Begegnungen mit Holtei.

[163] Als ich während meiner »Lehrjahre« in Weimar Karl v. Holtei kennen lernte, war er doppelt so alt als ich, ein Verhältniß, das bekanntlich zwischen denselben Personen nur einmal stattfindet, sich nie erneuernd. Trotz der Kluft, die den dreißigjährigen, talentreichen, fast berühmten Mann trennte von dem knabenhaften Schüler Hummel's, verkehrte er öfter mit mir. Die Möglichkeit eines derartigen Umganges liegt in einem Kunstgriffe, welchen ich hiermit enthülle und jungen Leuten empfehle – er heißt: Zuhören. Wenn man geistreiche Menschen, die gern sprechen, nie unterbricht, nur so viel sagt, als nöthig, um ihnen Gelegenheit zu geben, fortzufahren, wird man sie leicht für sich gewinnen – möglicherweise werden sie sogar den schweigenden Zuhörer beredt finden. Man kann unmöglich auf leichtere, nützlichere Weise zu einer derartigen Anerkennung gelangen.

Eines Tages begegnete ich Holtei nicht weit vom Goethe'schen Hause, er schritt wankend auf mich zu und ergriff meinen Arm. Sein Antlitz war hoch geröthet, er sprach laut, gebrauchte vorzugsweise Interjectionen, gesticulirte in großen Zügen – in Einem[164] Worte: er war, was man hier zu Lande angesäuselt nennt – stark angesäuselt. Niemals noch hatte ich ein solches Schauspiel in nächster Nähe erlebt; es wurde mir etwas bänglich zu Muthe, und ich brachte so schnell, als es eben möglich war, den langen schlanken Dichter auf eine einsame Bank der damals noch wenig angebauten Straße, die nach Belvedere führt. Seine pathetischen, etwas incohärenten Ergüsse enthielten wiederholt einen weiblichen Vornamen, von welchem die böse Welt behauptete, er habe das Vorrecht, den Dichter leidenschaftlich zu interessiren. Als er etwas sprechmüde geworden zu sein schien, brachte ich ihn nach seiner Wohnung und verließ ihn. Nach wenigen Tagen verließ er Weimar; jene Situation aber hatte sich mir in unauslöschlicher Weise eingeprägt.

Lange, lange Jahre vergingen, ohne daß ich in irgend eine Beziehung zu Holtei gekommen war – er hatte den größten Theil seines bunten, schicksalsvollen Lebens hinter sich, als ich in dem interessanten Buche Eduard Hanslick's über das frühere Wiener Concertleben als Anmerkung den Auszug eines Briefes des Dichters an den Aesthetiker fand. Letzterer hatte auf eine Anfrage beziehentlich Hummel's die charakteristische Antwort erhalten: »Ihm (Holtei) hätten alle Clavierspieler ungefähr denselben Eindruck gemacht – er nehme Hummel aus, wenn er phantasirte und besoffen war.« Groß und gerecht war meine Entrüstung, denn mein wackerer Meister war der mäßigste, nüchternste nicht allein aller Tonkünstler, aller Menschen gewesen, die ich gekannt. Das regelmäßige, zurückgezogene Familienleben, das er in Weimar führte, gab ihm nicht einmal zu einem sporadischen Excesse Gelegenheit. So ließ ich denn in einer vielgelesenen Zeitung die schlimmen Worte drucken, »ich begriffe Holtei's Aeußerung, nur müsse nach dem Wörtchen ›und,‹ das Wörtchen ich eingeschaltet werden.«

