Der Gruß

[68] Es ist bei uns Sitte, eine Dame auf der Straße zuerst zu grüßen, während man in anderen Ländern, z.B. in England, wartet, ob die Dame gesehen und gegrüßt sein will und die Dame zuerst grüßen läßt. So unwichtig diese Bagatelle an sich ist, so bemerkenswert wird sie, wenn man berücksichtigt, daß man bei uns gerade jetzt daran geht, den Gruß zu reformieren. Die Sitte des Hutabnehmens, wie sie besonders in Deutschland gang und gäbe ist, wirkt veraltet und namentlich in ihren Nuancierungen lächerlich. Der Deutsche grüßt jeden anders. Den Vorgesetzten ehrerbietiger als den Freund, eine flüchtige Damenbekanntschaft tiefer als die eigene Frau. Der Deutsche hat überhaupt eigenartige Begriffe vom Hutabnehmen. In jedem Laden, in jedem Amtsgebäude, in jedem Geschäftshaus, in jeder Kunstausstellung nimmt er den Hut ab. Warum – aus Ehrfurcht. Aus derselben Ehrfurcht, aus der heraus Studenten ihre Köpfe voreinander entblößen. Die Franzosen, die doch wirklich als galant gelten und es im wesentlichen auch sind, genieren sich keineswegs, eine Dame auf der Straße mit einem kräftigen Händedruck zu begrüßen. Und der[69] junge Brite, der der Londoner City entronnen, zu seinem Häuschen nach Hampstead hinausfährt, begrüßt die Gattin durch einen Handkuß viel richtiger, als durch einen Gruß, den er jedem anderen gleicherweise schuldet.


Der Gruß

Nun wird man sagen, in Deutschland grüßt nur in seltenen Fällen der Mann seine Frau, wenn er sie auf der Straße trifft. Das hat aber andere Ursachen. Die des absoluten Mangels an Manieren. Wenn ein Deutscher einen Schutzmann nach einer Straße fragt, wenn er sich bei einem Straßenbahnschaffner nach einer Fahrgelegenheit erkundigt, so lüftet er stark und steif den Hut. Wenn Amerikaner oder Engländer flüchtiger Bekanntschaft sich treffen, gibt es ein shake-hands, keine Kopfentblößung. Gewiß ist es sehr nett, wenn man ältere Damen, würdige Herren, nahe Bekannte durch tiefes Hutabziehen ehrt, aber gibt es keine anderen Möglichkeiten, seine Achtung zu beweisen?

Man hat »pro Gentilezza« vorgeschlagen, den Hut gleich in die Hand zu nehmen, und man hat versucht, den militärischen Gruß auch für das Zivil einzuführen. Beides ist gleich ungeheuerlich.

Zu Pferde grüßt man nur mit der freien Hand, man nimmt die Peitsche in die Linke. Der Polospieler darf eventuell durch Senken seines Schlägers grüßen, wie der Offizier durch Neigen des Degens, der Fahrer durch Senken der Peitsche.

Das ist der Gruß auf der Straße. Die Begrüßung im Salon erfolgt durch eine Verbeugung, einen sogenannten Diener. Sage mir, wie du dich verbeugst – – – Viele Leute wissen nicht, wo sie bei einer Verbeugung ihre Hände lassen sollen. Ob sie sie dem Vorgestellten reichen sollen oder nicht. Das führt dann zu den merkwürdigsten Komplikationen und Verrenkungen.

Bei Damen erleichtert der Handkuß da viele Unannehmlichkeiten, und ein Handkuß sieht immer chevaleresk aus.

Der Deutsche verlangt die formelle Vorstellung, die Namensnennung.

Also eine Dame, die man bei einem fünfzigköpfigen Diner flüchtig kennen lernte, muß man sogar grüßen. Das ist unnötig kompliziert.


Der Gruß

Die Damen haben es einfach. Sie nicken mit dem Kopf. Stärker oder weniger stark, mehr oder minder liebenswürdig. Hinter ihrem Schleier können sie alles sehen, alles verbergen.

Der beste Gruß braucht keine Geste, keine Bewegung.[70] Auch ein Blick ist ein Gruß. Ein Blick zwischen zwei Menschen, die sich scheinbar fremd in großer Gesellschaft gegenüberstehen. Ein halb versteckter, verschleierter Blick, ein Augenaufschlag: Ich grüße dich – du – weißt du noch gestern? –

Und doch – eine Begrüßung gibt es, die durch keine übertroffen werden kann – das kameradschaftliche Handschütteln – das shake-hands. –

Quelle:
Koebner, F. W.: Der Gentleman. Berlin 1913, [Nachdruck München 1976], S. 68-71.
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