Grüßen.

[35] In Deutschland ist es Sitte, daß der Herr die Dame zuerst grüßt und zwar geschieht dieses, indem der Herr stillschweigend den Hut abnimmt, ihn einen Augenblick, in der Höhe des Kopfes, zur Seite hält, ehe er ihn wieder aufsetzt. Keinesfalls darf er sich, außer bei ihm Nahestehenden, erlauben, etwa nur mit zwei Fingern nachlässig die Krempe des Hutes zu berühren, oder gar gnädig mit dem Kopfe zu nicken und: »guten Tag« zu sagen. Raucht der Herr aber, so ist vor dem Gruße die Cigarre mit der linken Hand aus dem Munde zu nehmen. Zuerst gegrüßt werden ferner Aeltere und Höherstehende. Sollten diese den Grüßenden anreden, so erfordert der Anstand, daß der Jüngere so lange den Hut in der Hand behält, bis man ihn auffordert, sich zu bedecken, mit welcher Bitte nicht zu lange gezögert werden darf. Damen haben selbstverständlich[35] nur Aeltere oder Höherstehende ihres eigenen Geschlechts zuerst zu grüßen, im übrigen aber den Gruß des Herrn zu erwarten und mit einer leichten Neigung des Kopfes und Oberkörpers zu erwidern. Es ist zu beanspruchen, daß die Dame beachtet, ob man sie grüßen will, nicht etwa aus falscher Blödigkeit den Kopf geflissentlich zur Seite wendet, wenn ein bekannter Herr sich nähert. Jeder unbeachtete Gruß hat für den Grüßenden etwas leicht Verletzendes. Muß ich auch sagen, daß man beim Grüßen die Menschen ansieht? Der reitende Herr grüßt, indem er die Reitpeitsche mit dem Knopfe leicht an den Hut legt, bis der Bekannte vorübergegangen ist. Der Lenker eines Wagens senkt die Peitsche zur Erde.

Redet man Jemanden auf der Straße an, etwa um eine Auskunft, oder Feuer für seine Cigarre, zu erhalten, so ist dabei der Hut zu lüften, welche Höflichkeit von dem Andern zu erwidern ist. Trifft es sich, daß der Herr sitzt, etwa vor dem Caféhause, oder der Promenade, während eine bekannte Dame oder Respectsperson nahe an ihm vorübergeht, so hat der Herr sich während des Grußes zu erheben. Ob man beim Begrüßen einander die Hand reicht, hängt von der mehr oder weniger nahen Bekanntschaft ab, in der man zu einander steht. Als Regel gilt, daß Herr und Dame von jedem Aelteren oder Höherstehenden dieses Zeichen freundschaftlicher Gesinnung zu erwarten hat, nicht aber unbescheiden die Hand zuerst ausstreckt.

Ist man auf der Straße in Gesellschaft Dritter, die einen Vorübergehenden grüßen oder von ihm gegrüßt werden, so hat sich der Herr dem Gruße anzuschließen. Außerdem ist es höflich, auch dann zu grüßen, wenn man Jemanden etwas überreicht oder etwas zu Boden Gefallenes aufhebt.

Quelle:
Kistner, A.: Schicklichkeitsregeln für das bürgerliche Leben. Guben 1886, S. 35-36.
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