Jakob Loew und Maria Theresia von Traiteur.

[13] Ich habe immerdar gefunden,

Daß den Arzt vergessen die Gesunden;

Hat er zur Gesundheit sie geführet,

Wird ihm kaum der Dank, der ihm gebühret –

Und doch gibt's kein edler' Selbstvergessen,

Als sein Beruf dem Arzte zugemessen.


Unser Großvater, Jakob Loew, war der Sohn des Hofperückenmachers Nikolaus Loew. Wir haben uns also wieder nach Bruchsal zu begeben.

Soviel ich weiß, war Jakob das einzige Kind seiner Eltern. Als er geboren wurde, war in der Kaffeegaß alles noch beim alten. Es gab da große und kleine Perücken, welche dressiert, Zöpfe, welche geflochten, Locken, welche gebrannt wurden, und es lag nicht nur auf diesem Haarwerk, sondern auf der ganzen Werkstätte stets ein feiner Schleier von Puder, wie ein dünner Nebel auf der Landschaft liegt. Am Samstag Abend trugen die Gehilfen die Allongeperücken und die anderen in die Residenz, und wie der kleine Jakob größer wurde, durfte er die Gehilfen auf diesem Gange begleiten. Der kleine Jakob ging für sein Leben gern »nach Hof«. Er nahm die Bezeichnung »nach Hof« jedoch in seinem Sinne auf. Er ging nämlich nicht in das Schloß hinein, sondern er blieb im Hof zurück und betrachtete die Goldfischchen. Wie manches Stückchen Brot mag er seiner Mutter abgebettelt haben, um die Fischchen damit zu füttern.

Ich meine, ich sehe ihn an dem Bassin stehen in braunen Pumphöschen, scharlachrotem Jäckchen, blauer Weste und weißer Halskrause. Auch sein Köpfchen ist gepudert, und auf den gestäubten Löckchen sitzt ein kleiner dreieckiger Hut, mit goldenen Borden eingefaßt. Er lehnt sich über die Brüstung des Bassins und wirft den Fischlein kleine Bröckchen Brot hinunter. Das schöne Gesichtchen strahlt von Vergnügen, wenn die Fische herbeischwimmen und nach dem Brote schnappen. Auch die Fischlein sind vergnügt und schlagen mit den glänzenden Schwänzen; sie haben den freundlichen Knaben vielleicht gekannt. Der Großvater soll sehr schön gewesen[14] sein, und das Bild mit dem Tressenrock, welches wir noch besitzen, widerspricht dieser Behauptung nicht.

Es waren aber die Fischbehälter nicht allein, welche des Kindes Interesse erregten. Die Schildwachen an den Schloßtüren und die stattlichen Herren, die da aus- und eingingen, gefielen ihm auch sehr wohl, und dann, wenn ausgefahren wurde! Der große, goldene Wagen, die Laufer, die Bedienten, die Haiducken! Und nun gar die sechs Pferde! ein halbes Dutzend Pferde an einem einzigen Wagen! Der Bischof von Speyer hatte zwar als solcher nur die Befugnis vierspännig zu fahren. Der jetzige Bischof aber war ein Fürst Styrum, und als Fürst war ihm ein Sechsgespann gestattet. Und wieviel hielt man in jener Zeit auf solche Dinge! Der kleine Jakob wird nicht der einzige Bruchsaler gewesen sein, der vor Ehrfurcht und Bewunderung den Atem anhielt, wenn der Hof ausfuhr. Es scheint jedoch, daß Jakobs Entzücken besonders groß war. Das Kind fiel wenigstens dem Fürsten auf, und er ließ sich öfters in ein Gespräch mit ihm ein. Eines Tages fragte der Bischof: »Gefällt es dir bei Hof, Jakob?« In jenen Tagen war man in Titulaturen viel besser bewandert als zu unserer Zeit. Selbst die Kinder wußten in den vielen Residenzstädtchen, welche »Ehre« man einem jeden zu geben hatte. Auch verließ Jakob Loew niemals das väterliche Haus, um »nach Hof« zu gehen, ohne vorher über seine Conduite in Tun und Reden gute Lehren zu bekommen. So antwortete dem Fürsten auf seine Frage der kleine

Jakob: »Ja, Euer Durchlaucht.«

Bischof: »Hättest du Lust, immer bei Hof zu bleiben?«

Jakob: »Ja, wenn Durchlaucht gnädigst gestatten.«

Bischof: »Ich möchte dich behalten, aber du müßtest tüchtig lernen. Willst du lernen, Jakob?«

Jakob: »Ich will Doktor lernen, Durchlaucht.«

Bischof: »Es bleibt dabei, du wirst Doktor.« –

Der Bischof sprach mit den Eltern, und die Eltern waren hocherfreut. Der kleine Jakob wurde Student und studierte Medizin. Als aber der Student Loew auf einer deutschen Universität den Doktorhut errungen hatte, da schickte ihn sein Gönner und Herr, der Fürst Styrum, noch auf ein Jahr nach Paris; gleichsam um seiner Erziehung noch die Krone aufzusetzen. Von seines Vaters[15] Aufenthalt in Paris erzählte unser guter Vater eine Anekdote, welche ganz unwahrscheinlich klingt, von unserem Vater jedoch als verbürgte Tatsache geglaubt wurde.

Der junge Doktor, Jakob Loew, schlenderte eines Tages durch die Straßen von Paris. Es schlenderten noch viele Menschen mit ihm und hinter ihm; dies war nicht auffallend.

Auf einmal bückte sich ein elegant gekleideter Herr, der vor ihm hergeht, und hebt etwas Glänzendes vom Boden auf. Zu gleicher Zeit springt von rückwärts ein anderer Herr vor und ruft: »Halbpart!«

Unwillkürlich bleibt unser Großvater stehen, und der erste Herr wendet sich mit der Frage an ihn: »Sie werden mir bezeugen, mein Herr, daß ich allein dieses Brillantkreuz gefunden habe?«

Loew: »Allerdings.«

Zweiter Herr: »Nicht doch, ich habe das Kreuz im nämlichen Augenblick entdeckt, und Sie müssen mit mir teilen, und nicht nur mit mir, sondern auch mit diesem (er deutete auf unseren Großvater) jungen Herrn da; auch er hat dieses Kreuz ebensowohl gefunden als Sie und ich.«

Unser Großvater fand es sehr freundlich von dem fremden Herrn, daß er es so gut mit ihm meinte. Er blieb ruhig stehen und hörte zu, wie der erste Herr sich noch einige Zeit wehrte, aber am Ende nachgab und den Vorschlag machte, zu einem Juwelier zu gehen und das Kreuz schätzen zu lassen.

