1.

[3] Die ersten vier Jahre meines Lebens verträumte ich, ohne Vorstellungen zu Träumen, in völligem Unbewußtseyn meines Daseyns. Die Kindheit ist ein Morgendämmer voll Träume, in welchen uns oft ein Strahl der wahren Aurora, uns selbst unbewußt, sichtbar wird. Wer mögte nicht zurückgehen in diese glückliche Zeiten, um in ihrem Angedenken den süßen Frieden und die reine Freudigkeit ihrer Hoffnungen sich wieder zu geben? Soviel auch im Leben die Verhältnisse[3] dem Gemüth eine andere Gestalt geben, dennoch läuft die erste Freude und das erste Leid der Kindheit, wie eine Pulsader, unverändert fort durch das Gewebe des Lebens, und wird immer die Hauptlinie seiner Richtung bleiben.

Von meiner Geburt an mogte meine Mutter meine Gestalt nicht leiden, da ich meinem Vater ähnlich sah, den sie ungern zum Manne genommen, und dessen Betragen gegen sie nicht liebreich war. Ich mußte nun die Gestalt büßen, die ich mir nicht gegeben hatte; der Haß, den meine Mutter gegen ihren Mann nicht äußern durfte, fiel in seiner ganzen Gewalt auf mich nieder. Meiner armen Mutter war es zu verzeihen, wenn sie den Widerwillen nicht überwinden konnte, den diese Aehnlichkeit in ihr erregte. Auch war es eine harte Prüfung, daß ihr zartfühlendes Auge noch einmal[4] mit dieser Physiognomie gedrückt wurde; und hart war es von der Natur, daß sie in jenen Tagen, wo meine Mutter die tiefsten Wunden des Schicksals trug, statt sanft mich an ihre Brust zu legen, mich auch dadurch ihr zuwider machte, daß ich in den ersten sechs Wochen meines Lebens unaufhörlich schrie. So wurde ihr denn durch mich, und ohne mein Verschulden, die einzige Erquickung, welche die Bekümmernisse ihr übrig ließen, der Schlaf, geraubt. Sie war von sehr reizbaren Nerven und allzuzarter Empfindlichkeit; sie kannte gegen Schmerz und Angst kein anderes Mittel, als eine furchtsame Geduld, denn einer philosophischen war sie nicht fähig; ob sie gleich eine große Denkerin war. So klein und unbeträchtlich auch ihre Geschäfte seyn mogten, fühlte sie dennoch ungeduldig den Druck, den die weibliche Pflichten ihr auflegten;[5] und indem sie sich kleine Uebel durch ihre Empfindlichkeit zu wirklichen Leiden machte, schuf sie sich selbst ihre größten Mißgeschicke, in welchen sie dann mit ihren Klagen nicht auf sich zurückgieng; sondern jedes Wesen, welches in ihre Haussphäre innen lag, damit quälte. So klein für den engen Kreis ihrer Pflichten ihr Geduldsfaden war, so lang, stark und golden spann sie ihn aus, wenn es darauf ankam, ihre thätigen Kräfte der Dienstfertigkeit und Menschenliebe herzugeben; ja eben, indem sie für jemand den Scheiterhaufen der Verdammung angezündet hatte, durfte man nur klagen über irgend einen fremden Schmerz, der nicht ihr Werk war, sogleich löschte sie die eignen Flammen und gieng emßig, Linderung für den fremden Schmerz zu suchen. War man aber kaum nur abgekühlt, so gieng die Qual von neuem an, denn ihre Phantasie wollte einmal keine Ruhe haben.

Quelle:
[Klencke, Karoline von]: Leben und Romantische Dichtungen der Tochter der Karschin. Als Denkmal kindlicher Liebe herausgegeben von Helmina, Frankfurt a. M. 1805, S. 3-6.
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