Lob und Tadel.

[93] Das Loben ist eine freudige Aufgabe, der wir uns gern unterziehen. Aber die Art und Weise, wie es geschieht, wird wohl sehr verschieden sein müssen. Anders loben wir ein Kind als einen Erwachsenen, anders einen uns Gleich- oder Höherstehenden, als einen von niederem Stande.

Denen gegenüber, die mit uns auf gleicher Stufe stehen, werden wir Worte der Anerkennung finden, unserer Freude Ausdruck geben, daß ihnen dieses oder jenes so wohl gelungen ist; wir werden ihnen vielleicht sogar unsere Bewunderung zeigen, loben im gewöhnlichen Sinne des Wortes können wir weder sie, noch Einen, der über uns steht an Jahren, Rang, an Bildung und Wissen.

Spricht man sein Lob in dieser oder jener Form aus, so hat wohl selten der Gelobte es übel genommen, wenn die halbe Welt es hörte; nein, es schmeichelt seiner Eitelkeit, hob seinen Ehrgeiz, wenn solches der Fall war.

Anders verhält es sich mit dem Tadel, der dadurch, daß er an die Oeffentlichkeit tritt, doppelt verletzt, ja wohl gar zu einer Ehrenkränkung führt. Darum sage man der betreffenden Person möglichst unter vier Augen, was man ihr zu sagen hat, und können wir das nicht, so doch mit gedämpfter Stimme, und stelle den zu Tadelnden nicht durch lautes Schelten, Drohen oder Strafen an den Pranger.

Je ruhiger, je entschiedener und kürzer der Tadel ertheilt wird, um so wirksamer wird er sich erweisen.[93] Er soll niemals nur der Ausdruck unseres Aergers, unseres Unwillens sein, sondern zugleich auch eine Warnung, eine Aufforderung zur Besserung, eine Beweisführung des begangenen Unrechts enthalten, so daß der Getadelte zur Erkenntniß und Neue kommt. Sieht man dieses bei ihm, ist der Zweck des Tadels erreicht.

Aber auch im anderen Falle darf der Tadel nie in Schelten und Brummen ausarten. Es ist eine entsetzliche Eigenschaft mancher Leute, immer wieder auf das zurückzukommen, was sie in einer Strafrede bereits gründlich erschöpft haben. Dadurch erwirken sie weiter nichts als Bitterkeit und Gleichgiltigkeit, und machen sich zur Folter für ihre ganze Umgebung. Hat man verziehen, so sei es von Herzen, aber man suche dann zu vergessen. Es giebt einen schönen Spruch, der heißt:


Das Vergeben ist nicht schwer,

Doch vergessen um so mehr!


Man sei freigiebig im Loben, sparsam mit dem Tadel.

Man tadele nie in der ersten Heftigkeit. Wer sich aber von seinem Zorn so hinreißen läßt, daß er zu Thätlichkeiten kommt, den kann ich nur bedauern, denn die Ohrfeige, die er dem Andern applicirt, hat er in den Augen jedes gebildeten, seinen Menschen sich selbst verabreicht.

Quelle:
Kistner, A.: Schicklichkeitsregeln für das bürgerliche Leben. Guben 1886, S. 93-94.
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