Unserem Großvater schien es zu behagen, daß er einige tausend Franken bekommen sollte, wie vom Himmel gefallen. Der erste Herr ging voraus, der junge deutsche Doktor in der Mitte und der zweite Herr hinter ihm drein. Die Herren führten ihn durch allerlei Gassen und Gäßchen, in ein Stadtviertel, in welchem er völlig unbekannt war. Sie traten in ein Haus und stiegen treppauf, treppab, durch allerlei Winkel und Gänge. Endlich hielten sie still und befanden sich in einem eleganten Zimmer. Der eine Herr ging fort, um den Juwelier zu holen, und der andere lud unseren Großvater ein, sich auf einer Ottomane niederzulassen. Sie hatten nicht nötig, lange zu warten. Der erste Herr kam wieder und brachte den Juwelier mit sich; man gab ihm das Kreuz zum Beschauen. Er schätzte es auf 8000 Frks. Die Herren fragten, ob er es um[16] diesen Preis ankaufen wolle. Er erklärte sich dazu bereit, verlangte aber eine Bescheinigung, damit er sich ausweisen könne, im Fall der Eigentümer des Kreuzes sich wiederfinden sollte. Die drei Herren erklärten sich ihrerseits bereit, die Quittung auszustellen. Der Juwelier verschwand auf einige Minuten, kam wieder und zählte die 8000 Frks. auf den Tisch. Ein Herr verteilte das Geld in drei gleiche Teile, und ein jeder strich seinen Anteil ein, unser Großvater auch. Der Juwelier legte einige Bogen Papier auf den Tisch. Auf dem obersten Bogen war der Kopf zu einer Quittung aufgesetzt, und er forderte die Herren auf, zu unterschreiben. Die beiden fremden Herren schrieben ihre Namen rasch hin und gaben unserem Großvater die Feder in die Hand, welcher im guten Glauben ebenfalls unterzeichnete: Iakob Loew, Dr. med. – Das Papier war jedoch Blendwerk der Hölle. Der oberste Bogen ward weggezogen, und der Juwelier eröffnete ihm: »Mein Herr, Sie sind im Dienste der Marine Sr. Majestät des Königs von Großbritannien. Das Handgeld haben Sie bereits eingestrichen.« Als unser Großvater bemerkte, daß er unter Seelenverkäufer geraten war, was geschah ihm da? Ich höre Eure Antwort: Der Verstand stand ihm still. – Aber im Gegenteil! Sein Verstand bewegte sich sehr lebhaft. Er warf ihnen das Geld hin und fing an, ganz fürchterlich zu schimpfen. Die Werber aber lachten ihn aus. Wie unser Großvater sah, daß das Schimpfen nicht helfen würde, griff er die Sache anders an; er drohte, und er drohte nicht ungeschickt. Er sagte: »Glauben Sie ja nicht, daß ich ohne Bekanntschaft bin in Paris. Man wird mich vermissen, man wird mich suchen; ich stehe unter dem Schutze der österreichischen Gesandtschaft.«

Das wirkte. Obgleich die Fremden Lügner waren, sahen sie doch ein, daß unser Großvater die Wahrheit sprach. Sie ließen ihn gehen, nachdem er feierlich versprochen hatte, sie nicht verfolgen zu wollen. – Also hat der Vater den Hergang uns oft erzählt, und der Großvater wird ihn noch öfter erzählt haben, als er in Paris fertig studiert hatte und wieder daheim in Bruchsal war. Ich denke, später war er nicht mehr so schnell bereit, »Halbpart« zu machen.

Seine Durchlaucht, der Fürst Styrum, waren höchlichst zufrieden mit Deren Schützling und stellte ihn an als Hochdero Leibarzt.[17] Unser Großvater soll ein guter Arzt gewesen sein, aber auch ein heiterer, angenehmer Gesellschafter. Der Bischof liebte seinen Umgang über alles, und der Großvater mußte täglich mit ihm speisen. Ob die Urgroßeltern die Freude erlebt haben, ihren Sohn in so hohen Ehren zu sehen, ist mir nicht bekannt. Der Bischof machte jedes Jahr ein Rundreise durch sein Ländchen, um die Firmung vorzunehmen. Auf dieser Reise mußte der Leibarzt natürlich dabei sein. In dem verödeten Speyer hielten sie sich nie lange auf, aber desto länger in Deidesheim; auch hier war ein bischöfliches Schloß. Die Vermutung spricht dafür, daß dieser Zug in der Regel in der Herbstzeit nach Deidesheim gekommen sei, um die Einlieferung des Zehnten zu überwachen. Bei dieser Gelegenheit lernte der Herr Geheimderat – dies war der Titel unseres Großvaters – einen jungen Förster kennen namens Brandner. Dieser Brandner gefiel dem Großvater sehr, und sie scheinen sich gegenseitig gefallen zu haben, denn sie schlossen ein Freundschaftsbündnis; immerhin auffallend zwischen einem Löwen und einem Jäger. Eines Tages kam der Jägermeister Brandner zu Hof zu Sr. bischöflichen Gnaden, und der Geheimderat Loew war hocherfreut, seinen Freund in Bruchsal zu sehen. Er zeigte ihm in dieser Stadt alle Sehenswürdigkeiten. Ob es welche gegeben hat, weiß ich nicht, aber die Vermutung spricht dafür, daß man sie ihm zeigte. Jedenfalls waren die Goldfische da. Bei diesen Gängen durch die Stadt gab Brandner seinem Freunde zu verstehen, daß er einen Stein auf dem Herzen habe. »Ein Stein auf dem Herzen« war für einen Mediziner ein interessanter Fall. Geheimderat Loew versuchte es, diesen Stein chemisch zu untersuchen, und da zeigte es sich, daß der Stein zusammengesetzt war aus Liebe und Ängstlichkeit. Unser Großvater hielt hierauf ein vollständiges Examen mit dem Freunde, und es ergab sich, daß er bis über die Ohren verliebt, der ganze Mensch also nicht in normalem Zustand war. Der Gegenstand von Brandners Brand hieß, wie ich vermute, Klara, es ist wenigstens gewiß, daß sie im klaren waren, und daß es nur an des Vaters Einwilligung fehlte. Der Vater war der bischöfliche Oberamts-Keller von Traiteur in Deidesheim und ein sehr adelsstolzer Mann. Das von der Liebe gejagte Jägerpaar fürchtete also, der hochmütige Vater – wenn es erlaubt ist, also von unserem Urgroßvater zu[18] sprechen – werde seine Einwilligung zu einer Heirat mit einem Bürgerlichen nicht geben.

