Placidus Pfister und Magdalena de la Condamine.

[32] Wer unter dem Schutze der Alpen geboren,

Hat nie in der Fremde das Heimweh verloren;

Und doch ziehen Söhne der Alpen so gern,

Als Soldaten und Krämer in weiteste Fern'! –


Unsere Großmutter mütterlicherseits war um drei Jahre älter als ihr Mann, es ist daher nach dem Altervorzugsrecht schicklich, daß ich von ihr zuerst erzähle.

Magdalena Condamine war ein wunderschönes Mädchen und voll Leben und Feuer. Es fanden sich für sie viele Bewerber, allein sie wies alle ab, weil sie eine heimliche Neigung hatte. Schon mit 15 Jahren hatte sie ihr Herz an einen Mann verschenkt, welcher zwar ein Mann von Herz und Verstand war, aber nicht die Mittel besaß, eine Familie zu ernähren. Mit 15 Jahren findet man solche Hindernisse geringfügig, und sie ging mit Künzle ein Liebesbündnis ein, beständig hoffend, es werde sich etwas finden. Das Verhältnis hatte aber bereits sieben Jahre bestanden, und es hatte sich noch immer nichts gefunden. Eltern und Brüder machten der jungen Magdalena Vorstellungen und drangen in sie, ihren geliebten Künzle aufzugeben; aber sie ließ nicht von ihm, und es muß auch ein prächtiger Mann gewesen sein – ich werde später zu seiner Charakteristik noch einiges mitteilen.

Sieben lange Jahre also hatten die beiden Liebenden gehofft und geharrt, als eine unerwartete Krisis eintrat. Es war das Kirchweihfest in Gossau, und ein großes Tanzvergnügen wurde auf dem Zollhaus gefeiert. An diesem Tanzvergnügen nahmen auch die Beamten des gefürsteten Abtes von St. Gallen mit ihren Familien teil, und unter diesen war auch der blondgelockte, blauäugige, 19jährige Sohn des fürstlichen Erziehers Pfister. Dieser junge Mann war ganz bezaubert von der Großmutter; diese aber hatte kein Auge für ihn, weil sie sich in größter Aufregung befand. Es kam ihr nämlich so vor, als fände Künzle an einem[33] anwesenden Mädchen zu viel Wohlgefallen, worüber sie die peinlichste Eifersucht empfand. Des anderen Tags stellte sie Künzle deshalb zur Rede, und er verteidigt sich nicht so, wie sie es gewünscht hatte, so daß das Liebespaar schmollend auseinander geht. In diesem Augenblick erhält Magdalena einen Brief; es ist ein Heiratsantrag des jungen Pfister, welcher ein Beamter des Abtes von St. Gallen und keine üble Partie ist. Magdalena weiß, daß dieser Mann ihren Verwandten sehr erwünscht wäre; sie betrachtet sich als eine von ihrem Geliebten Verlassene, Betrogene – setzt sich sofort nieder und schreibt eine bejahende Antwort an Placidus Pfister. Als Künzle davon hörte, war er trostlos, und selbst die alten Condamines erschraken. Am trostlosesten mag die Großmutter selbst gewesen sein. Geändert aber wurde nichts mehr, und Magdalena heiratete den Placidus Pfister im Jahre 1775. Das junge Paar zog nach St. Jörgen, ganz nahe bei St. Gallen, woselbst der Großvater seine Anstellung hatte. Von einer Ehe, welche unter so schlimmen Auspizien geschlossen worden, hätte man die schlimmsten Erfolge erwarten können; allein es kam doch, Gott sei Dank, so gar arg nicht. Das Schlimmste war des Großvaters Jugend.

Künzle entfernte sich aus der Gegend, was sehr zweckmäßig war. In St. Jörgen war es sehr hübsch, und die Großmutter mit ihrem Lose ziemlich ausgesöhnt, besonders als sie nach einigen Jahren einen Sohn und eine Tochter hatte. Der Knabe hieß Pepi und war ein paar Jahre älter als unsere Mutter, welche am 2. Juli 1782 geboren war. Man trug das Kind den steilen Berg herunter in die Klosterkirche, woselbst sie Maria Klementina getauft wurde. Gerufen wurde sie »Klämens«. Ihre Taufpaten waren: der Bruder ihrer Mutter, Sebastian Condamine, und dessen Gattin Rosa.

