Reiseführer

[87] Hier meinen wir nicht die gedruckten, sondern die lebenden. Sie können unter sich sehr verschieden sein. Es gibt die intellektuellen, die sich eine Reisegesellschaft selbst von zuhause mitgebracht hat; es gibt die sehr unterschiedlichen lokalen Führer. Eins aber haben sie gemeinsam: Sie sind immer Vermittler zwischen [87] einem Subjekt und einem Objekt, mit allen Problemen eines Vermittlers. Das Positive an ihnen ist sicher, daß sie uns Dinge sagen, ohne die wir unser Objekt unvollständig oder in einer falschen Perspektive sähen. Es freut den Reisenden, im Schloß Chillon oder am Tempel auf dem Kap Sunion Byrons Namenszug zu sehen; es freut ihn, darauf aufmerksam gemacht zu werden, daß in Sunion Marmor aus Paros verwendet wurde, der bekanntlich besonders weiß ist. Für dies und vieles andere sind wir den Führern dankbar.

Aber der Führer hat auch alle Nachteile des Vermittlers. Er schiebt sich zwischen Subjekt und Objekt. Auf einer Busreise in den Osten Teneriffas hat sich folgendes zugetragen: Der lokale Reiseführer, nachdem er etwa drei Stunden pausenlos erklärt hatte, schaltete eine Unterbrechung so ein: »Ich mache jetzt eine Pause; jetzt können Sie schlafen.« Das heißt: Dieser eifrige junge Mann war der Meinung, es gebe für die Reisenden nur zwei Möglichkeiten: entweder ihm zuzuhören oder zu schlafen. Daß jemand Wert darauf legen könnte, auch einmal ganz ohne Wortberieselung die vorbeiziehende Landschaft anzusehen, kam ihm nicht in den Sinn.

Und am Aphaia-Tempel in Ägina haben wir etwas erlebt, was beinahe ein »Aufstand« geworden wäre. Man kam am frühen Morgen aus den Bussen zum Tempel; das ganze Gelände war noch frei von Touristen und herrlich beleuchtet. Der Führer der einen Gruppe, ein hochgebildeter Althistoriker, stellte sich auf und wollte seine Erklärungen beginnen. Doch da wurden die Touristen rebellisch: Sie brummten laut oder leise, sie wollten »dieses Zeug« jetzt nicht schon wieder hören, und begannen wegzulaufen, erst einzeln, dann in Scharen. Natürlich waren es vor allem die Fotografen unter ihnen, die ihre Chance, den Tempel ohne störende Menschenscharen aufs Bild zu bekommen, dahinschwinden sahen. Aber ganz offensichtlich – man konnte es den ungehaltenen Rufen entnehmen – ging es um mehr: Man hatte den Vermittler grundsätzlich satt und war böse darüber, daß er einen abermals um die Möglichkeit eines direkten wortlosen Kontakts mit dem schönen Objekt bringen wollte.

[88] Ähnliches geschieht wahrscheinlich öfter als man denkt. Es läuft immer darauf hinaus, daß der Vermittler und seine sprachliche Vermittlung als störend empfunden wird.

Kann man auch hier Regeln für das sprachliche Verhalten geben? Innerhalb gewisser Grenzen sicher. Zunächst für den Reiseführer. Er muß sich einprägen, daß er in sein belehrendes Gespräch immer wieder Pausen einbaut, während derer seine Gruppe, unabhängig von ihm, mit dem Objekt »wortlose Zwiesprache« halten kann. Und zwar ist es vorteilhaft, daß er eine Pause schon dann macht, wenn die Reisegruppe auf das Objekt stößt, denn so kann der erste Kontakt ohne den Vermittler stattfinden; das Bedürfnis nach »Zwiesprache« – und nach Fotografieren – kann gestillt werden, und die Informationen des Vermittlers werden nachher umso mehr geschätzt werden. Das Problem des Leiters ist dabei natürlich, wie er die Zeit für die Pause bemißt, und wie er seine Leute nachher wieder zusammenbekommt.

Ausdrücklich muß noch dies gesagt werden: Ganz sicher gibt es Reiseführer, die zu viel und zu pausenlos reden, weil sie von sich selbst eingenommen sind. Es gibt aber daneben andere, die an sich durchaus die nötige Bescheidenheit hätten, rechtzeitig aufzuhören, die sich aber verpflichtet fühlen, ihren Zuhörern ein Maximum – auch quantitativ – zu bieten, weil sie dafür bezahlt sind. Diesen gewissenhaften Seelen ist zuzurufen: Geht auf Qualität, nicht auf Quantität; macht ruhig auch eine oder mehrere Pausen, reduziert die obligatorischen Informationen zugunsten der fakultativen! Es gehört genau so zu Euren Verpflichtungen, dem Touristen eine Chance zum persönlichen Kontakt mit dem Objekt zu geben, wie es dazu gehört, ihn darüber mit Worten zu informieren. Nicht ein Maximum ist erwünscht, sondern ein Optimum.

Was ist nun – andererseits – von seiten des einzelnen Touristen zu tun? Er soll, wenn es nötig wird, den Führer höflich darauf aufmerksam machen, daß dessen Informationen zwar sehr wertvoll sind, daß sie aber nie den direkten Kontakt des Touristen mit dem schönen Tempel, den Statuen, und was noch [89] sonst alles zu sehen ist, verhindern dürfen. Der Tourist darf dabei ruhig auch das Argument gebrauchen, das wir eben verwendet haben: »Ich weiß, Sie wollen uns das Maximum bieten; wir schätzen Ihre wertvollen Informationen sehr, aber wir müssen auch Zeit haben, uns die Sache unabhängig von jeder in Sprache gefaßten Einleitung anzusehen.« So etwas, je lobender und höflicher, umso besser, sollte eigentlich den Reiseführer nicht kränken, wird aber anderseits der Gruppe einen großen Vorteil verschaffen.

Natürlich müßte man dies vorher in der Gruppe etwas absprechen, damit nicht die »Sparsamen« auf die Idee kommen, der Reiseführer drücke sich um seine Pflichten, und sie bekämen für ihr Geld zuwenig geliefert – solche ökonomischen Typen trifft man leider nicht selten an.

Quelle:
Leisi, Ilse und Ernst: Sprach-Knigge oder Wie und was soll ich reden? Tübingen 21993, S. 87-90.
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