Dieser Fall machte unserem Großvater, dem Herrn Geheimderat, gar viele Gedanken. Er studierte alle Autoren, um zu ergründen, wie der Forstbrand zu löschen sei, und endlich fand er in der Tat die richtige Arznei für seinen Freund und Patienten. Der Herr Geheimderat verfügten sich zu seinem Freund und Gönner, dem Bischof. Er schilderte des Freundes Liebespein und bat um gütige Verwendung bei dem Vater, dem Tyrannen. Durchlaucht, welche selbst nicht ganz unempfindlich waren gegen das schöne Geschlecht, nahmen sich ihres Försters an. Er schrieb dem Vater einen schönen Brief, wahrscheinlich des Inhalts, daß die Liebe des Mannes für das Weib noch edler sei als selbst die Liebe des Mannes für den Adel; oder auch, daß die Töchter kein Lagerobst wären, und durch langes Aufheben nicht gewännen. Vielleicht ließ der Landesherr auch ein Wort fallen über ein kleines Nadelgeld aus der Kabinettskasse für die Frau und Erhöhung der Holz- und Wildbezüge für den Förster usw.

Unser Urgroßvater wurde weich, und seine Antwort auf das gnädige Handbillet des Landesfürsten war eine Einladung zur Hochzeit seiner Tochter, Klara von Traiteur, mit dem bischöflichen Jägermeister, Friedrich Brandner. Und nicht nur seine bischöfliche Gnaden und Durchlaucht waren eingeladen, sondern auch der ganze Hofstaat, demzufolge auch der Herr Geheimderat, unser Großvater. Der Tag der Trauung war natürlich ganz dem Ermessen des Herrn Bischofs anheimgestellt, und dieser wählte, auch natürlich, die schöne Herbstzeit. Der jugendliche Herr Geheimderat freuten sich gar sehr auf diese Hochzeit; es gab zwar in Bruchsal bei Hof auch allerlei Feste, allein sie waren nicht immer nach dem Geschmack des jungen Herrn. Überdies war unser Großvater dem Waldmenschen Brandner mit großer Zuneigung zugetan und dachte mit Stolz an den Anteil, welchen er hatte an dem Aufbau seines Glückes. Wie alle Tage kommen, die ersehnten und nicht ersehnten, so kam auch dieser Hochzeitstag. Der Bischof machte bei Gelegenheit dieser Reise seine Runde durch den Sprengel und hielt überall einen feierlichen Einzug. Junge Bürger zu Pferde, geschmückt mit Schärpen von des Bischofs Farben, holten ihn an[19] der Ortschaften Gemarkung ab. Die Schulkinder hatten weiße Kleider an, wo die Franzosen eine Glocke gelassen hatten, wurde geläutet, und wo noch so viel Geld geblieben war, um Pulver zu kaufen, wurde geschossen. Die Menschen haben zu allen Zeiten gerne Feste gefeiert. – So kam der Zug nach Deidesheim. Dieses Städtchen hatte sich durch seinen Weinbau von den Drangsalen des Krieges etwas erholt und bot alles auf, die Anwesenheit des Landesherrn und die Hochzeit von des Herrn Oberamtskellers Tochter mit Glanz zu verherrlichen. Alle Häuser waren mit Laubgewinden und Fahnen geschmückt, und der Wein ist nur so geflossen. Alle jungen Damen des Städtchens – damals Fleckens – waren Brautjungfern bei dieser Hochzeit, und sie fanden alle nicht einen einzigen Flecken an der Liebenswürdigkeit des schönen, jungen Geheimderates Dr. Jakob Loew. Wäre es unter solchen Verhältnissen nicht undankbar gewesen von unserem Großvater, wenn er von seiner Seite kalt geblieben wäre? Er tat dies aber auch nicht; er handelte unserer Familie würdig und verliebte sich. In wen? – (Siehe weiter unten.)

Der Amtskeller von Traiteur hatte noch eine zweite Tochter, welche Maria Theresia hieß. In jener Zeit war die Kaiserin Maria Theresia das Entzücken von ganz Deutschland und wird es bleiben in ewige Zeiten. Darum nannte auch der kaiserlich gesinnte Amtskeller seine Tochter Maria Theresia. Ich weiß nicht, ob der gute Urgroßvater gehofft hat, er könne seiner Tochter mit dem Namen auch den großen Verstand, das große Herz und die große Schönheit der Kaiserin verleihen, er probierte es eben, und zum Teil glückte der Versuch. Zwar schön war, glaube ich, unsere Großmutter nicht, allein geistreich und liebenswürdig, und wenn unser Vater von seiner Mutter sprach, kam er jedesmal in Begeisterung.

Seitdem unser Großvater unter die Seelenverkäufer geraten war, hielt er seine Augen sperrangelweit offen, und so erkannte er sehr bald, daß hier ein Schatz für ihn erglänze, und daß Maria Theresia von Traiteur sein Demantkreuz geworden sei. Also in wen verliebte sich unser Großvater? In Maria Theresia von Traiteur, bischöflich speyerische Oberamtskellerstochter in Deidesheim. Unser Großvater hatte es bereits in der Übung, seinem Landesherrn Liebesgeschichten anzuvertrauen, und so vertraute er[20] ihm auch die seinige. Der Bischof seinerseits hatte es in der Übung, den Freiwerber zu machen, und so machte er ihn wieder; und unser Urgroßvater hatte es in der Übung, nachzugeben, und so gab er wieder nach, obgleich auch dieser zweite Schwiegersohn ein »Bürgerlicher« war, und


»als der Großvater die Großmutter nahm,

da war der Großvater Bräutigam.«


In welchem Jahr und an welchem Tag die Hochzeit unserer Großeltern gefeiert wurde, ist mir unbekannt; die Vermutung spricht für die Zeit um 1765 herum, also bald nach dem Ende des siebenjährigen Krieges.