Großvater Pfister war ebenfalls verpflichtet, bei seinem geistlichen Herrn zu speisen, wie unser Großvater Loew, hatte aber überhaupt keine Freude an seinem Posten und wäre für sein Leben gern Soldat gewesen; er war so unvorsichtig, diesen Wunsch auch in Gegenwart des Abtes auszusprechen. Der Abt, Beda Ahngern hieß er, war ein sehr braver Mann und in seinem Territorium sehr beliebt; allein er wurde ärgerlich über unsern Großvater, was[34] man ihm nicht verdenken kann. Ein Dritter, der gern des Großvaters Stelle gehabt hätte, schürte an dem Abte, und unglücklicherweise wurde damals gerade für spanische Dienste ein Regiment in der Schweiz angeworben. Eines Tages kommt unser Großvater zur Tafel, und wie er die Serviette vom Teller nimmt, erblickt er ein Papier – es ist ein Leutnantspatent für Placidus Pfister, in dem Regimente, welches nach Spanien marschiert; seine nächste Garnison ist Barcelona. Man gratuliert unserem verblüfften Großvater höhnisch lachend, und in jugendlichem Vergnügen lacht er zuletzt selbst mit. Die Großmutter aber lachte nicht, sondern weinte recht sehr über ihres Mannes Unverstand, zum Glück hatte sie sich bereits gewöhnt, in Unvermeidliches zu fügen. Sie richtete daher in Andacht ihr Gemüt auf, packte ihre sieben Sachen zusammen, sagte ihrer Heimat Lebewohl und folgte ihrem Manne mit dem Pepi und der Klemens nach Barcelona. Ein Umstand mochte der Großmutter den Abschied erleichtert haben; Künzle war nämlich wieder heimgekommen. Seine Verhältnisse hatten sich zum Vorteile verändert, er war jetzt ein Mann von Vermögen und Ansehen, er war Landammann von Appenzell. Künzle wollte jetzt auch heiraten und heiratete, wen? das kleine Schwesterchen der Großmutter, welches unterdessen eine Schwester geworden war. Unsere Großmutter aber zog gegen Barcelona und wurde spanisch. Diese Reise muß entsetzlich beschwerlich gewesen sein; unsere Mutter, die damals freilich erst sechs Jahre alt war, wußte nichts mehr davon zu erzählen, ebensowenig von der späteren Rückreise nach Gossau. Sie kannte bei ihrer Rückkehr kein deutsches Wort mehr, allein später war ihr auch jedes spanische entfallen. Es war überhaupt nicht viel Spanisches an ihr hängen geblieben, als daß sie sich gerne Öl auf das Brot strich und eine rohe Zwiebel dazu aß. Diese Delikatesse blieb jedoch ihr Leibgericht bis an das Ende ihres Lebens, und wenn wir sahen, daß die Mutter sich diesen Leckerbissen herrichtete, so wußten wir, daß sie besonders guter Laune war. Einmal hatte sich die Klemens in Barcelona verirrt und war austrompetet worden; Nonnen hatten die Pforten des Klosters geöffnet und das Kind, welches von einem Gewitter überrascht worden war, hereingeholt, um es vor dem herabströmenden Regen zu schützen.[35]

Unsere Großeltern waren nicht sehr lange in Barcelona. Der Großvater wurde Hauptmann und Kommandant der kleinen Festung Mahon auf der Insel Minorka. Es soll diese die fruchtbarste der balearischen Inseln sein, und der Aufenthalt in Mahon war vielleicht romantisch, aber in jener Zeit sehr unsicher. Die afrikanischen Raubstaaten waren noch nicht gedemütigt, und ihre Korsarenschiffe trieben ein freches Unwesen auf dem Mittelmeere. Zu landen und schnell an Vieh und selbst Kindern und Erwachsenen wegzufangen, was sie erwischen konnten, das waren ihre Hauptstreiche, die sie zudem meistens zu Nacht auszuführen suchten und dadurch jedesmal die Besatzung alarmierten. Zum Glück hatten sie Boote, welche durch ihre besondere Bauart schon von weitem in die Augen fielen; sobald man eines solchen Bootes ansichtig wurde, zog man die Sturmglocke und traf Vorbereitungen. Dadurch wurde Mahon ein recht ungemütlicher Aufenthalt. Unterdessen waren wieder drei Schwesterchen unserer Mutter auf die Welt gekommen; nämlich: Amanda, Margeritta Antonitta und Romana Sydra. Es gefiel unseren Großeltern nicht in Mahon, und nachdem das eine Kind, die Margeritta Antonitta gestorben war, befiel die Großmutter ein arges Heimweh nach Gossau. Der Großvater entschloß sich, sie ziehen zu lassen, und so schied sie mit ihren drei Töchtern: Klemens, Amanda und Sydra; den Pepi ließ sie als Kadetten beim Großvater zurück.

