Vom Umgang mit »großen Tieren«

[69] Die meisten Leute finden den Umgang mit »kleinen Leuten« problemlos, denjenigen mit »großen Tieren« dagegen anstrengend und zum Fürchten. In Wirklichkeit liegen die Dinge umgekehrt. Wie wir im vorigen Abschnitt gesehen haben, ist der sprachliche Umgang mit »restringierten« Sprechern keineswegs einfach – man ist beständig in Gefahr, den anderen zu kränken oder sich selber zu ärgern. Nicht so bei »großen Tieren« – Ministern, Gelehrten, berühmten Künstlern. Viele von ihnen, z.B. Politiker oder Unternehmer, sind gerade darum zu »großen Tieren« geworden, weil sie gut mit Menschen umgehen können. Sie beherrschen die von uns beschriebenen Techniken, den Partner sprachlich aufzuwärmen, und man kann mit ihnen leichter reden als mit manchem Durchschnittsmenschen.

Andere freilich – zum Beispiel Künstler – sind nicht so entspannend. Es ist deshalb nötig, einige Regeln für den sprachlichen Umgang mit dieser Gruppe und allgemein für das Gespräch mit »großen Tieren« zu geben.

Erstens: Auch für ein »großes Tier« gelten im Prinzip die allgemeinen Regeln der Konversation, wie wir sie Seite 36ff. bereits formuliert haben. Dort heißt es zum Beispiel, daß jedermann das Recht hat, ins Gespräch gezogen zu werden. Dies scheint zunächst einmal paradox: Man stellt sich immer vor, daß der große Mann, die große Dame von selbst zum Mittelpunkt wird und dort, von jedermann bestaunt, huldvoll seine Redegunst verteilt.

Dies wird wahrscheinlich der Normalfall sein. Aber es gibt auch das andere. Bei einem Empfang für eine berühmte englische Schriftstellerin haben wir es erlebt, daß in einer bestimmten Phase des Anlasses die Gefeierte plötzlich isoliert dastand [69] und eine Zeitlang keinen Menschen hatte, der sich um sie kümmerte. Ein anderes Mal geschah es, daß ein berühmter Politiker, dessen Tischnachbarn sich aus irgend einem Grunde hatten entfernen müssen, plötzlich isoliert am Tisch saß und suchend um sich blickte.

In einem solchen Fall ist es die Pflicht eines jeden Gastes, mag er sich selber noch so bescheiden vorkommen, sich des Verwaisten anzunehmen und ihn ins Gespräch zu ziehen. Wir sagen ausdrücklich: die Pflicht – denn mancher wird die Möglichkeit des Gesprächs mit dem Ehrengast im Grunde herbeisehnen, sich aber nicht getrauen, den ersten Schritt dazu zu tun; er wird meinen, er sei dazu nicht würdig oder nicht gescheit genug. Wenn er aber weiß, daß er dazu nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet ist, wird er seine Hemmungen verlieren.

Wenn jemand mit dem berühmten Gast ins Gespräch gekommen ist, darf er ihn auch nicht zu sehr festhalten. Es gibt den Typus des »Sammlers« von berühmten Persönlichkeiten. Im Englischen, das ja für soziale Phänomene eine große Menge von treffenden Bezeichnungen entwickelt hat, nennt man sie »lion hunters« (Löwenjäger). Ob es ihnen darum geht, sich nachher mit der berühmten Begegnung zu brüsten, oder ob sie ein naives oder gar wissenschaftliches Interesse an der bedeutenden Persönlichkeit haben, kann man oft schwer beurteilen – kurz, es gibt Menschen, die sich einen Sport daraus machen, den großen Zeitgenossen gleichsam zu monopolisieren – sie oder ihn über lange Zeit für sich allein zu beanspruchen. Das kann durchaus gut gehen; dann nämlich, wenn auch der große Zeitgenosse an seinem Tischnachbarn interessiert ist und das Gespräch genießt. Wir haben von einem Arzt gehört, mit dem sich Churchill bei seinem Zürcher Besuch 1946 so gut verstand – unter anderem entdeckten beide, daß sie die Gabe hatten, auf eigenen Befehl in jeder beliebigen Umgebung eine Viertelstunde zu schlafen und erfrischt aufzuwachen – daß er später unbedingt wieder zu ihm gesetzt werden wollte. In der Regel aber ist es falsch, wenn ein einzelner Gast [70] sich wie ein Oktopus an den Berühmten ansaugt und so verhindert, daß dieser mit anderen spricht. Er muß seine »Beute« auch wieder abgeben können, dann nämlich, wenn jemand anders Ansprüche macht, oder wenn der Berühmte Anzeichen zeigt, daß er einem Wechsel nicht abgeneigt wäre.

