ich Karoline vor, mit mir Schach zu spielen, ich hoffte sie ungestört sprechen zu können. Ich war nie ein guter Schachspieler, damals spielte ich sehr zerstreut und wurde diesmal und noch an sechs anderen Abenden regelmäßig matt gesetzt. Bei der siebenten Partie am 14. März schwieg ich lange, als besinne ich mich auf den nächsten Zug, und sagte endlich: ›Oserai-je demander votre main à vos parents?‹ Sie antwortete kurz und lebhaft: ›Qui, certainement, mais tirez donc.‹ Ich zog und gewann diese Partie, die letzte, die ich in meinem Leben gespielt, und mit ihr das Glück meines Lebens.

Am 19. März brachte ich meine Werbung bei den Eltern in aller Form vor und sie wurde mit einem herzlichen Ja-Wort erwidert. Mein Schwiegervater fragte als praktischer Geschäftsmann sogleich, wann die Hochzeit sein solle, und ich antwortete: ›An meinem Geburtstag, am 9. Juni.‹ ›Aber das sind ja noch zwölf Wochen.‹ ›Das weiß ich, aber sie werden nötig sein, um die Erlaubnis des Fürsten Metternich einzuholen, eine Wohnung zu finden und Karoline auszustaffieren.‹

Vom Heniksteinschen Hause begab ich mich in die Staatskanzlei, um meine Heirat der Vorschrift gemäß anzuzeigen und die Genehmigung meines Chefs zu erhalten.

Quelle:
Hammer-Purgstall, Josef von: Erinnerungen aus meinem Leben. 1774–1852. Wien und Leipzig 1940, S. 223-234.
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