XIII. September und Oktober 1870.

[125] Zwischen Hoffen und Bangen, Pflege in den Lazaretten und rastlosem Stricken und Scharpiezupfen gingen die Tage dahin. Ich glaube, wer nicht nur wie im Traum, sondern mit klarem, persönlichem Empfinden und offenen Augen jene große Zeit durchlebt hat, sei es als Mann oder als Frau, dem bleibt auch in der Erinnerung ein volles Verständnis für den heißen Herzschlag des Volkes und für das Erhabene, das in dem Bewußtsein liegt, sich in seinem Denken und Wollen eins zu wissen mit hoch und niedrig, arm und reich. Diese Eindrücke, wenn man sie nicht[125] gedankenlos vom Strome der Zeit verwischen läßt, wirken bis in späte Jahre hinein und drängen uns, dem idealen Gedanken nachzustreben, der schon die Zeit der Befreiungskriege so begeisternd erfüllte: ein Band vom Throne bis zur Hütte.

Dicht gedrängt war an jedem Freitagabend die Friedenskirche, wo allwöchentlich ein Betgottesdienst abgehalten wurde. Das war kein Gewohnheitskommen, das die Menschen zur Kirche zog, es war der Trieb des Herzens, das sich sehnte, seinem Gott die Sorge um die geliebten Vaterlandskämpfer zu bringen, und das sich im gemeinsamen Gebet Stärkung holen wollte.

Die Depeschen an den Anschlagsäulen, vor allem aber unsere Feldpostbriefe waren der Hauptinhalt unseres Denkens und unserer Gespräche.

In einem Schreiben meines Vaters vom 29. August heißt es: »Heute gab mir General von Manstein das von Majestät mir verliehene Eiserne Kreuz zweiter Klasse, was mich hoch erfreute. Die an diesem Tage erfolgte erste Verteilung von Eisernen Kreuzen erweckte in allen Teilen der Division eine freudig erhobene Stimmung. Ich hatte mir die zunächstliegenden Truppen der Division nach Montois bestellt und verteilte selbst die vierzehn Kreuze, welche der Division vom Könige zuerkannt waren. Auch ritt ich in diesen Tagen zu meinem alten 61. Regiment, das südöstlich von St. Privat biwakierte. Mit sichtbarer Freude wurde ich dort vom Offizierkorps und den älteren Mannschaften aufgenommen, so daß diese unleugbare Anhänglichkeit mir sehr wohltat.

Wir mußten damals schon am 23. unser Biwak bei St. Ail aufgeben und aufbrechen. Der Weg führte an den Orten vorüber, wo der furchtbarste Kampf gewütet hatte. Namentlich St. Privat, mit der Ferme Jerusalem, war von unserer Artillerie zu einem Trümmerhaufen zusammengeschossen. Kein lebendes Wesen war zu sehen, nur halb verkohlte Leichen unter schwelenden Balken. Schreckliche Bilder und Gerüche, die den Atem raubten!

Als ich mir in Roncourt, einem völlig verwüsteten Dorf, in dem aufgeweichten Lehmboden einen Biwaksplatz aussuchte, langte der Befehl an, dasselbe weiter nach Montois la Montagne zu verlegen. Dort war der Platz, um das Lager aufzuschlagen, noch schlechter. Breiartiger Lehm, kein Holz und Stroh, und dabei unausgesetzter Regen. Glücklicherweise konnte ich wenigstens die Hälfte meiner Division in Kantonnements unterbringen.

Mein Hauptquartier hatte ich nach Montois la Montagne gelegt. Ein niedriges, von einem Düngerhaufen umgebenes Haus, eine kleine Stube mit dem üblichen großen Bauernbett, einem wackligen Tisch und[126] drei Stühlen war mein Unterkommen. Mein Bureau richtete ich mir auf dem entleerten Heuboden ein, in den man nur durch den Pferdestall mittels einer Leiter gelangen konnte. Meine Adjutanten waren außerhalb in noch schlimmeren Löchern untergebracht.

In den Tagen begruben wir die neun gefallenen Offiziere des Regiments 84 am Bois de la Cusse. In einem weiten Grabe hatten wir sie nebeneinandergelegt, ihre blutgetränkten Uniformen verdeckte das frische Grün der Eichenzweige, mit denen man sie selbst und das Grab geschmückt hatte. Es war eine ergreifende Feier. Das Gemüt ist für solche ernsten Eindrücke viel empfänglicher, als man nach den kurz vorher erlebten blutigen Dramen erwarten konnte. Man hielt sich für abgestumpft durch all die gräßlichen Bilder und merkte hier erst, an den Leichen so naher Bekannter, daß das Herz noch nicht in der Brust erstorben war, sondern im Gegenteil recht tief fühlte, wie wunderbar des Allmächtigen Hand unsere Geschicke regierte.