Diese beiden hatten nun keine Unterhaltung mehr als einen kleinen Garten, in welchem sie Obst an Spalieren zogen. Der Großvater erzählte uns oft von Mahon, von den großen Mauerkröten, welche die Spaliere hinaufkrabbelten, und von den nächtlichen Überfällen der »Mohren«, und ich weiß nicht, ob ich mich mehr vor den Seeräubern oder mehr vor den Kröten fürchtete, welche fast tellergroß sein sollen.

Bis Barcelona machte die Großmutter die Reise zu Schiff, von dort trat sie die mühselige Landreise an. Es war eine schwere Aufgabe, in jener Zeit mit drei kleinen Kindern zu reisen, und in dem weglosen Spanien zu reisen. Es kam ihr aber jedermann freundlich entgegen, woran wohl hauptsächlich die Teilnahme für die Kinder und vielleicht auch der Großmutter Schönheit schuld gewesen sein mag. Allein noch ehe sie die spanische Grenze überschritten hatte,[36] traf sie ein harter Schlag. In einem Städtchen in den Pyrenäen starb plötzlich ihre kleinste Tochter Sydra. Es fehlte ihr jedoch nicht an Teilnahme bei diesem Verlust; nicht nur die Wirtsleute, bei denen sie eingekehrt war, sondern das ganze Städtchen bezeigte Anteil daran – freilich mitunter auf wenig heimische Art. Sie zwangen die Großmutter, die kleine Leiche der Sitte gemäß drei Tage und drei Nächte lang auf der Straße auszustellen; wer vorbei ging, tanzte um den Sarg, kniete dann nieder, um sich von dem Geistlichen, welcher bei der kleinen Sydra Wache hielt, den Segen geben zu lassen. Jede herbeigekommene Person bestreute die Leiche mit Blumen und besuchte hierauf die Mutter, um ihr zu gratulieren, daß sie nun dem Himmel einen Engel geschenkt habe; auch legte jeder Besuch für die Leidtragende ein Geldstück auf den Tisch, welches sie, ohne Verletzung dortigen Herkommens, nicht hätte zurückweisen dürfen. Sie ließen der Großmutter nicht einen Augenblick Ruhe, so daß diese tief betrübt und zum Tode ermüdet endlich ihres Weges zog, nachdem das Kind mit großem Pomp begraben worden war. Von dem Leichenzug ihres Schwesterchens erinnerte sich die Mutter noch dunkel.

Endlich, nach 5 jähriger Abwesenheit, kamen sie in Gossau wieder an. Es scheint, daß damals unser Urgroßvater noch am Leben war, und daß die Großmutter mit ihren Kindern zu ihren Eltern gezogen ist. Künzle und ihre Schwester waren schon ein gesetztes Ehepaar und hatten eine Tochter, Anna Maria. Ihre beiden jüngeren Brüder waren auf der Universität, und der ältere Bruder lebte noch immer in kinderloser Ehe. Wahrscheinlich geschah es aus diesem Grunde, und weil vielleicht der Großmutter Einkommen nicht glänzend gewesen ist, daß unsere Mutter zu diesem Onkel als Pflegekind kam. Sie blieb bei ihnen von ihrem 7. bis zu ihrem 17. Jahre, und sowohl der Onkel als auch die Tante Ros' haben wie die liebevollsten Eltern an ihr gehandelt. Die kleine Amanda Pfister soll eine herzige Spaniolin gewesen sein, das Entzücken von ganz Gossau. Von ihr stammt auch der in unserer Familie öfter wiederholte Name Amanda. Leider starb das Kind mit sechs Jahren.