Es ist mir leid, daß ich nicht weiß, was Fürst Styrum zur Aussteuer geschenkt hat; soviel betrachte ich als Tatsache, daß er das Brautpaar, dessen Wohltäter er war, eigenhändig einsegnete und ungefähr folgende Rede hielt:

»Geehrte Versammlung, tugendhaftes Brautpaar! Ich vereinige Ihre Hände mit besonderem Vergnügen, denn Sie sind nicht nur meine Landeskinder, sondern auch meine erklärten Lieblinge. Wir haben vor nicht langer Zeit einen Frieden abschließen sehen; möge sich dieser Friede auch durch Ihr ganzes Leben erstrecken, und dieses recht lange sein. Mein Wohlwollen für Sie wird unverbrüchlich sein und nur mit dem Leben enden!«

Also sprechen kurzsichtige Menschen. Es ist anzunehmen, daß der Bischof seine Rede mit dem besten Herzen gehalten und mit dem besten Wein begossen habe, welchen unser Urgroßvater, der Amtskeller, auftreiben konnte. Aber es ging doch nicht alles so am Friedensschnürchen, wie der Bischof und die ganze Versammlung es an diesem Tage gewünscht und folglich auch gehofft hatten. Im wesentlichen war es sehr gut, unsere Großeltern liebten sich und wären ohne äußere Störungen sehr glücklich gewesen, aber wo bleiben solche Störungen aus?

Bei ihren vielen guten Eigenschaften hatte unsere Großmutter auch eine schlimme: sie war eifersüchtig. Eine eifersüchtige Frau darf aber keinen Arzt heiraten, und am allerwenigsten einen schönen, jungen. Die arme Großmutter war entsetzlich viel allein und hatte dadurch Zeit und Muße, ihrer unglückseligen Leidenschaft nachzuhängen. Das härteste war ihr, daß ihr Mann bei Hofe[21] speisen mußte, besonders da die Frau Bas Goldschmiedin sie oft besuchte und ihr anvertraute, bei Hofe gehe es ziemlich locker her, und bei der Tafel mache man oft ganz unpassende Späße. Der Fürst hatte nämlich verlangt, daß sein Leibarzt auch nach dessen Verehelichung sein täglicher Gast sei; allerdings nicht angenehm für die junge Frau.

Eines Tages war auch die Frau Bas Goldschmiedin – ich habe keine Idee mehr, wie diese Frau mit unseren Großeltern verwandt war, ob sie »Goldschmied« hieß, oder an einen Goldschmied verheiratet war – wieder bei unserer Großmutter. Sie hatten lange die Köpfe zusammengesteckt und fort und fort von dem Bischof gesprochen und seinem leichtfertigen Lebenswandel, da rief plötzlich eine Stimme neben ihnen: »Bei Hof! bei Hof!« Die Frauen fuhren auseinander, und erst als sie ruhig geworden waren, bemerkten sie, daß der Papagei, welchen der Fürst der jungen Frau geschickt hatte, um sie zu divertieren, die oft wiederholte Rede: »bei Hof« aufgefangen und nachgeschwätzt hatte.

Unsere Großeltern wohnten natürlich in dem Hause in der Kaffeegaß. Das Haus und der Weinberg waren von Nikolaus Loew auf Jakob Loew übergegangen. Die Bruchsaler hielten von jeher viel auf ihre Weinberge, obgleich die Trauben darin entsetzlich sauer sind. Die Großmutter, welche die Deidesheimer Trauben gewöhnt war, wird sie ganz besonders so gefunden haben. Allein die Traubensäure wirkte weniger ätzend auf das Herz unserer Großmutter als die Eifersucht. Sie lag dem Großvater gar oft in den Ohren, er solle die fürstliche Tafel aufgeben und sich zuhaus bei ihr mit Hausmannskost begnügen; der Großvater aber versicherte ihr, es wäre undankbar, dem Bischof seine ihm unentbehrlich gewordene Gesellschaft zu entziehen, und es gehe eben einmal nicht. Und es ging auch nicht. Ich glaube, unsere Großmutter war auch ungehalten darüber, daß sie ihre Kochkunst nicht benützen konnte. In jener Zeit hielt man noch viel mehr darauf als heutzutage, daß jede Frau eine Köchin sei. Der Vater sagte, seine Mutter sei obendrein eine besonders geschickte Köchin gewesen und habe hauptsächlich die Bereitung der Käsnudeln sehr gut verstanden.

Obgleich die Frau Bas Goldschmiedin eher dazu beitrug, das Herz der Großmutter zu beunruhigen, als zu beruhigen, so war[22] sie eben doch immer wieder auf die Gesellschaft dieser Frau angewiesen, welche übrigens, wenn auch eine geschwätzige, doch auch wieder eine recht amüsante Frau war, wie aus folgender Anekdote hervorgeht, über welche wir als Kinder so entsetzlich lachen mußten.

Die Großmutter ließ bei einer Unteroffiziersfrau in Philippsburg spinnen, hatte aber mit ihr nicht genau ausgemacht, wieviel für das Pfund Garn bezahlt werden sollte; als das Garn fertig war, brachte es nicht die Frau, sondern ihr Mann, ein Böhme, welcher kein Wort Deutsch verstand. Die Großmutter gab sich alle Mühe, von dem Manne zu erfahren, was sie zu zahlen habe, allein vergeblich. Da sagte die Frau Bas Goldschmiedin: »Lassen Sie nur mich machen, Frau Geheimderätin, ich bring's schon 'raus«. Hierauf stellte sie sich vor den österreichischen Unteroffizier hin und schrie: »Was goschd der Bund zu schbinne?« Der Böhme gab zur Antwort: »Jo, Frau!« Dann schrie die Frau Bas noch ärger: »Was goschd der Bund zu schbinne?« worauf der Böhme erwiderte: »Jo, Frau! jo, Frau!« Unsere Großmutter bekam fast Krämpfe vor lachen, und diese Gewandtheit der Frau Bas Goldschmiedin in fremden Idiomen hat noch Kinder und Kindeskinder in der Loewschen Familie zum Lachen gereizt. Die Großmutter und die Frau Bas Goldschmiedin waren, wie gesagt, kein passendes Paar, denn die Frau Bas Goldschmiedin war eine »Frau Bas« im ganzen Sinne des Wortes, und die Großmutter war eine geistreiche, fein gebildete Dame; allein sie hatte das Bedürfnis einer Ansprache. Später, als vier junge Loewen in der Kaffeegaß eingekehrt waren, wird der Verkehr mit der Frau Bas Goldschmiedin nicht mehr so häufig gewesen sein.