Die nächsten Tage brach aus dem umdüsterten Himmel nur selten ein Sonnenblick. Es regnete unausgesetzt, aber trotzdem hatten wir auch am nächsten Sonntag Feldgottesdienst im Biwak. Als aber an demselben Nachmittag der Regen sich in stromartige, vom Sturm gepeitschte Güsse verwandelte, erhielt ich von General Manstein die Erlaubnis, alle Kantonnements doppelt stark zu belegen, wodurch mir die Gelegenheit gegeben wurde, fast die ganze Division unter Dach zu bringen. Allerdings lagen die Truppen so eng, daß mitunter die Leute sich nicht alle zugleich in ihre Lagerstätte hineinzwängen konnten. Diese Anordnung war aber auch nötig, da sich die Ruhr bereits anfing zu zeigen, auch die Sachen doch einmal wenigstens getrocknet werden mußten.

Leider tauchen jetzt Franktireurbanden auf, es ist daher die größte Vorsicht geboten, damit wir uns vor den Kerlen schützen können. Als ein besonderer Schlupfwinkel dieser Banden zeigt sich der Ort Moyeuvre. Er liegt in einer tiefen Schlucht zwischen Waldungen, und das ist natürlich außerordentlich günstig für die Franktireurs. Ich ließ daher das Dorf zum starken Kantonnement für die Truppen einrichten. Jetzt stehen wir alle in Erwartung, was der Feind tun wird, jeder Tag kann eine Änderung bringen.« –


Diese Nachrichten vom Kriegsschauplatz hatten wir eben erhalten, da flog nach Deutschland eine Siegesnachricht, wie sie glänzender nicht dagewesen, und Tausende von Händen falteten sich in heißem Dankgebet. Der blutige Kampf am 1. September auf den Höhen von Sedan war beendigt, die Feste und die französische Armee dort hatte sich ergeben,[127] und Kaiser Napoleon den Grafen Reille zum König entsandt mit einem Briefe, der nur die wenigen Worte enthielt: »Nachdem es mir nicht vergönnt war, in der Mitte meiner Truppen zu sterben, bleibt mir nichts übrig, als meinen Degen in die Hände Ew. Majestät zu legen.«

So lautete das Telegramm, das an den stürmisch umlagerten Anschlagsäulen zu lesen war. Eine tiefe Bewegung des Dankes und des Jubels ging durch unser ganzes Volk und bewegte jedes einzelne Herz. Nicht genug konnte man im Lazarett unseren Pfleglingen von der Siegesnachricht bis in alle Einzelheiten erzählen. Unwillkürlich wurde aber hier die Siegesfreude mit Wehmut und tiefem Mitleid gemischt, wenn man bei den verwundeten Franzosen den Schmerz der Besiegten sah und die verzweifelte Empörung, die das Unglaubliche nicht fassen konnte und wollte. Da galt es, den wunden Herzen von dem zu sprechen, was man von Tapferkeit und Heldensinn aus der französischen Armee zu erzählen wußte.

Von den Kämpfen um Metz hörten wir, außer den Zeitungsnachrichten, aus den Briefen meines Vaters. Er schrieb, vom 8. September datiert: »Heute war der Befehl erteilt worden, daß Metz an demselben Abend von allen Seiten beschossen werden sollte. Die Batterien fuhren in ihre Stellungen, und punkt 9 Uhr begann die tolle Kanonade in die dunkle, wetterschwere Nacht hinein. Der St. Quentin machte uns die Freude, mit vier Schüssen auf unser Bellen zu antworten. Nach zwei Stunden kehrten wir in unser Lager zurück. Leider Gottes fanden wir nur wenige Hütten, denn der orkanartige Sturm, verbunden mit dem Platzregen, hatte sie größtenteils weggeschwemmt. Doch nun will ich zuerst in meinen Berichten, die für ein späteres Kriegstagebuch zu sammeln sind, fortfahren, wo ich das letzte Mal schloß. Am 31. August traf die Meldung ein, daß der Feind auf dem rechten Moselufer in beträchtlicher Stärke debouchiere. Ich ließ sofort die Truppen alarmieren und zog meine Division bei Roncourt zusammen. Da der Feind aber nicht weiter vorging, erhielten wir den Befehl, zu biwakieren.