Die Großmutter wollte ihrem Bruder die Klemens nicht wieder nehmen, weil er und seine Frau mit der innigsten Liebe an dem[37] Kinde hingen. Da sie aber diese Einsamkeit nicht ertragen konnte, so schnürte sie ihr Bündel und suchte Mann und Sohn in Spanien wieder auf. Der Sohn war unterdessen Offizier geworden. Ehe jedoch unsere Großmutter nach Spanien zurückging, führte sie in Gossau noch eine Heldentat aus. Der Abt von St. Gallen hatte eine Verordnung erlassen, welche seinen Untertanen nicht gefiel, und diese, im Zusammenhange mit den inzwischen durch die französische Revolution in Schwung gekommenen Ansichten, sehr aufregte. Die Männer von Gossau und der Umgegend wiegelten sich auf, die Großmutter bildete ein Bataillon und stellte sich an die Spitze; ihre Mittel erlaubten ihr das, denn sie war ja die Frau eines Kapitäns. Man rückte bis an eine Brücke vor, worauf der Abt, ohne es auf weiteres ankommen zu lassen, nachgab. Unter derselben Brücke hatte sich Klemens mit einem Laib Brot versteckt. Ich denke, es war der Großmutter ganz leid, daß es nicht zum Kampf gekommen ist, denn sie hatte den Abt noch von früher her auf der Muck.

Die Reise von Mahon nach Gossau hatte die Großmutter mit ihren drei Töchterchen angetreten; ich denke es mir daher als sehr betrübend, wie sie so ganz allein nach Spanien zurückkehrte. Zum Glück befand sich der Großvater dann nicht mehr auf der Insel Minorka, sondern in dem herrlichen Sevilla. Seine und Onkel Pepis Briefe waren überströmend von dem Lobe Andalusiens, und der Großvater kam noch in seinen alten Tagen in Aufregung, wenn er sich der Herrlichkeit von Sevilla, Cordova oder Granada erinnerte oder die wunderbar schöne Alhambra schilderte. Ich dummes, gedankenloses Ding merkte aber nicht auf seine Schilderungen, mich interessierten nur die Granatäpfel; ich hätte recht viel lernen können, wie ich jung war, wenn ich nicht so zerstreut gewesen wäre. Der Großvater hatte eine unbeschreibliche Freude, als seine Frau wieder zu ihm kam, dennn er hatte sie außerordentlich gern; daß sie ohne die drei Töchterchen kam, wird wohl auch das Wiedersehen getrübt haben; aber die Großmutter hatte jetzt doch auch wieder ihren Sohn, und so hatte ihr Herz auch wieder einen Stützpunkt gefunden. Wie mag der lebhaften Frau mit ihrem empfänglichen Gemüt und ihrer reichen Phantasie der Aufenthalt in dem herrlichen Sevilla erquickend gewesen sein; die andalusische[38] Luft muß ihr neues Leben eingehaucht haben. Wahrscheinlich wohnten unsere Großeltern nicht


»In Sevilla, in Sevilla,

Wo die großen Prachtgebäude

An den breiten Straßen steh'n,

Aus den Fenstern reicher Leute

Schön geputzte Damen seh'n« –


sondern:


»In Sevilla, in Sevilla,

Wo die letzten Häuser steh'n,

Sich die Nachbarn freundlich grüßen,

Mädchen aus den Fenstern seh'n,

Ihre Blumen zu begießen« usw.


Ich denke mir aber das Leben hier fast noch schöner als dort. Obgleich ich erst sechs Jahre alt war, als die Großmutter starb, so weiß ich doch noch, daß sie mir von Granada und der Alhambra erzählte und dabei so schöne, glänzende, schmelzende Augen gemacht hat; ich weiß auch noch, daß sie und der Großvater, wenn sie von den Mauren sprachen, sagten: »die Mohren«. Dies wurde mir aber erst später klar; denn damals hatte ich nur einen verwirrten Begriff von Gold und Juwelen, Perlen, Mohren und Granatäpfeln. Über letztere hatte ich in noch späterer Zeit die Anschauung, die Kerne dieser Äpfel seien die Granatsteine, welche man als Schmuck trägt, und als der Großvater von Mosaikböden erzählte, so fragte ich, ob die der Moses gemacht habe.

Wenn ich an dieser Geschichte schreibe, ist es mir aber wahrhaftig selbst so, als verfertige ich ein Stück Mosaik. Aus allen möglichen kleinen Strichen suche ich ein Bild zusammenzustellen, und es will mir gar so oft nicht gelingen, die richtige Farbe zu finden.