Nun hatte die Großmutter auch Gelegenheit, ihre Kochkunst zu üben und sich mit ihren Kindern zu amüsieren. Der Vater hat mir erzählt, wie die vier Buben ihre Mutter immer gequält hätten, sie solle Käsnudeln backen. Diese Käsnudeln brauchen viel Schmalz, und da die Butter damals noch so billig war, so sollte man nicht denken, daß man so gar sparsam damit umgegangen sei; allein eine wackere Hausfrau war allezeit ökonomisch. Um aber das Drängen ihrer Buben los zu werden, gab ihnen unsere Großmutter die ausweichende Antwort: »Ihr bekommt Käsnudel, sobald der Schwanewerthel Schmalz laufen läßt.« Die Buben hatten nun[23] nichts Eiligeres zu tun als fort und fort an den Brunnen zu laufen und nachzusehen, ob nicht Schmalz statt Wasser komme, und dann getäuscht nach Hause zu gehen, wenn der Schwanewerthel immer wieder Wasser und Wasser schenkte. Als die Buben größer wurden, fehlte es der Großmutter nicht mehr an Gesellschaft, aber es fehlte den Knaben an der väterlichen Aufsicht, und sie machten allerlei lose Streiche. Von einem derselben erinnere ich mich der Erzählung des Vaters: An einem Sonntag nachmittag im Winter erlaubte die Frau Geheimderätin ihren Buben, sich einige Freunde herbeizuholen. Die Kinder spielten eine Komödie aus dem Stegreif, zu der sie sich als Thema die Geschichte der Königin Esther wählten. Unser Vater hatte die Rolle der Esther zu spielen, und sein älterer Bruder, mit dem Beinamen, »Der Schwarz«, gab den Haman. Zum Schluß hängten die Buben den Haman mit einem Handtuch an das Zapfenbrett. Wie der Gehängte so zappelte und die Zunge herausstreckte, mußten die Buben sehr lachen, wie er aber ganz blau im Gesicht wurde, bekamen sie sehr Angst und liefen alle davon. Zum Glück rief ihr Geschrei die Großmutter herbei, welche ihn hinunternahm; es dauerte aber lange, bis er wieder zur Besinnung kam.

Es mochte wohl nach einem solchen Vorfall gewesen sein, daß unsere Großmutter den Großvater aufs neue mit der Bitte bedrängte, die Tafel beim Fürsten aufzugeben, um wenigstens bei Tische die Knaben überwachen zu können. Der Großvater fand die Vorstellungen seiner Frau nur zu sehr begründet und entschloß sich, die Lage der Dinge dem Fürsten vorzustellen und ihm für die Tafel zu danken, an welcher er nur aus Rücksicht für diesen so lange erschienen war. Unser Großvater war ein solider Mann, und die Freuden der Tafel ihm gleichgiltig, so daß er schon seit Jahren viel lieber mit seiner Familie gespeist hätte. Da er aber wußte, daß der Bischof seine Gesellschaft sehr liebte und der Fürst sein Wohltäter war, so fiel es ihm sehr schwer, wegzubleiben, d.h. dem Fürsten diesen Wunsch zu äußern. Unser Großvater ging auf das Schloß zu, und je näher er dem Tore kam, desto höher schlug ihm das Herz, und als er gar vor des Bischofs Kabinettstüre stand, da hatte er fast keinen Atem mehr; doch er bedachte, wie nötig die väterliche Aufsicht seinen Knaben sei, und blieb fest bei seinem[24] Entschluß; auch hegte er die Hoffnung, der Fürst werde ein Einsehen haben – allein der Fürst hatte kein Einsehen. Er nahm seines Leibarztes Eröffnung nicht nur sehr ungnädig auf, sondern es ist auch nie mehr das alte liebreiche Verhältnis eingetreten.

Es ist eine auffallende Erscheinung des menschlichen Herzens, daß nach jahrelanger Liebe und Güte bei den gutmütigsten Menschen manchmal plötzlich ein Umschlag eintritt, und sie für den Gegenstand ihrer bisherigen Zuneigung von kalter Gleichgiltigkeit ergriffen werden. Es geschieht dies gewöhnlich durch einen wirklichen oder eingebildeten Mißbrauch der bis dahin von ihnen bewiesenen Güte.

Von dieser Zeit an war unseres Großvaters Stellung bei Hofe eine sehr peinliche, und die Großmutter hätte es wahrscheinlich wieder recht gerne selbst übernommen, ihre Buben zu beohrfeigen, wenn das Mißverhältnis dadurch wieder ausgeglichen worden wäre, – aber es wurde noch schlimmer.

Der Fürst hatte ein langwieriges Leiden, und der Großvater schlug öfters eine Operation vor, welche sich aber der Fürst verbat. Die Krankheit nahm zu, der Fürst wurde bewußtlos, und unser Großvater kam mit mehreren Ärzten, welche zu einer Konsultation zusammentraten, überein, daß jene Operation vorgenommen werden müsse. Der Großvater vollzog die Operation; der Fürst genas, haßte aber von da an seinen früheren Liebling und trug diesen Haß später sogar auf dessen Söhne über. Unser Großvater starb jung, unerwartet, und nahm seiner Frau vor seinem Ende das Versprechen ab, keinen seiner Söhne Arzt werden zu lassen.

Unsere Großmutter war furchtbar ergriffen von dem Tod ihres Mannes. Es war ihr so schmerzlich, daß sie selbst mit die Ursache gewesen war, ihres Mannes letzte Lebenszeit weniger angenehm gemacht zu haben, und doch war ja wirklich der Beistand des Vaters bei der Erziehung der Knaben so nötig gewesen. Doch die Großmutter war eine verständige und starke Frau. Sie wußte, daß sie ihren Kindern schuldig sei, sich zu fassen, und daß sie das Andenken ihres Mannes am würdigsten ehre, wenn sie seine Söhne zu braven Männern erziehe. Allein, dies war keine kleine Aufgabe, besonders da Fürst Styrum seine Hand von ihnen abgezogen hatte. Sie brachte es jedoch auch ohne fremden Beistand so weit, daß[25] sie ihren Söhnen eine anständige Erziehung gab, so daß jeder von ihnen ein gebildeter Mann war und sich sein Brod verdienen konnte, wenn auch nicht verschwiegen werden kann, daß der älteste ihr viel Kummer machte.