Noch war ich nicht eingeschlafen, da bekam ich Order, Alarm blasen zu lassen. Sofort begann der Abmarsch, den General Manstein selbst leiten wollte. Er setzte sich an die Spitze der Dragoner und ließ eine Ordonnanz mit einer Stallaterne voranreiten, denn die Nacht war stockfinster. Ich mußte mit der Infanterie folgen, St. Barbe sollte unser Ziel sein. Durch dichtbewaldete Talränder der Mosel, hinab in die Niederung derselben jenseits Marange führte der Weg. Endlich früh 5 Uhr kamen wir am 1. September nach Antilly, Manstein war mit den Dragonern nach St. Barbe vorausgeeilt, um das Eintreffen seines Korps[128] anzumelden. Schon am Abend des 30. hatte sich ein geräuschvolles Treiben und wiederholtes Erklingen von Militärmusik in den Stellungen der eingeschlossenen Armee bemerkbar gemacht und die Aufmerksamkeit der preußischen Beobachtungsposten erregt. Als sich diese Vorgänge am 31. frühmorgens wiederholt hatten, auch bei zunehmender Tageshelle zahlreiche Truppen beim Fort St. Julien bemerkt waren, hatte man auf preußischer Seite daraus geschlossen, daß der Feind eine ernste Unternehmung vorbereitete. Der Oberbefehlshaber der ersten Armee hatte infolgedessen seine ihm unterstellten Truppen alarmieren lassen, und Prinz Friedrich Karl das neunte Armeekorps angewiesen, sich zu sammeln und weitere Befehle abzuwarten. Sobald sich nun am 31. das Gefecht von Noisseville entwickelte, war der Prinz bei Fèves aufmerksam dem Gange des Gefechtes gefolgt. Der Angriff des weit überlegenen Feindes gegen die Stellung der ersten Division hatte die Absicht eines gewaltsamen Durchbruchs deutlich erkennen lassen, und eine Erneuerung des Kampfes war für den nächsten Tag zu erwarten gewesen. Unter diesen Umständen hatte der Prinz ein Heranführen weiterer Verstärkungen auf das rechte Moselufer für dringend geboten gehalten und Manstein telegraphisch aufgefordert, sich mit den bei Roncourt befindlichen Teilen seines Korps sogleich über Marange nach St. Barbe in Marsch zu setzen.

Als General von Manteuffel am 1. September bei Anbruch des Tages erfuhr, daß Noisseville in der Hand des Feindes geblieben war, befahl er dem General von Bentheim, zum Angriff gegen Noisseville zu schreiten, und bestimmte – nach Rücksprache mit General Manstein, daß die 18. Division in der Reservestellung nördlich Malroy und Charly einrücken solle. Um 5 Uhr früh wurde mir von einem Offizier des Stabes vom General Manstein der Befehl überbracht, längs der Chaussee vorzugehen, um dem General Kummer in seiner Stellung Malroy-Charly tätige Unterstützung zu bringen. Eine halbe Stunde später waren wir an dem Ort versammelt, als der Feind, trotz des undurchdringlichen Nebels, die Kanonade begann. Ein Adjutant des Generals von Kummer teilte mir mit, daß die Hessen von Charly nach St. Barbe abrückten, und mich der General daher dringend ersuchen ließ, seine linke Flanke zu decken durch die Besetzung von Charly und des Bois de Failly. Meine Leute hatten den Tag vorher hungernd biwakiert, waren diese Nacht marschiert und eben angelangt. Ohne sie ausruhen zu lassen, mußte ich infolgedessen dem General von Below den Befehl erteilen, sofort mit seiner Brigade (dem Regiment 85 und 11) vorzugehen und jene beiden Punkte zu besetzen. Ich selbst ritt zu Kummer und orientierte mich über seine Aufstellung in den sehr gut angelegten Schützengräben rechts und[129] links der Chaussee, welche den Höhenrücken zwischen Malroy und Charly krönten. Demzufolge dirigierte ich nun Truppen in das Bois de Failly, um auch möglichst bald eine Verbindung mit dem ersten Armeekorps nach links herzustellen.

Gegen 7 Uhr begann der Nebel sich zu lichten, und nun erst sah man Fort St. Julien und die französischen Truppenkolonnen in der Richtung auf Failly. Vor uns lag eine Höhe, die durch Infanterie stark besetzt war, und die zu nehmen erschien mir als erste Aufgabe. Ich beschloß, den am Höhenrande zwischen den Dörfern eingenisteten Feind durch einen umfassenden Vorstoß wieder zu vertreiben. Der Gegner überschüttete den Anberg nicht nur mit Projektilen, sondern machte auch gleichzeitig einen Ausfall gegen Rupigny, von wo er meine dort postierten Kompagnien verdrängte.

Die Batterie Eynatten begann nun ihr wirksames Feuer auf den vorgehenden Feind, und ich schickte nach und nach zwei Bataillone nach Charly und Rupigny, um diese beiden Hauptpunkte wiederzunehmen, während Below die vorliegende Höhe links umfassen sollte. Unterdessen ließ ich noch zwei Geschütze auffahren und beschäftigte den Feind durch das Feuer dieser 18 Geschütze in der Front. Das Regiment 11 hatte sich rasch und glücklich in Rupigny festgesetzt.