Was soll man nun mit diesen »großen Tieren« sprechen? Im Prinzip gelten wieder die allgemeinen Regeln: Auch hier sind Fragen erlaubt, auch hier soll das Gespräch dem Partner Freude bereiten. Auf zwei Punkte sollte man besonders achten:

Während es Politikern und Unternehmern in der Regel durchaus angenehm ist, von ihrer beruflichen Tätigkeit zu sprechen, ist bei Künstlern Vorsicht angezeigt. Auch der disziplinierteste Künstler ist in gewissem Sinne von seiner Inspiration abhängig, er kann diese herbeiwünschen, aber nicht herbeizaubern. Wenn man nun einen Schriftsteller, der vielleicht gerade in einer Schaffenskrise ist, ins Gesicht fragt: »Was haben Sie jetzt unter der Feder?« so ist das nicht nur eine unschöne Phrase, es klingt auch so, als fragte man eine junge Ehefrau: »Warum sind Sie noch nicht schwanger?«

Verbreitet ist die Meinung, man müsse mit »erhabenen« Personen auch »erhaben« sprechen, also von nichts anderem reden als von hohen und grundsätzlichen Dingen: vom Dichten, von den Prinzipien der Malerei, von Philosophie und Menschheitsproblemen. Nichts ist falscher als dies. Der Künstler, der in einer gemütlichen Gesellschaft sitzt, möchte einmal »Urlaub« von seiner Tätigkeit und von den ihn bedrängenden Fragen haben; er wird viel lieber von der Güte des italienischen Salats, oder des Steaks, oder was sonst gerade aufgetischt wird, sprechen, als von Kunstfragen. Gottfried Keller, der aufdringlichen Menschen gegenüber gezielt brummig sein konnte, soll zu einem solchen, der beständig über das Dichten reden wollte, einmal gesagt haben: »Wir sind nicht hier, um vom Dichten zu reden, sondern um zu saufen.« Und in der bereits zitierten Komödie »Der Schwierige« erzürnt sich der »Berühmte Mann«, ein Philosoph, mit Recht darüber, daß er von einer bildungsbeflissenen Dame gefragt wird, [71] wie er sich das Nirwana vorstelle. Ein Dichter oder Gelehrter ist kein Orakel, er nimmt es mit Recht übel, wenn man ihn dazu machen will.

Das Gespräch soll natürlich trotzdem nicht einfältig sein. Es gibt aber zwischen taktlos bohrendem Fragen einerseits und einfältigem Gerede andererseits eine sehr große Menge von Themen, und es ist ja auch zu hoffen, daß die berühmte Persönlichkeit selber nicht ganz hilflos oder unwillig zum Gespräch ist. Wenn sie es ist, dann ist es freilich Zeit, sich von ihr zu verabschieden und den Platz neben ihr jemand anderem zu überlassen.

Zuletzt noch ein Geheimtip: Man darf – und soll – berühmte Leute auch loben, wenn man es ehrlicher weise kann. Je berühmter ein – sagen wir einmal – Schriftsteller ist, umso weniger getrauen sich die Leute, ihm über sein Werk Angenehmes zu sagen. Der Grund ist klar: Das Loben impliziert, daß der Lobende in der Lage ist, zu urteilen, daß er also eine Autorität, ja vielleicht sogar höher gestellt ist als der Gelobte. Deshalb ist ein objektives Lob – vom Typus: »Ihr ›Kind des Zornes‹ ist der beste Roman der letzten fünf Jahre« – anmaßend und soll vermieden werden. Was aber durchaus angebracht ist, ist das subjektive Lob, etwa: »Vielleicht darf ich Ihnen auch sagen, daß ich ›Kind des Zornes‹ mit völliger Selbstvergessenheit in sieben Stunden an einem Stück gelesen habe.« Das ist dann kein allgemeines Urteil, keine Anmaßung, sondern eine ganz bescheidene persönliche Äußerung, und so etwas wird den Autor sicher freuen.

Quelle:
Leisi, Ilse und Ernst: Sprach-Knigge oder Wie und was soll ich reden? Tübingen 21993, S. 69-72.
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