Die vier Knaben hießen: Joseph Adam – genannt »Der Schwarz«; Hans, Alban und Jakob.

Bei des Vaters Tod war der älteste 15, der jüngste erst 4 Jahre alt.

Man könnte nicht sagen, daß »Joseph Adam« ein romantischer Name gewesen; der Träger dieses Namens aber hatte eine große Neigung zur Romantik. Er machte auch gerne Verse, aber gut waren sie, scheint es, nicht; denn als aufgeschossener Jüngling – was man in Bamberg einen Geier nennt – als eine Schauspielergesellschaft nach Bruchsal kam, vergaffte er sich in die Heldin, welche eine kleine Blondine war und Sachs hieß. Dieser überschickte er folgendes Epigramm:


Die Mamsell Sachs

Hat Häärle wie Flachs

Und Händle wie Wachs

Und Füßle wie e Dachs.


Ob er seinen schönen Namen »Joseph Adam« dar untergeschrieben hat, weiß ich nicht; ebenso weiß ich nicht, warum er in der Familie nur »Der Schwarz« hieß. Vielleicht hat er auch solche schwarze Löckchen gehabt wie unser Vater. Sie sind noch auf dem Bilde zu sehen, welches unser Bruder Jakob von ihm besitzt. Von einem anderen poetischen Ergusse unseres Onkels erinnere ich mich, daß er bei dem Tode der Kaiserin Maria Theresia, welcher ihn besonders schmerzlich berührt zu haben scheint, seinen Gefühlen in einem Carmen folgende Worte lieh, dessen Schlußstrophen den gleichen Refrain hatten: »Wien, Wien, Wien! – Es fehlt die Heldin.«

Diesen Sohn bestimmte die Großmutter, oder auch vielleicht noch sein Vater, dem Handelsstande. Sie mochten Gelegenheit haben, ihn in Deidesheim bei einem Weingeschäfte unterzubringen, wenigstens hatte er in einer Weinhandlung seine Studien gemacht. Leider hat sich diese Wahl nicht als eine glückliche bewährt; »Der Schwarz« hatte mehr Lust, den Wein zu trinken, als ihn zu verkaufen, was seiner Mutter schwere Sorgen machte.[26]

Desto mehr Freude erlebte sie an ihrem zweiten Sohne Hans. Unser lieber, lieber unvergeßlicher Vater war der Stolz und das höchste Glück seiner Mutter. Den 10. Oktober 1771 geboren, war er zwölf Jahre alt, als sein Vater starb. Er war ein Kind voll der herrlichsten Geistesanlagen, und hatte ein Gemüt, so weich und lieb, daß ihn seine eigene Mutter ihre »Freundin« nannte. Mit der Poesie befaßte sich unser Vater nicht sehr viel, aber desto mehr mit ernsten Wissenschaften. Er machte große Fortschritte, und seine Mutter entschloß sich, ihn die Rechte studieren zu lassen. Unser Vater soll auch sehr hübsch gewesen sein, was man ihm freilich in späteren Jahren nicht mehr ansah, besonders wegen seiner geringen Sorgfalt für eine gewählte Toilette. Sein Gesicht hatte jedoch für das ganze Leben den Ausdruck hohen Verstandes und unendlicher Güte und Freundlichkeit. Jedermann, der mit ihm verkehrte, schätzte und liebte ihn. Nachdem er das Gymnasium absolviert hatte, bezog er in Gesellschaft von drei Freunden die Universität Erlangen. Einer von diesen Freunden hieß auch Loew und war von Bruchsal, war aber nicht mit ihm verwandt; der zweite war Joseph Brandner, der Sohn des Jägermeisters, und Will aus Philippsburg war der dritte. Wenn diese vier Männer später zusammentrafen, was manchmal bei uns in Speyer zu geschehen pflegte, und von ihren Universitätsstreichen erzählten, wie dieses alte Herren so gerne tun, da kamen sie auch auf eine Partie zu sprechen, welche sie nach einer katholischen Stadt gemacht hatten, um daselbst die Frohnleichnamsprozession anzusehen. Wie junge Leute leicht zum Lachen gereizt werden, mußten auch diese lachen, weil eine heilige Veronika ein Schweißtuch hatte so groß wie ein Tischtuch. Sie zogen sich aber durch dieses Lachen eine Tracht Prügel zu, ich meine, sie sagten von Gärtnern. Ich habe schon daran gedacht, ob ihnen die Prügelsuppe vielleicht in Bamberg serviert worden sei, allein die heilige Veronika spielt hier keine Rolle, und es ist eher anzunehmen, daß es in dem Erlangen näher gelegenen Forchheim gewesen sei. Unserem Vater muß es bei Prügeleien schlimm ergangen sein, denn er war groß und dabei etwas ungelenk, wahrscheinlich daher auch sein Spitzname, »Der Bock«. Ebenso scheint er ein schlechter Reiter gewesen zu sein, denn er mußte einmal eine Masse Töpferwaren bezahlen, in welche[27] sein Pferd auf dem Markte gegen des Reiters Willen hineingeraten war. In jener Zeit war der Spitzname »Nürnberger Sandhaase« im Schwunge, und da man damals noch beim Einreiten in jede Stadt nach seinem Namen gefragt wurde, so hatten sich die Freunde bei einem Ritte nach Nürnberg dahin verabredet, daß der erste sich als »Nürn«, der zweite als »Berger«, der dritte als »Sand« und der vierte als »Haase« nannte, was dem Torwächter einen solchen Zorn machte, daß er den Schlagbaum niederließ, um sie zu fangen; sie wollen aber alle glücklich entwischt, ja sogar über den Schlagbaum gesetzt sein, was doch schon eine Art reiterliche Bravour voraussetzt.

Unser Vater war auch auf der Universität sehr beliebt, und namentlich hatte ihn auch ein Professor sehr in Affektion genommen, an welchem auch der Vater seinerseits mit großer Verehrung hing. Leider habe ich seinen Namen vergessen, er griff später noch einmal in des Vaters Leben ein.

Als unser lieber Vater in den Ferien 1789 zu seiner Mutter nach Bruchsal kam, um daselbst die Ferien zu verbringen, waren in den rheinischen Landen alle Köpfe in Gärung. In Paris war die Revolution losgebrochen, die Bastille erstürmt worden, und man fühlte schon bis über den Rhein Schwingungen dieser Bewegung.