Das II. Bataillon 85 mußte eine weite Umgehung machen, um unvermutet und wirksam eingreifen zu können. Below leitete die Umgehung persönlich, und Major Ziermann brach am richtigen Punkte mit seinen vier auseinandergezogenen Kompagniekolonnen plötzlich hervor, die ganze feindliche Stellung umfassend. Voll unvergleichlicher Bravour ging das Bataillon vor, mit seinen Schützen die feindlichen Tirailleurs zurückwerfend, und rollte den Feind vollständig auf. Während das geschah, ging auch die Artillerie batterieweise vorwärts. In dieser Weise gelang es, den Feind von den dominierenden Höhen herunterzutreiben und unsere Batterien dort aufzufahren, die den abgehenden französischen Truppen empfindliche Verluste zufügten. Die Franzosen schienen bereits auf allen Punkten im vollen Rückzuge, als unerwartet stärkere feindliche Kräfte auftauchten und sich nach Rupigny zu bewegten. Sofort erteilte ich nun dem General Blumenthal den Befehl, mit dem Regiment 36 diesem Vorstoß entgegenzugehen. Blumenthal erreichte rechtzeitig Rupigny und wies den Angriff glänzend ab. Im Verein mit Teilen der ebenfalls vorbrechenden Division Kummer wurde der Feind bis unter die Kanonen des Forts St. Julien verfolgt.

Gegen 1 Uhr verhallten die letzten Schüsse aus diesem Fort, überall trat Ruhe ein, und nach und nach wurden die Truppen von uns[130] hinter deckende Höhen zurückgezogen. Eine Stunde später blieben wir noch in unserer Stellung, bis auch der Feind sich völlig zurückgezogen hatte, dann erst konnten wir daran denken, meiner Division die wohlverdiente Ruhe zu gönnen. Nördlich der Division Kummer bestimmte ich die Lagerplätze. Zu meiner größten Freude war auch die Proviantkolonne angelangt und brachte meinen ausgehungerten Leuten reichliche Zufuhr.

Am 2. September marschierten wir wieder über die Moselbrücke in unsere Kantonnements zurück. Hart am Flusse ließ ich die Division mit klingendem Spiel an mir vorüberziehen und sprach den einzelnen Abteilungen meine besondere Zufriedenheit aus. Das II. Bataillon 85 und die Batterie Eynatten begrüßte ich mit entblößtem Haupte. Man sah den Leuten die Strapazen der letzten drei Tage deutlich an, es war ihnen zu gönnen, daß sie jetzt Ruhe haben sollten.

Am 4. September war bei Montois Feldgottesdienst. Als wir dazu versammelt waren, erreichte uns die Nachricht von dem großen Siege bei Sedan, der Kapitulation der Armee Mac Mahons und der Gefangennahme des Kaisers. Man hielt diese Freudenbotschaft kaum für möglich, bis sie vom Generalkommando bestätigt war und der Prediger nun einen Dankgottesdienst abhielt.

Unsere Stimmung wurde eine äußerst gehobene, dabei war das Wetter prächtig, und man ließ mit Behagen die nassen Kleider sonnen.

Tags darauf erhielt ich den Befehl, in die erste Zernierungslinie zu rücken und die 15. Division abzulösen in den Stellungen zwischen Jussy und Chatel St. Germain. Ich trat meinen Marsch sogleich an, möglichst dem Auge des Feindes entzogen, nach der Talsenkung zu, und erreichte Leipzig um 5 Uhr. Die Einteilung für die verschiedenen Truppen wurde gemacht. Der Stab der 35. Brigade (Blumenthal) lag in Leipzig, Regiment 84 im Biwak bei Leipzig und hielt Chatel besetzt, Regiment 36 im Biwak bei Moskau. Stab der 36. Brigade (Below) sollte nach Point du jour, da das aber eine Ruine war, begab sich der Stab zum Regiment 85, das bei St. Hubert biwakierte. Regiment 11 lag beim Bois de Vaux, und die Jäger wurden nach der Schlucht von Chatel gesandt, um das Wäldchen gegen Plappeville zu besetzen und Verbindung nach links mit dem III. Armeekorps herzustellen1. Während nun die Truppen ihre Aufstellung nahmen, ritt ich zu den Vorposten und kam beim Dunkelwerden in das zerschossene St. Hubert an, wo das Regiment 85 im Biwak lag und meine Leute mir ein Strohlager in der[131] großen leeren Bettstelle zurechtgemacht hatten, in der auch mein Vorgänger General Weltzien, Kommandeur der 15. Division, geschlafen und sich dort den Typhus und den Tod geholt hatte.