Ich weiß nicht wie lange unser Großvater in spanischen Diensten, gewesen ist; ich denke von 1783–1798. Wahrscheinlich wurden die Schweizer Truppen entlassen, denn er kam um diese Zeit in die Schweiz zurück und lebte mit Frau und Sohn in St. Fiden. Der Großvater und Onkel Pepi hatten in Spanien mehrere Feldzüge (2) mitgemacht; einmal waren sie in Gibraltar, und einmal in dem gegenüberliegenden Teil von Marokko; ich bitte aber, mir[39] alles Detail aus Gründen zu erlassen. Was die geschichtlichen Momente betrifft, da hapert es am allermeisten mit meiner Mosaik. So viel ich weiß, sind beide Feldzüge mißlungen, woran aber unser Großvater gewiß nicht schuld war, denn er war ein tapferer Soldat, obwohl er uns oft mit großem Lachen erzählt hat, daß er bei dem ersten feindlichen Schuß, den er gehört habe, in einen Graben gesprungen sei. Der Großvater und Onkel Pepi beschäftigten sich in St. Fiden damit, schweizerische Rekruten einzuüben; aber entweder hat ihnen dieses Geschäft nicht lange gefallen, oder sie hatten kein gehöriges Einkommen, kurz, sie ließen sich wieder anwerben, und zwar in französische Dienste; der Großvater wieder als Hauptmann, und der Onkel als Leutnant. Während all dieser Zeit war die Klemens bei Onkel und Tante gesessen, wie der Vogel im Hanfsamen. Wenn unsere Mutter von der Bescherung bei der Tante Ros' erzählte, da gingen uns Kindern vom Zuhören die Augen über. Es bescherte aber in Gossau nicht das Christkind, sondern der Nikolaus, doch machte auch dieser würdige Mann seine Sache recht gut. An seinem Namenstage – 6. Dezember – kam er in Person und fragte, ob die »Chlämens Condamine und die Marie Chünzle bravi Kinder seient?« Auffallenderweise sprach der alte Bischof, welcher im Himmel doch der feinsten Bildung hätte teilhaftig werden sollen, ein ganz gutes Stockschweizerisch. Marie Künzle und Klementine Pfister, die Geschwisterkinder, waren sehr dicke Freundinnen, und der heilige Nikolaus bescherte ihnen gemeinschaftlich. Es war auch ein kleiner Herr Künzle da, welcher vielleicht jetzt noch als Kaufmann in Heidelberg lebt; er muß aber viel jünger gewesen sein als seine Schwester. Wenn der heilige Nikolaus an seinem Namenstage seine Aufwartung machte, die Tante Ros' die Kinder nach Verdienst bei dem heiligen Mann gelobt und getadelt hatte, was dieselben mit gefalteten Händen anhören mußten, dann verteilte er die Geschenke und fragte: »Wollt ihr auch meine Chnächte sehen?« Auf das erfolgte »Ja« der Kinder verschwand der Bischof, und mit Schnauben und Kettengerassel drangen die Knechte ins Zimmer. Es waren diese Knechte Männer mit rußigen Gesichtern, in große Mäntel gehüllt und entsetzlich anzusehen. Sie hatten große Säcke mit Äpfeln und Nüssen, welche sie auf den Stubenboden hinleerten.[40] Wenn nun die Kinder sich auf diese Beute losstürzen wollten, schlugen sie die Knechte mit Ruten auf die Finger; diese Ruten, welche mit Bändern verziert waren, taten natürlich nicht sehr weh, was die Furcht der Kinder ins Abnehmen brachte, bis sie zuletzt so keck wurden, daß sie die Ruten zu erhaschen suchten, um damit die Knechte zur Tür hinauszujagen; der heilige Nikolaus hatte sich, wie gesagt, schon vorher französisch empfohlen. Es war in Gossau freilich nicht alle Tage Nikolaustag, aber es erging der Klemens an jedem Tage gut; es war daher hart für Onkel und Tante, daß die Eltern, als sie von Spanien zurückgekehrt waren und sich in St. Fiden niedergelassen hatten, ihr Kind zurückverlangten. Es war aber auch hart für die Eltern, daß die einzige Tochter ihnen ganz entfremdet war. Es scheint allerlei aufgeregte Szenen gegeben zu haben, bis es dahin entschieden wurde, daß Klemens zu ihren Eltern komme. Für unsere Mutter selbst war es wohl am peinlichsten, daß sie zwischen Eltern und Wohltätern stand. Als die Familie Pfister in St. Fiden vereinigt war, scheint keine rechte Eintracht in ihr geherrscht zu haben; man kann sich zwar auf der Mutter Schilderungen – und ich kenne sie nur durch diese – nicht so ganz verlassen, weil die Mutter die ganze Welt durch eine schwarze Brille betrachtete; aber sie erzählte unter anderem, daß der Großvater sehr heftig gegen ihren Bruder gewesen sei, und dieser seinen Vater auch mal gefragt habe: »Sprechen Sie als Hauptmann oder als Vater mit mir?« Vielleicht war dies von beiden Seiten gar nicht so bös gemeint; der Sohn liebte die Eltern offenbar weit mehr, als dies bei der Tochter der Fall war. Wie wäre dies aber auch anders möglich gewesen, die Tochter kannte ja die Eltern kaum. Als die Großmutter die Bekanntschaft mit ihrer Tochter erneuert hatte, fand sie, daß es ihr an geselligem Schliff fehle, und daß sie noch französisch lernen solle. Die Gelegenheit zu dieser höheren Ausbildung fand sich, als der Großvater wieder Dienste genommen hatte und nach Landau in Garnison kam. Er hatte da viel Gutes gehört von dem Pensionat der Mademoiselle Carry, später Madame Graf, und er schrieb an die Großmutter, sie solle ihm die Klemens schicken.

