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[382] Mir war es vergönnt gewesen, Paris und London, Rom und Neapel, ein gut Stück Deutschlands und der Schweiz kennenzulernen. Nun brachte der Sommer von 1888 auch die Erfüllung eines letzten Wunsches: eine Reise nach Schweden und Dänemark. Bei diesem Ausflug, den ich an anderer Stelle geschildert, darf ich hier nur einen Moment glücklichen Zurückerinnerns verweilen. Kein Wort also von der anziehenden Landesausstellung in Kopenhagen und den fröhlichen Festen im Kreise der dänischen Schriftsteller und Künstler; kein Wort von dem Zauber der taghellen Juninächte in Schweden, von unseren Fahrten auf dem Mälarsee, dem Besuche Göteborgs und der Trollhättafälle! Zwei Männer jedoch muß ich hier nennen, deren Erscheinung mir unvergeßlich ist. Zwei Männer, himmelweit verschieden in Stellung und Persönlichkeit und doch beide unsichtbar miteinander verbunden durch dasselbe goldene Band: die Musik. Ich meine den dänischen Komponisten Niels Gade und den König Oskar II. von Schweden. Die beiden kann ich nicht fortlassen »aus meinem Leben«.

Gade, den ich einige Jahre zuvor auf einer Hamburger Musikfahrt flüchtig kennengelernt, kam mir in Kopenhagen aufgrund dieser kurzen Begegnung wie ein alter Freund entgegen. Er war damals ein lebhafter Jüngling von zweiundsiebzig Jahren, mit rosig frischer Gesichtsfarbe, leuchtend blauen Augen, klein, heiter und beweglich. Im Thorwaldsen-Museum, dem Stolz von Kopenhagen, machte er mir und meiner Frau den unermüdlichen Cicerone, ebenso am folgenden Tag in dem historisch merkwürdigen Schloß Fredricksborg. Durch die üppigsten Buchenwälder führte er uns nach seiner bescheidenen lauschigen Sommerwohnung in Fredensborg, wo er im Kreise seiner Familie behaglich waltete. Wir kamen auf seine Jugendzeit zu sprechen. Gade war ursprünglich für das Tischlerhandwerk bestimmt, hatte sich aber in seinen Mußestunden zum tüchtigen Geiger ausgebildet und nicht geruht, bis seine Eltern ihm erlaubten, sich ganz der Musik zu widmen. Er nahm sich vor, »etwas Großes zu werden« und obendrein noch vor dem fünfundzwanzigsten Jahre. Zur steten Erinnerung daran nagelte er ein Plakat über sein Bett mit der Aufschrift: »25 Jahre!« Noch vor diesem Termine hatte er sein Vorhaben durchgesetzt und seinen Namen durch die »Ossian«-Ouvertüre[383] berühmt gemacht. Einen großen Fortschritt bedeutete gleich seine erste Sinfonie, deren Aufführung 1843 im Leipziger Gewandhause Mendelssohn leitete. Der Brief, mit welchem Mendelssohn den ihm gänzlich unbekannten jungen Komponisten beglückwünschte, gehört zu jenen unvergänglich schönen Zeugnissen werktätigen Wohlwollens, an denen Mendelssohns Leben so reich ist. Gades Mutter fand ihn, den Brief in der Hand, mit Tränen in den Augen, in großer Bewegung stammelnd: »Da muß Jemand dahinter stecken, der mich zum besten haben will!« Erst als man ihn überzeugt hatte, daß der so herzlich anerkennende Brief wirklich von Mendelssohn sei, brach der Jubel los. Die »Nachklänge aus Ossian« und die erste Sinfonie, womit der junge Gade als eine fertige Persönlichkeit in die Öffentlichkeit getreten war, wirken heute nicht mehr mit dem Zauber ihres ersten Erklingens; merkwürdige Erscheinungen in unserer musikalischen Romantik bleiben sie immerhin. Unnütz, darüber zu klagen, daß Gade jetzt so vollständig zu den Toten geworfen wird. Es ist wahr, seine musikalische Phantasie besaß, wie jene Spohrs, nur ein Geleise, aber dieses war sein Eigentum. Wer Gade persönlich gekannt, den hat der Tod dieses edlen, bezaubernd liebenswürdigen Menschen (1890) tiefschmerzlich bewegt.