Am nächsten Tage beritt ich die Stellungen meines rechten und linken Flügels. Dort auf der Schloßruine von Chatel hatte ich als Beobachtungsposten einen Offizier mit einem sehr guten Fernglase aufgestellt. Man konnte sich von hier aus vollständig gegen St. Quentin und rechts weiterfort orientieren. Auch erkannte ich, welche Wichtigkeit das Dorf Chatel für uns haben mußte. Ich ging daher gern auf den Wunsch des Majors von Reibnitz ein, ihm diesen exponierten Posten zu übergeben. In seinen Händen war er mir sicher, und hat sich Reibnitz dort auch wirklich so trefflich verschanzt, daß ich sechs Kompagnien vorschieben und das Dorf zum Stützpunkte meines linken Flügels machen konnte. Diese Dorfumschanzung im Anschlusse an die steilen Höhen ist so interessant und lehrreich, daß ich Arbeiten darüber zusammenstellen lasse, um sie Exzellenz Moltke zu übergeben.

Schwere Regentage haben mir seitdem, und bei dem heulenden Sturm merkt man erst, was für ein schlechtes Obdach wir haben. Nicht bloß, daß Türen und Fenster durchlöchert sind, auch in die Wände haben Granaten große Löcher geschlagen, und ein Teil des Daches fehlt ganz. Man wird also natürlich in den sogenannten Stuben ordentlich eingeweicht.

Neulich, als wir eben unser einfaches Mahl verzehrt hatten, klopfte es an das Fenster, und wer erschien? Mein geliebter Schwiegersohn, der bis Remilly mit der Eisenbahn gefahren und dann trotz des furchtbaren Regens zu mir geritten war. Ihr könnt Euch denken, was das für eine köstliche Freude war, dies Wiedersehen! Was hatte man sich zu erzählen! Vorerst ließ ich dem lieben Sohn trockne Sachen geben, das heißt, er zog die meinen an, damit sein eigener Anzug trocknen konnte. Dann futterte ich meinen lieben Jungen, so gut ich konnte, und ritt mit ihm, ungeachtet des tollen Wetters, zu den nächsten Vorposten, um ihm Metz, den St. Quentin und einige Rothosen doch wenigstens zu zeigen, ebenso die Lagerplätze. Sie waren jetzt schon versumpft, und die aus Laub gefertigten Hütten brachen im Sturm zusammen, dabei fehlte uns Holz und Stroh gänzlich. Es war kein erfreulicher Anblick.

Sturm und Regen wurden während der Nacht immer heftiger, so daß ich mit einer gewissen Besorgnis meinen lieben Sohn, der schon um 8 Uhr weg mußte, fortreiten ließ. Ich gab ihm noch bis Etain eine Dragonerpatrouille mit, da sich in dortiger Gegend vielfach Franktireurs gezeigt hatten. Bei dem tollen Wetter wurden übrigens nach und nach[132] alle Offiziere meines Stabes krank, Gott sei Dank bin ich bis jetzt noch vollständig frisch, nun helfe der Allmächtige so weiter!« –

Das Schreiben meines Vaters brachte mir deutlich zum Bewußtsein, was mein Mann in seinen Feldpostbriefen nicht erwähnt hatte, die Gefahr, die darin lag, allein, nur in Begleitung eines Burschen, mitten im Kriege quer durch Feindesland zu reiten. In der Gegend von Paris sollte er seine 2. Gardedivision finden, da war eine Strecke zu durchqueren, die den immer mehr auftauchenden Franktireurs Gelegenheit genug bot, zwei einzelne Reiter zu überfallen.

Bange Sorge schlich sich in mein Herz, aber ich hatte es ja dem geliebten Manne versprochen, mit Gottes Hilfe tapfer zu bleiben und den Kopf nicht hängen zu lassen. Nun galt es, auch durch die Tat zu beweisen, was die Lippen gelobt hatten. Da wurde mir ein Telegramm gebracht: »Bin verwundet, komme mit nächstem Transport. Liliencron.« So stand darin.