Der dritte Sohn ist ebenfalls Kaufmann geworden; er hieß Alban. »Alban« ist ein hübscher Name, und ich wundere mich, daß er nie in der Familie wiederholt worden ist. Alban war auch ein hübscher Bursche und sehr liebenswürdig, aber wieder ganz anderer Weise als unser Vater. Er hatte nicht dessen hervorragenden Scharfsinn, allein er war doch ein geweckter Kopf, von der Natur mit einer Menge kleiner Talente ausgestattet, welche ihn zu einem äußerst liebenswürdigen Gesellschafter machten. Er hatte viel Anlage für Musik, besonders eine schöne Stimme, und hätte wohl am besten zum Künstler getaugt; allein die Wahl eines solchen Lebensberufes würde damals als unverzeihlicher Leichtsinn betrachtet worden sein. Er wurde, wie gesagt, ebenfalls Kaufmann. Onkel[28] Alban hatte eine sehr humoristische Art, etwas zu erzählen. Ich erinnere mich mit Vergnügen an eine Schilderung, welche er uns gemacht von dem Anzug, mit dem er ausstaffiert worden war, als er in Bruchsal zur ersten Kommunion ging. Er bekam, weil er ein großer breiter Junge war, einen scharlachroten Frack von seinem verstorbenen Vater, und seine Mutter behauptete, er sitze ihm vortrefflich, obgleich er ihm überall zu »völlig« war. Jakob, der vierte Sohn, war als echter Benjamin der Liebling der ganzen Familie. Unser Vater hing mit der innigsten Liebe an diesem jüngsten Bruder. Bei Nennung seines Namens traten ihm noch in späteren Jahren die Tränen in die Augen; er vermied es deshalb gern, von ihm zu sprechen. Jakob wäre gern Mediziner geworden, allein seine Mutter gab es nicht zu, weil ihr Mann es verboten hatte; er sollte Jurist werden wie sein Bruder Hans. Auch Jakob soll hübsch gewesen sein; es scheint, daß in unserer Familie die Schönheit mit jeder Generation heruntergekommen ist.

Wenn unser Vater nach Bruchsal kam, ergötzte er sich an den Kapuzinerpredigten. Noch nach langen Jahren erinnerte er sich daran und teilte uns Bruchstücke aus denselben mit. Z.B.: »Verschließet euer Ohr dem unsinnigen Ruf nach Freiheit und Gleichheit. Was würdet ihr sagen, in Christo dem Herrn Geliebte, wenn euer Rindvieh, euere Hunde, euere Schweine behaupten wollten, sie seien gleich euch?!!«

Ein andermal: »Wer sich diesen gottlosen Neuerungen hingibt, ist dasjenige Tier, welches wir Deutsche mit dem lateinischen Worte »asinus« zu bezeichnen pflegen.«

Es muß eine ganz eigentümliche Zeit gewesen sein. Unser Vater erzählte, es sei ihm damals so zumute gewesen, als hätte er Sprungfedern unter den Füßen. Die erste Begeisterung für Freiheit und Gleichheit muß etwas Berauschendes gehabt haben, und es mag gar mancher Kopf aus dem Geleise gekommen sein. In Anbetracht dieser Verhältnisse war es fast noch ein Glück zu nennen, daß nur einer von den vier Söhnen der Großmutter die Haltung verloren hat.

Unser Vater und sein Bruder Jakob, welcher damals in Bruchsal auf dem Gymnasium war, waren Muster von solidem Lebenswandel. Alban war zwar ein wenig romantisch und unüberlegt,[29] aber doch ein sehr wohlgeratener, braver junger Mensch. Hans wurde, obgleich nicht der älteste, von den drei anderen Brüdern wie ein Vater betrachtet. Die Großmutter tat nichts, ohne sich vorher mit ihrem Sohne Hans zu beraten, sie korrespondierte mit ihm über alles, und der Vater sagte oft, sie habe ganz wunderschöne Briefe geschrieben. Als nach Schluß der Ferien anno 1791 der Vater Abschied nahm, um das letzte Semester auf der Universität Mainz zuzubringen, da war die Großmutter durch die schlimmen Zeitläufte sehr ängstlich geworden. Sie warnte ihren Sohn vor jeder Teilnahme an Klubs und anderen Demonstrationen und weinte bitterlich. Der Vater versprach seiner Mutter unbedingte Erfüllung dieser Wünsche, und in Mainz angelangt, schrieb er gleich an sie und wiederholte seine Versprechungen.

Jetzt kam die Belagerung von Mainz; es durften keine Briefe in die Stadt, und so kam es, daß unser Vater monatelang keine Nachricht von Bruchsal bekam, und als im Frühling 1792 die Tore der Stadt geöffnet wurden, welche Botschaft wurde da unserem armen Vater zuteil? – Seine Mutter war tot, sie war schon am 30. November 1791 gestorben. Unser Vater machte sich sofort auf den Weg, um sich nach seinen Brüdern umzusehen – allein er sah sie noch lange nicht. Infolge der Aufregungen bekam er ein Nervenfieber und blieb in diesem Zustande bei seiner Tante Brandner in Deidesheim, welche als Witwe daselbst wohnte. Die Tante rief mehrere Ärzte, welche sich über den Zustand ihres Neffen berieten. Der eine dieser Herren war der später durch seine Zerstreutheit berühmte Dr. Lederle. Dieser sagte in des Kranken Gegenwart: »Febrim hecticum habet«, über welche Bemerkung zu lachen der Patient Humor genug hatte. Es scheint, daß der Vater damals durch einen fabelhaften Appetit gerettet wurde, denn er erzählte uns, daß er 14 (!) Milchbrötchen zum Frühstück verzehrte – etwas kostspielig für die Tante Brandner. Bis der Vater gesund war, war es Herbst geworden, und er brachte dann selbst seinen Bruder Jakob auf die Universität nach Erlangen und rekommandierte ihn dem Professor, seinem Gönner, von welchem schon früher die Rede war. Unser Vater ging hierauf nach Bruchsal zurück, erbat sich Audienz beim Fürsten Styrum und bot ihm seine Dienste an. Der Vater sagte, er wünsche sich dem Fürsten dankbar zu bezeigen und[30] seiner Vaterstadt zu nützen, aber der Fürst wies ihn schnöde ab. Er ging hierauf nach Paris, arbeitete bei einem Advokaten, und mit dem Gelde, welches er verdiente, unterstützte er seinen Bruder Jakob. Später, vielleicht nach des Fürsten Tod, war er Stadtschreiber in Deidesheim.