Gegen Ende der Sechziger Jahre projectirte ich einen Ausflug nach Breslau. Mein älterer Bruder, der meinem Thun und Treiben mit der aufmerksamen Liebe folgte, wie eine junge Mutter dem ersten Lächeln ihres Kindes, schrieb mir: »Du findest Holtei in Breslau – sicherlich hat man ihm deine Aeußerung mitgetheilt – wie wirst du es gegen ihn halten?« Ich war etwas betroffen, jedoch – kommt[165] Zeit, kommt Rath, sagte ich mir und reiste getrost nach der schlesischen Hauptstadt. Gleich am ersten Abend nach meiner Ankunft traf ich im gastfreundlichen Hause des Stadtraths Franck (Bruder des mir befreundeten trefflichen Tonkünstlers Eduard Franck in Berlin) mit Holtei zusammen. Die vierzig Jahre, die seit unserem ersten Zusammentreffen vergangen, waren im Handschlage ausgelöscht. Er weiß von nichts, sagte ich mir, und horchte wie ehedem dem unermüdlichen, geistreichen Plauderer, der sich, angeregt durch den Hinblick auf vergangene Zeiten, sehr reactionär aus sprach. Wer sollte im Alter auch an den Fortschritt glauben? Die goldene Zeit bleibt in alle Ewigkeit für Jeden die Zeit seiner Jugend. Schon am folgenden Abend fand ich Holtei wieder im Franck'schen Hause, zu welchem er in intim freundschaftlichem Verhältnisse stand. Er erzählte eine tolle Geschichte, ich erinnere mich nicht des Inhalts – aber ich war veranlaßt, auszurufen: »Ist das möglich?« – »Glauben Sie, ich sei besoffen?« erwiderte der Dichter. Er weiß es, dachte ich, und es überlief mich eiskalt. Jedoch Holtei erzählte unermüdlich weiter, und nichts konnte im spätern Verlaufe des Gesprächs meine Sorge bestätigen, daß jene sonderbare Frage aus der Wissenschaft meines kecken Angriffs hervorgegangen sei.

Am andern Morgen hatte ich den Besuch eines Breslauers pur sang – ich trug ihm den ganzen Hergang der Begebenheiten vor und fragte ihn, ob er glaube, daß Holtei eine Anspielung habe machen wollen. »Keineswegs,« erwiderte er, »das sagt man so bei uns – es ist ein schlesischer Ausdruck.« So recht überzeugt war ich nicht von der Reellität eines solchen Provincialismus, indeß durfte ich mich umsomehr beruhigen, als der Dichter sich stets gleichmäßig freundlich und liebenswürdig gegen mich benahm und nichts darauf hindeutete, daß im Hintergrunde auch nur ein leisestes Grollen verborgen sei. Als ich ihm meinen Abschiedsbesuch machte, ersuchte er mich um ein Manuscript – je länger, je lieber. Er machte sich nichts aus kleinen Autographschnitzeln, äußerte er – aber er habe eine Sammlung von längern Arbeiten in der Handschrift der Verfasser. »Was könnte mir schmeichelhafter sein, als Ihr Wunsch,« sagte ich,[166] »aber meine literarischen Manuscripte, die sich freilich durch ihre Seltenheit auszeichnen, verschwinden sammt und sonders im Abgrunde der Buchdruckereien.« – »Lassen Sie einen Ihrer künftigen Aufsätze abschreiben«, erwiderte er, »und schicken Sie mir das Manuscript.« Diese Manipulation erschien mir ebenso einfach als zweckmäßig – – ich versprach die kostbare Sendung und benutzte nach einigen Monaten die erste Arbeit, zu der ich Veranlassung fand, um mein Wort zu halten. Holtei dankte in den verbindlichsten Worten – man denke sich jedoch meinen Schauder, als ich an ein Postscriptum gelangte, welches folgendermaßen hieß: »Und er war doch besoffen – freilich durch seinen eigenen Champagner, den er uns mit wahrer Verschwendung angeboten!«

Hatte Holtei von meiner Unart in Breslau schon gewußt? Ist er erst später damit bekannt geworden? Ungelöst wird diese Frage durch alle künftigen Jahrtausende sich hinziehen. Freundlich und gescheit benahm er sich in jedem Falle. Vielleicht war die Erinnerung an jenen Vornamen, der sich mit der meinen an seine irdische Schwäche verband, von besänftigender Wirkung auf den gutmüthigen Dichter gewesen, der ein so wechselvolles Leben durchlebt hat und wohl mit dem westöstlichen Dichter an der Pforte des Paradieses sagen durfte:


Nicht so vieles Federlesen!

Laß' mich immer nur herein;

Denn ich bin ein Mensch gewesen,

Und das heißt ein Kämpfer sein.

Quelle:
Hiller, Ferdinand: Erinnerungsblätter. Köln 1884, S. 163-167.
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