Mein erster Gedanke war mein Mann und ein Überfall der Franktireurs. Mein treues Mutterchen, deren Anwesenheit mir in dieser Zeit so viel war, suchte mich davon zu überzeugen, daß die Depesche nicht von meinem Manne, sondern von meinem Schwager sein müsse, der mit unseren 3. Gardeulanen die Tage von Beaumont und Sedan mitgemacht hatte. Wir richteten infolgedessen gleich bei uns ein Zimmer für ihn ein, und ich fuhr mit unserem Hausarzt auf die Bahn, denn für den Tag waren mehrere Transporte mit Verwundeten angemeldet. Äußerlich mußte man ja ruhig bleiben, aber wie stürmisch klopfte das Herz, als der Zug einlief und man angstvoll die Uniformen überflog, die blassen Gesichter durchforschte, die sich aus den Fenstern lehnten, und beobachtete, wer aus den geöffneten Türen herausstieg oder herausgetragen wurde. War es mein Mann oder mein Schwager, den ich begrüßen sollte? Und wie schwer war die Verwundung, die der Heimkehrende erlitten hatte? So wirbelten mir die Gedanken durch den Kopf, während ich mit tiefer Wehmut auf die wackeren Söhne unseres Vaterlandes blickte, die mit ihrem Blute ihre Treue besiegelt hatten.

Vier Züge durchspähten wir vergeblich, dann fuhren wir heim, weil an dem Tage kein Transport mehr zu erwarten stand. Aber es lief doch noch ein Zug ein, und kaum war ich eine Stunde zu Hause, da sah ich durch das Jägertor, von einer Menschenmenge umringt, einen Rollstuhl von Gymnasiasten schieben, und erkannte die geliebte gelbe Ulanenuniform des Verwundeten, der darin saß. Aber noch konnte ich nicht unterscheiden, wer von den Brüdern es war, der heimkehrte. Wie der Wind eilte ich die Treppe hinunter und stand am Gittertor. Nun[133] wußte ich, es war mein Schwager, der mir aus seinem Rollstuhl zuwinkte.

Sein erstes Wort der Begrüßung lautete: »Habe ich dir nicht gesagt, daß ich verwundet werden würde! Nun mußt du mich auch pflegen, wie du versprochen hast.« Während wir noch damit beschäftigt waren, mit Hilfe des Lazarettwärters, der mitgekommen war, meinen Schwager, der einen Schuß durch das Knie bekommen hatte, auf sein Lager zu betten, wurde ich zur Prinzessin Karl von Preußen befohlen. Die Hohe Frau hatte in unserem Hause einen Besuch bei Frau von Gustedt gemacht und war dabei Zeuge von der Ankunft des verwundeten Ulanenoffiziers gewesen. Die Prinzessin teilte mir ihren Wunsch mit, daß mein Schwager gleich in das von Ihrer Königlichen Hoheit gegründete Lazarett in der Karlstraße überführt würde. Mein Schwager jedoch, dem ich die Aufforderung der Prinzessin mitteilte, fühlte sich zu angegriffen nach der Reise und wollte entschieden lieber Privatpflege als Lazarett. Da unser Hausarzt, den meine Mutter währenddessen hatte rufen lassen, auch seinem Wunsche, vorläufig bei uns zu bleiben, zustimmte, so teilte ich Ihrer Königlichen Hoheit, zugleich mit dem Dank meines Schwagers, mit, daß seine Überführung nicht vor 14 Tagen stattfinden dürfe.

Nun hatte ich, zusammen mit meiner Mutter, die Verwundetenpflege im Hause und gab selbstverständlich die Lazarettbesuche auf. Die Behandlung der Kniewunde übertrug der Hausarzt mir, persönlich die Oberaufsicht behaltend. Der Zustand unseres Verwundeten war ein wechselnder. Es traten zuerst hochgradige Fiebererscheinungen auf mit wild bewegten Phantasien, die ihn wieder in den Kampf zurückführten oder den Einzug in Paris erleben ließen. Dabei war immer die, zur quälenden Angst gesteigerte Sorge, daß die Franzosen mich fortschleppen wollten. Dann ließ er mein Kleid oder meine Hand nicht los, mit dem anderen Arm umherfuchtelnd, um mich vor dem eingebildeten Feinde zu schützen. Nur freundlich heiteres Sprechen übte dann allmählich eine Beruhigung auf ihn aus und brachte ihn wieder ins Gleichgewicht. Ich konnte in solchen Stunden keinen Augenblick sein Lager verlassen, sonst steigerten sich die Phantasien und mit ihnen die Unruhe auf das bedenklichste. Als die erste Woche vorüber war und die hohen Erregungen seltener auftraten, auch die Wunde keine bedenklichen Symptome mehr zeigte, kam mehr und mehr Ruhe und Klarheit in das Gemüt unseres Verwundeten. Mein Schwager konnte mir nun Näheres über das Gefecht bei Beaumont und die Tätigkeit des Regiments am Sedantage erzählen. Er hatte in den ersten Tagen nach seiner Verwundung, bevor er in die Heimat kam, verschiedene französische Offiziere gesprochen, und so möchte[134] ich denn, was ich von diesem Gefecht zu sagen weiß, von beiden Seiten beleuchtet, wiedergeben.