In Stockholm erfreute mich, bald nach meiner Ankunft, der Besuch des königlichen Bibliothekars Frithjof Cronhamn. Dieser feingebildete junge Musikgelehrte kam im Auftrag des Königs, der mich zu sich auf das Schloß entbieten ließ. Ich möge ohne weiteres im Reisekleid kommen, fügte der Abgesandte gleich hinzu, meine bedauernde Einwendung voraussehend. König Oskar II., eine hohe majestätische Gestalt mit leicht ergrautem Haar, ruhigen Bewegungen und sehr ernstem, sinnenden Blick, bewillkommnete mich mit den freundlichen Worten, er habe einiges von mir gelesen und vermute, es würde auch mir nicht unerwünscht sein, eine Unterredung mit ihm zu führen. Gewiß, in hohem Grade. Wußte ich doch, daß es gegenwärtig keinen Monarchen in Europa gibt, der mit so gründlicher musikalischer Einsicht und aus dem innersten Gefühle heraus die Tonkunst in seinem Lande fördert. Unermüdlich ist die Tätigkeit des Königs für die von Gustav III. anfangs mit kärglichen Mitteln und in kleinem Umfange gestiftete »Schwedische Musik-Akademie«. Oskar II. hat als Kronprinz neun Jahr lang dieser Anstalt als Präses vorgestanden; nicht bloß als »Ehrenpräsident«, sondern als tatsächlich[384] leitendes Oberhaupt. In dieser Eigenschaft hat Prinz Oskar Fredrick durch seine beständige Anwesenheit bei den Sitzungen und seine häufigen Besuche während der Lehrstunden die Akademiker, Professoren und Schüler zu erhöhtem Eifer für ihre Kunst ermuntert und überhaupt wie mit einem Zauberschlage die früher kränkelnde Anstalt zu rascher Blüte gehoben. Bei allen in den Jahren 1864 bis Ende 1871 vorgekommenen feierlichen Anlässen und Gedenktagen hat Oskar II. (damals Kronprinz) persönlich die Festrede gehalten. Diese (von Emil Jonas in deutscher Übersetzung herausgegebenen) Reden bilden ein merkwürdiges Dokument für die musikalische Kulturarbeit des Königs wie für seine hohe, ideale Geistesrichtung. Nach seiner Thronbesteigung hat er zwar die persönliche Leitung der Anstalt niedergelegt, aber das Protektorat darüber behalten. König Oskar, der mir einen Fauteuil gegenüber dem seinen angeboten hatte, erhob sich nach einigen Minuten, um, seiner Gewohnheit gemäß, das Gespräch auf- und abschreitend fortzusetzen. Er spricht mit ungemein wohlklingendem Organ das Deutsche vollkommen korrekt, nur hin und wieder vor der Wahl eines bezeichnenden Ausdrucks etwas innehaltend. Mit lebhafter, ja bewundernder Aufmerksamkeit folgte ich den Ausführungen des Königs, die nicht bloß über musikalische Zustände seines Landes, sondern auch über ästhetische Fragen, z.B. Programmusik, sich lichtvoll und zusammenhängend verbreiteten. Seinem Volke gegenüber gilt König Oskar als pflichttreuer mildgütiger Monarch; in seinem Verhältnis zur Musik ist er ein ganz einziger. Bei allem Entzücken über die Sehenswürdigkeiten Schwedens würde ich jede derselben lieber missen als die Erinnerung an König Oskar II.

Quelle:
Hanslick, Eduard: Aus meinem Leben. Kassel, Basel 1987, S. 382-385.
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