Ich muß nun noch einmal auf Jakob zurückkommen. Dieser hatte natürlich in Bruchsal Bekannte; unter diesen war ein junges Mädchen, welches sich sehr lebhaft für ihn interessierte, und welchem er zum Abschied einen Vogel schenkte. Es scheint, das Interesse war gegenseitig. Was ich nun erzählen will, hörte ich aus dem Munde eben dieses Mädchens, und zwar im Jahre 1833, wo es bereits eine alte Frau und die Gattin des oben genannten zerstreuten Dr. Lederle in Neustadt war. Als sie es mir erzählte, war auch ich bereits verheiratet. Ich will Frau Lederle selber reden lassen; sie sprach zu mir: »Ihr Herr Vater war nach Bruchsal gekommen, um seiner Mutter einen Grabstein setzen zu lassen, und besuchte uns; ich zeigte ihm den Vogel, welchen sein Bruder mir geschenkt hatte, und er neckte mich. Dies war abends; gegen Morgen höre ich im Käfig ein Flattern – ich springe auf – es flattert nicht mehr, mein Vogel liegt tot im Käfig. Ein furchtbarer Schmerz kommt über mich. Sobald es angeht, lasse ich Ihren Herrn Vater rufen und erkläre ihm, der Vogel ist tot, und ich fühle es an meiner Aufregung, daß sein Bruder auch tot sei. Ihr Vater lachte über meine Verzweiflung. Nach einigen Tagen kommt ein Brief von seinem Professor mit der Nachricht, Jakob Loew sei ganz schnell am Nervenfieber gestorben, und zwar zur selben Stunde, wie auch mein Vögelchen gestorben war.«

Frau Lederle weinte bitterlich, als sie mir unseres Vaters Schmerz und den ihrigen schilderte. Ich fragte sie, ob sie denn nicht wisse, wie es denn bei dem Tode meines Onkels eigentlich zugegangen sei, und erzählte ihr nun meinerseits auf ihre Verneinung: »Mein Vater glaubte, wie Sie, sein Bruder sei an Nervenfieber gestorben; als er aber mit meinem Bruder Titus i.J. 1830 nach Nürnberg gegangen war, um denselben daselbst auf die polytechnische Schule zu bringen, erfuhr er, daß es anders war. Der Vater traf im Gasthaus einen Universitätsbekannten, erfuhr von diesem, daß sein Freund, der alte Professor, noch lebe, und wollte nach Erlangen gehen, um[31] ihn und das Grab seines Bruders zu besuchen. Unser Vater freute sich sehr, den alten Freund wiederzusehen und sagte es seinem Bekannten. »Ach ja, gehen Sie hin,« sagte ihm dieser. »Es hat dem Professor so leid getan, wie damals Ihr Bruder erstochen wurde.« Erst jetzt, nach 30 Jahren, erfuhr mein Vater, daß sein Bruder im Duell geblieben war, und diese Mitteilung erschütterte ihn so sehr, daß er sich nicht entschließen konnte, nach Erlangen zu gehen. Um sie zu zerstreuen, teilte ich der Frau Lederle noch mit, was damals auch der Vater in Nürnberg erfahren hatte, daß nämlich in der Nacht, während welcher mehrere Studenten bei der Leiche Wache hielten, eine verschleierte Dame in das Zimmer eingetreten sei, den Toten geküßt und ihm einen Blumenstrauß in die Hand gegeben habe. Die Dame habe sich wieder entfernt ohne zu sprechen und sei so tief verschleiert gewesen, daß keiner der Anwesenden sie erkannt habe. – Ich hatte aber mein Zerstreuungsmittel schlecht gewählt, denn Frau Lederle ward sofort von heftiger Eifersucht ergriffen und apostrophierte die verschleierte Dame nicht eben mit schmeichelhafter Benennung.

Nun ruht auch sie längst im Grabe und wird es ihrer Nebenbuhlerin verziehen haben, daß auch sie einst den Studenten Jakob Loew aus Bruchsal liebenswürdig gefunden hat.


NB. Der Vater war von 1789–92 auf den Universitäten Erlangen und Mainz. Am 1. Oktober 1797 wurde er Aktuar des Amtes Eichtersheim, welches dem unmittelbaren Adel


Greffier d'un baillage de la Noblesse

Immédiate de l'empire germanique


gehörte. 1798 im April quittierte er diesen Platz und wurde Syndikus der Gemeinde Deidesheim, welches Amt durch die bald darauf erfolgte französische Organisation überflüssig wurde. Bis zu seiner Ernennung zum Advokaten, 1803 /: 23. germinal XI:/ war der Vater ohne Amt. Dies ist authentisch. Zwischen 1798 bis 1803 arbeitete unser Vater, 6–10 Monate, bei einem Advokaten in Paris.

Quelle:
Lehmann, Lilli: Mein Weg. Leipzig 1913, S. 13-32.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Mein Weg
Mein Weg
Mein Weg
Mein Weg
Mein Weg

Buchempfehlung

Prévost d'Exiles, Antoine-François

Manon Lescaut

Manon Lescaut

Der junge Chevalier des Grieux schlägt die vom Vater eingefädelte Karriere als Malteserritter aus und flüchtet mit Manon Lescaut, deren Eltern sie in ein Kloster verbannt hatten, kurzerhand nach Paris. Das junge Paar lebt von Luft und Liebe bis Manon Gefallen an einem anderen findet. Grieux kehrt reumütig in die Obhut seiner Eltern zurück und nimmt das Studium der Theologie auf. Bis er Manon wiedertrifft, ihr verzeiht, und erneut mit ihr durchbrennt. Geldsorgen und Manons Lebenswandel lassen Grieux zum Falschspieler werden, er wird verhaftet, Manon wieder untreu. Schließlich landen beide in Amerika und bauen sich ein neues Leben auf. Bis Manon... »Liebe! Liebe! wirst du es denn nie lernen, mit der Vernunft zusammenzugehen?« schüttelt der Polizist den Kopf, als er Grieux festnimmt und beschreibt damit das zentrale Motiv des berühmten Romans von Antoine François Prévost d'Exiles.

142 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon