Segensreiche Indiskretionen

[188] Eben haben wir noch vom Nutzen des Verschweigens gesprochen. Und nun kommen wir schon zum Gegenteil. Es kann Indiskretionen geben, die absolut segensreich sind, wie das folgende Beispiel zeigt:

Frau A und Frau B sind Assistentinnen im gleichen Institut; beide sind tüchtig und sympathisch, aber damit hört die Gemeinsamkeit auf. Frau A ist – in Sprache, Kleidung, Auftreten, in allem – eine Dame. Frau B, mit bräunlichem Gesicht und intensiven Augen, würde man am besten als (wildes) Mädchen bezeichnen. Wie kommen die beiden miteinander aus? Beide bleiben [188] auf Distanz, beide scheinen vor einander leichte Hemmungen zu verspüren.

So geht das eine Zeitlang, bis eines Tages Frau B, das »wilde Mädchen«, mit einem Dozenten des Instituts privat ins Gespräch kommt. Ausnahmsweise hat man etwas Zeit, man kommt vom einen zum anderen, und plötzlich ist man bei dem Thema Frau A., und da beginnt das »wilde Mädchen« zu seufzen und sagt: »Ach, für die schwärme ich so!« Mit einem leisen Unterton von Trauer, der besagt: »aber sie will ja doch nichts von mir wissen.« Der Dozent, nicht faul, nimmt die nächste Gelegenheit wahr: Bei einem kurzen Gespräch mit Frau A. sagt er: »Übrigens, da habe ich neulich mit Frau B. gesprochen; die gehört auch zu den Leuten, die Sie gut mögen; die schwärmt, glaube ich, sogar für Sie.« Darauf Frau A.: »Die mag ich auch gut leiden, aber ich hatte immer geglaubt, die möge mich nicht.«

Und die Hindernisse waren hinweggeräumt: die beiden Frauen begannen sich einander anzuvertrauen und wurden Freundinnen. Was sonst mit Recht verpönt ist, nämlich das Weitersagen von Dingen, die einem im Vertrauen gesagt worden sind, hier war es nicht nur erlaubt, sondern sogar notwendig. Es gibt also auch eine »gute Indiskretion«. Man darf indiskret sein, wenn man »gute Dinge« weitererzählt, welche die Menschen nicht trennen sondern einander näher bringen.

Aber Achtung: Indiskret darf man nur mit der größten Diskretion sein! Das will folgendes heißen: Wenn man etwas, was einem anvertraut wurde, weitererzählt, dann muß man jeden, auch den leisesten Anschein vermeiden, man mache sich über die »beichtende« Person lustig. Also: Wenn mir Frau B. stokkend und seufzend anvertraut hat, sie schwärme für Frau A., dann darf ich wohl der Frau A. das Faktum weitererzählen, daß und von wem für sie geschwärmt wird – aber niemals das Wie. Völlig verkehrt wäre es, der Frau A. zusätzlich zu sagen: »Und dabei hat Frau B. soo geseufzt, und ›Ach‹ hat sie gesagt.« Dadurch würde Frau B. zur Komödienfigur herabgewürdigt. Und das hat sie nicht verdient.

[189] Aber im allgemeinen kann man sicher sagen: die »gute Indiskretion«, das Hinterbringen von positiven Aussagen, kann viel Glück stiften. Einerseits sind die meisten Menschen viel unsicherer und viel empfänglicher für ein lobendes Wort, als man im allgemeinen glaubt – sogar »großen Tieren« geht es oft so (Seite 72) – und eine positive Indiskretion kann für sie lebenswichtig sein. Andererseits sind viele Menschen gehemmt und geben ihre guten Meinungen, die sie von anderen haben, nicht preis, sei es, daß sie nicht als Schmeichler gelten wollen, sei es, daß sie Schwierigkeiten mit dem Formulieren haben. Da kann die Zwischeninstanz – der diskrete Indiskrete – Wunder wirken.

Quelle:
Leisi, Ilse und Ernst: Sprach-Knigge oder Wie und was soll ich reden? Tübingen 21993, S. 188-190.
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