Die gute Tante Ros' besorgte die Ausstattung ihres Pflegekindes und ließ ihr Kleider und Wäsche nagelneu machen, damit,[41] wie sie meinte, die »Chlämens in dem fremden Lande sich könne sehen lassen«. Die Mutter wußte noch jedes Kleid und jedes Stück Wäsche zu beschreiben, als sie schon alt war, was deshalb zu verwundern, weil ... wie du gleich erfahren wirst.

Es war im Sommer 1799. Es ging mit dem Reisen damals nicht so leicht wie heutzutage, besonders für ein junges Mädchen. Man mußte warten, bis sich eine Gelegenheit fand – endlich fand sich diese. Zwei anständige Kaufleute, welche die Messe in Frankfurt bezogen, nahmen sie mit bis in diese Stadt, und dorthin kam ihr Vater von Landau und holte sie ab. Die schönen neuen Sachen wurden in einen Koffer gepackt und auf den größeren, welcher den beiden Herren gehörte, auf die Kutsche hinten aufgebunden. Der Abschied war schwer, die Großmutter abermals ganz allein, die Reisenden fuhren von dannen.

An einem Regentage im November, in einer einsamen Gegend des Schwarzwaldes, hörten sie auf einmal verdächtiges Pfeifen. Der Kutscher blickte angstvoll in den Wagen und meinte, es müßten Räuber sein, im Schwarzwald gebe es davon immer. Die Herren spannten ihre Pistolen und befahlen dem Kutscher, zu fahren, was das Zeug hielt, was sich der Schwager nicht zweimal sagen ließ und dermaßen seine Pferde antrieb, als ob diese die Räuber wären, und so erreichten sie glücklich den nächsten Ort, d.h. glücklich insofern, als den Reisenden nichts an Leib und Leben geschehen war, aber! der Koffer unserer Mutter, welcher deren ganze Ausstattung enthielt, war abgeschnitten worden und kam »niemals nicht mehr« zum Vorschein. Man mache sich einen Begriff von dem Jammer eines 18jährigen Mädchens, welches seine ganze Garderobe verloren hat! Aber was half der Jammer? Der Koffer war fort mit allen neuen Kleidern, und die Mutter kam in Landau an, wie sie ging und stand. Einen Vorteil hatte zwar dieser herbe Verlust für unsere Mutter, ja sogar deren zwei; erstens war sie wegen ihres Mißgeschickes gleich mit erhöhter Teilnahme in Landau aufgenommen, und zweitens bekam die neue Garderobe Nr. 2 einen moderneren Zuschnitt als die frühere. Sie meinte wenigstens, daß die Kleider, welche in Gossau gemacht worden waren, ein wenig altfränkisch gewesen seien. In Landau aber hatte man von jeher viel auf die Kleider und den Anzug gehalten.[42] Nur ein Stück der verlorenen Garderobe konnte die Mutter niemals ganz verschmerzen, es war eine schwarzseidene Schürze mit Spitzenbretellen.

