17.

[250] Nun mein Bleiben gesichert war, dachte ich zuerst daran, mir einen guten Flügel anzuschaffen. Um meine kleinen Ersparnisse nicht anzurühren, erbat ich mir dafür einen Vorschuß, den man mir weigerte, es sei denn, daß ich ein »Armutszeugnis« einbrächte. Ich dankte und kaufte den Bechstein-Flügel dennoch, der aber nicht über unsere enge Haustreppe ging; und da es auch durchs Fenster unmöglich war, mußte er wieder ins Lager zurück. Nun litt es mich nicht mehr in der unbequemen Wohnung, wir gingen, eine bessere zu suchen.

Unterdessen war Frau Römer aus Prag mit Kopf- und Gliedschmerzen angekommen, und nach drei Tagen konstatierte unser alter Theaterarzt, Sanitätsrat Haugh, »die Pocken«. Er ordnete sofort alles zu ihrer Überführung ins Pockenlazarett an, und während ich zur Probe ging, zog Mama ihre arme Freundin – deren Nägel und Kopfhaut bereits blau waren – selber an, um sie an den bereitstehenden Krankenwagen zu führen. Weder Mama noch ich fürchteten uns vor irgendeiner Ansteckung, aber es war uns Herrn Römers wegen sehr fatal, der sich auf die Nachricht hin ganz verzweifelt und äußerst ungerecht gegen uns benahm. Meinte er doch, sie habe sich in Berlin angesteckt, während sie die Krankheit tatsächlich von der Reise mitbrachte. Sanitätsrat Haugh bestand darauf, uns andern Tags zu impfen. Aber schon am Abend vorher stellten sich bei mir plötzlicher Schüttelfrost und starkes Fieber ein, das nach einigen Stunden ebenso plötzlich wieder verschwand und keine weiteren Folgen hinterließ. Die Impfung hatte bei mir auch nicht den geringsten Erfolg, während Mamas rechter Arm sehr stark anschwoll.

Bei der armen Frau Römer hatten sich die schwarzen Pocken entwickelt, deren Gefahr wir uns keinen Augenblick verhehlten. Als sie wieder genesen war, erzählte sie uns, wie sie eines Nachts gelähmt dagelegen, den Arzt sagen hörte, daß sie tot sei. Erst nachdem er mit der Wärterin den Saal verlassen, sei ihr eine überirdische Kraft gekommen. Sie erhob sich, stürzte aus dem Bett, rannte in rasender Eile über die drei Treppen in den Hof[251] hinunter, wo sie, von starken Händen umfaßt, ohnmächtig zusammenbrach. Von dem Augenblick besserte sich ihr Zustand.

Schon nach wenigen Wochen gingen wir täglich ans Hospital am Moritzplatz, brachten ihr stärkendes Essen und Getränke und sahen die Arme aus der Entfernung aus den schwarzbehängten Fenstern uns zunicken, bis unser Arzt sie uns eines Tages – sehr verändert – wieder zuführte. Ein trauriges und doch auch frohes Wiedersehen! Sie war munter und freute sich ihres wiedergewonnenen Lebens. Am selben Abend fuhr sie auf Wunsch des Arztes, von uns beiden zur Bahn gebracht, nach Prag zurück in die Arme ihres Gatten. Es dauerte sehr lange, bis dieser sich beruhigte und uns von aller Schuld frei sprach. Wie Hohn des Schicksals klang es, als uns zwei Jahre später Frau Römer davon benachrichtigte, daß ihr Gatte an den schwarzen Pocken gestorben sei. Sechs Monate vor seiner vollständigen Pensionierung, die ihm das Vierfache seiner jetzigen Einnahmen in Aussicht stellte, nach 30jähriger Berufszeit, um die er mehr als 20 Jahre allen Demütigungen als Künstler, allen pekuniären Abzügen getrotzt und mit seiner Familie geradezu kümmerlich eingeschränkt lebte, um die so sauer erworbenen Früchte der traurigen Zeiten in seinen alten Tagen zu genießen, um die ihn der Tod nun auch noch betrog!

Quelle:
Lehmann, Lilli: Mein Weg. Leipzig 1913, S. 250-252.
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