»Der Tag von Beaumont ist kein Ehrentag für unsere Kriegsführung«, hatten die Franzosen selbst erklärt. General de Failly kommandierte ihre Truppen, die sich mehr und mehr in den Gedanken verrannt hatten, daß seit Beginn des Krieges das Unglück diesen General wie ein Verhängnis verfolge.

Zur Erläuterung solcher Annahme sei gesagt, daß bei Fröschweiler die Armee Mac Mahons vergebens auf Failly, als einen Retter aus der Bedrängnis, harrte. Er blieb in Bitsch, einem Befehl des Kriegsministers folgend. In Busancy, wo er leicht Vorteile erringen konnte, folgte er dem Befehl, das Gefecht abzubrechen, in dem Augenblick, als er drauf und dran war, es möglicherweise zu gewinnen, und am Tage vor Beaumont, am 30. August, schickte ihm der Marschall einen Kapitän vom Generalstab mit der bestimmten Weisung, sich der drohenden Nähe der Deutschen zu entziehen. Der Kapitän aber fiel in unsere Hände, daher blieb Failly bis zum Abend ohne Befehle. Die Truppen marschierten in der Nacht nach Beaumont, kamen im Morgengrauen an und bezogen dort ihr Lager.

Es war um die Mittagszeit, als, durch den Wald gedeckt, unsere Truppen anrückten. Mein Schwager erzählte mir, wie sie beobachtet hätten, daß die Leute ihre Suppe kochten und ihre Uniformen reinigten. Die Kavallerie hätte ihre Pferde teils zur Tränke geführt, teils hätten sie ungesattelt gestanden. Punkt zwölf Uhr wäre dann die erste preußische Granate in das Lager geschlagen. Zuerst, so hatten die französischen Offiziere gemeint, hätten sie an eine blinde Alarmierung geglaubt, und erst als ein verwundeter Husar auf blutendem Pferde mit dem Schreckensruf: »Die Preußen kommen!« ins Lager gestürmt wäre, hätten sie die Wahrheit erkannt. Es wäre nun im ersten Augenblick eine furchtbare Verwirrung entstanden, doch hätte sich die Infanterie schnell zu ihren Verbänden gefunden und wäre zum Angriff übergegangen. De Failly, der mit mehreren höheren Offizieren zum Frühstück in Beaumont geweilt hätte, wäre schnell auf dem Platze gewesen und hätte geschickte Anordnungen getroffen. Trotzdem sich die Truppen des französischen V. Korps vorzüglich hielten, begann doch unter dem Feuer der preußischen Geschütze ein allmählicher Rückzug, der in eine vollständige Flucht ausartete.

Über dieses Gefecht bei Beaumont und über die nächsten Tage schreibt mein Schwager in seinem Kriegstagebuch: »In den letzten Tagen des August hatte unser Regiment mit dem Feinde, der in starken Kolonnen[135] auf Beaumont zu marschierte, stets Fühlung. Bei Byzanay bezog ich am 28. August Vorposten, während die feindliche Division Douay zwei Kilometer vor uns im Biwak lag, ohne Vorposten aufgestellt zu haben. Wir konnten bis dicht an das Lager heranreiten und deutlich die französische Infanterie um das Lagerfeuer gruppiert sitzen sehen.

Meinen Leuten zuckte es in den Fingern, auf den Feind zu schießen, doch gab ich keine Erlaubnis dazu. Am 29. biwakierten wir bei Bar, und am anderen Morgen früh 6 Uhr wurde aufgebrochen. Doch kam der Befehl, nicht abzumarschieren, da das IV. Korps, das bis dahin noch nicht im Gefecht gewesen war, vorrücken sollte. Um Mittag hörten wir Geschützdonner und ritten auf Beaumont zu, die Kavalleriedivision in schnellem Marschtempo. Immer deutlicher wurde der Kanonendonner, man konnte sogar Mitrailleusen- und Gewehrfeuer unterscheiden, und immer mehr verschärften wir unser Marschtempo. Gegen 4 Uhr nachmittags, nachdem wir einen großen Wald durchquert hatten, kamen wir aufs Schlachtfeld. Vor uns lag das verlassene französische Lager. Die Sachsen hatten die Franzosen gerade beim Mittagsmahl überrascht, und bei dieser Gelegenheit machten die Kochtöpfe der Franzmänner mit den feindlichen Granaten Bekanntschaft. Der Feind hatte sich schleunigst nach Beaumont zurückgezogen, das Lager war unversehrt geblieben.

An der Straße fanden wir viele Verwundete, unter diesen auch einen blessierten Offizier, der von einem unserer Ulanen fast umgebracht wäre.

