Zweiundfünfzigstes Kapitel

Krankenbesuche.

[178] Erfährt man von schwerer Erkrankung eines Bekannten, so hat man sich sofort in dessen Haus zu begeben, um Erkundigungen über ihn einzuziehen.

Man darf aber nie drängen, bei ihm eingelassen zu werden, wenn die ihn pflegende Person nicht hierzu auffordert.

Man schickt dann des öfteren zu ihm, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen, macht indessen nicht eher seinen Besuch, als bis man hoffen darf, vorgelassen zu werden.

Wenn man einen Kranken das erstemal besucht, nimmt man ihm eine Blume, eine Erfrischung mit.

Bei einem Kranken spricht man leise und von harmlosen Dingen. Man sage es einem Kranken nie, wenn man ihn übel aussehend findet. Im Gegenteil, man versichere ihm immer, daß sich sein Aussehen gebessert habe, oder, wenn man ihn vorher[178] nicht gesehen, daß man ihn gar nicht schlimm aussehend finde. Es ist überhaupt taktlos, einem Menschen zu sagen, daß er schlecht aussieht. Auch soll man einen Kranken nicht dadurch reizen, daß man ihm sein Leiden gänzlich auszureden sucht. Das nehmen manche Kranke, besonders wirklich Schwerkranke, sehr übel. Hypochondern hingegen soll man ihr meist eingebildetes Leiden möglichst wegschwatzen oder sie durch Zerstreuungen abzuziehen suchen.

Man entfernt sich, sowie man merkt, daß man einem Kranken lästig wird.

Die Besuche, die einem während einer Krankheit gemacht wurden, hat man nach der Genesung zu erwidern.[179]

Quelle:
Kallmann, Emma: Der gute Ton. Berlin 1926, S. 178-180.
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