Unsere Mutter war ein schönes Mädchen, doch nicht so hervorragend wie ihre Mutter; von ihren Nachkommen hat ihre Namensschwester, die Klemi von Hans, am meisten Ahnlichkeit mit unserer Mutter; der Charakter in seinen Hauptzügen ist ganz und gar in unserer Schwester Rosa wiederholt. Den französischen Offizieren in Landau scheint die Mutter sehr gut gefallen zu haben; sie nannten sie nur: »la belle Suisse« Unsere Mutter lernte nun französisch und hieß nicht mehr Klemens, sondern Clementine. Neben ihren Studien besuchte sie auch die Landauer Bälle und fand dort einen Verehrer, welcher sehr schlecht tanzte, und den sie nicht leiden konnte. Eines Tages ließ sie bei einer Bekannten die Bemerkung über ihn fallen: »On dirait qu'il a apprit à danser dans la fossée de Berne«. Dem plumpen Tänzer wurde dieses hinterbracht, und auf dem nächsten Maskenballe kam er als Bär maskiert und überreichte der Mutter ein Gedicht des Inhaltes: er hoffe, ihr nun besser zu gefallen, als Landsmann. In späteren Jahren hatte diese Spottrede der Mutter nicht mehr ähnlich gesehen, sie befaßte sich gar nicht mit Witzeleien; im Übermut der Jugend mußte dies anders gewesen sein. Die Mutter hatte sich in Landau mehrere Freundinnen erworben; obenan stand Mademoiselle Heiligenthal, welche sich später an den bekannten französischen Finanzminister Humann – einen Elsässer – verheiratete, und zwar einigermaßen auf Zureden unserer Mutter, welcher sie ihn durch eine Glastür mit den Worten zeigte: »Schweizer'n, soll ich ihn nehmen?« – »Ja« war die Antwort. – Unser Großvater hatte die Freude nicht, seine Tochter als gefeierte Tänzerin in Landau zu sehen; denn Klemens war kaum bei Mademoiselle Carry untergebracht, als des Großvaters Regiment nach Bordeaux marschieren mußte. Trotz dieser Entfernung ihres Vaters dachte unsere Mutter an kein Heimweh; ich glaube, im Gegenteil, daß es der belle Suisse sehr leid war, als sie nach zwei Jahren in die belle Suisse zurückkehren mußte. Sie kam, 20 Jahre alt, wieder zu ihrer Mutter nach St. Fiden und langweilte sich daselbst von Herzen – so vermute ich wenigstens. Die[43] Großmutter war zwar nichts weniger als langweilig, im Gegenteil, sehr unterhaltend, aber weil sich Mutter und Tochter so fremd gewesen sind, war das Verhältnis nicht innig genug, um die heiteren Bilder von Landau durch die Freude des Wiedersehens zu verwischen. Vielleicht war auch das Verhältnis zu den Pflegeeltern ein etwas gespanntes und drückte auf der Mutter Gemüt. Sie hat mir dieses zwar niemals gesagt, allein sie sprach stets mit Unbehagen von dieser Zeitperiode, und so ist mir der eben geschilderte Eindruck geblieben. Wie aber doch jede Zeit ihre Freuden hat, so war auch dieser Episode im Leben unserer Mutter ein hoher Reiz verliehen durch die Besuche ihrer Kusine, Marie Künzle. Diese war ein eigentümliches, interessantes Mädchen; Idas Erscheinung erinnerte mich an sie. Sie war ein wenig phantastisch und kleidete sich nicht nach der Mode, sondern nach persönlichem Geschmack, und unsere Mutter, welche gar nicht phantastisch war, ließ sich manchmal auch zu romantischen Streichen von ihr verleiten; so ließ sie sich auch in einem von M. Künzles Kostümen malen; es ist ein Aquarellbild in Medaillonform, welches Rosa besitzt. Marie Künzle hatte auch eine poetische Ader und hinterließ ganze Bände von Gedichten. Sie litt etwas am Gehör und ward deshalb in das Bad nach Lenk geschickt. Das Kurhaus war sehr besetzt, und so mußte Marie in einem kleinen Stübchen nach rückwärts wohnen, was ihr sehr langweilig war. Es war damals noch Mode, seinen Namen an die Wand zu schreiben, und so schrieb sie zu vielen anderen auch den ihren hin: Anna Maria Künzle aus Gossau und schrieb noch ein Gedicht dazu.

Quelle:
Lehmann, Lilli: Mein Weg. Leipzig 1913, S. 32-44.
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