Beim Ausrücken unseres Regiments aus Potsdam hatte nämlich unser Kommandeur Prinz Hohenlohe die Ulanen darauf aufmerksam gemacht, daß die Zuaven, wenn sie attackiert würden, sich auf die Erde würfen und die Reiter über sich hinweggehen ließen, um alsdann hinterher zu schießen. Die Ulanen sollten daher in diesem Falle den Stich zur Erde machen. Mein Polack hatte nun die Sache so aufgefaßt, daß er jeden noch lebenden Franzosen, der auf der Erde läge, erstechen sollte.

Eben war er im Begriff, dem Offizier den Garaus zu machen, als ich noch zur rechten Zeit kam, um ihm die Lanze aus der Hand zu schlagen.

Mit den Worten: ›Is sich noch nicht ganz tot, Herr Leutnant‹, entschuldigte er sich.

Das Gefecht ging zu Ende, als wir kamen, und beim Dunkelwerden räumten die Franzosen den Platz. Unsere Truppen bezogen auf dem Schlachtfelde Biwak, und mein Regiment lag ganz in der Nähe des französischen Lagers. Von meinem Rittmeister erbat ich mir Urlaub, um den nötigen Proviant zu beschaffen, und in Begleitung des Leutnants Prinzen Ratibor machte ich mich auf den Weg ins französische Zeltlager.[136] Es war mittlerweile ganz dunkel geworden, und nur beim Scheine einer Kerze konnten wir in den Zelten Umschau halten. In einem derselben bot sich uns ein herzerschütternder Anblick. Ein französischer Offizier lag, durch den Kopf geschossen, vor uns. In der Hand hielt er einen Brief, der schon adressiert war, vor ihm lag ein aufgeschlagenes Gebetbuch. Den Brief habe ich an seine Adresse gesandt, die Leiche mußten wir liegen lassen.

Prinz Ratibor und ich suchten nun die brauchbaren Gegenstände zusammen, unter anderem ein Zelt. Schwer beladen traten wir den Rückzug an, fielen in der Dunkelheit noch eine steile Chausseeböschung hinab, ohne uns aber irgendwie zu verletzen, und langten glücklich bei der Truppe an. Nun galt es noch, Futter für die Schwadron zu requirieren, so machte ich mich denn mit einigen Ulanen auf den Weg nach Beaumont. Hier sah es bunt aus, die Häuser waren von unseren Truppen bis unter das Dach besetzt. Von Hafer konnte ich keine Spur entdecken und war froh, gegen Morgen wenigstens ein paar gut bepackte Maulesel zu finden, die von einem französischen Generalstrain herzurühren schienen. Die Tiere waren aber so störrisch, daß man sie gar nicht von der Stelle bekam. Plötzlich wurde alarmiert und ich mußte alles im Stich lassen, um so schnell wie möglich zu meiner Truppe zu kommen. Ein Sack mit Reis, den mein Bursche erbeutet hatte, war das einzige, was wir mitbrachten.

Am 31. wurde der Marsch nach der belgischen Grenze fortgesetzt. Carignan war noch von den Franzosen besetzt, und in der vorherigen Nacht hatte Napoleon hier geschlafen. Die Artillerie beschoß den Ort, den wir am Abend erreichten, und dann bezogen wir etwas weiter bei Matton, das von seinen Bewohnern verlassen war, Kantonnementsquartiere.

In der Frühe des 1. September wurden wir alarmiert. Geschützdonner in der Richtung von Sedan gab die Marschrichtung an. Gegen 10 Uhr kamen wir aufs Schlachtfeld und nahmen Aufstellung hinter den Batterien der Gardeartillerie.

Das Regiment saß ab, einige Offiziere ritten zu den Batterien, die ein heftiges Feuer gegen die Höhen jenseits von Givonne unterhielten, da dort größere feindliche Truppenmassen sich zeigten.

Nach etwa einer Stunde wurde wieder aufgesessen, und wir gingen gegen Givonne vor. Der Ort liegt im Tale, und wir konnten, als wir es erreicht hatten, deutlich die Granaten fliegen sehen, die unsere Artillerie über unsere Köpfe hinwegschoß. Unsere Aufgabe bestand darin, den Ring, den die deutschen Truppen um die französische Armee gezogen hatten, zu[137] schließen. So gingen wir denn in der Richtung nach Illy vor, hatten bald die Fühlung mit dem XI. Korps erreicht und somit unsere Aufgabe vorläufig gelöst.

Als aber die Franzosen Vorstöße gegen die belgische Grenze versuchten, und ein feindliches Jägerbataillon mit ausgeschwärmten Schützen gegen unsere Stellung vorging, rief ich: ›Mir nach!‹ und rückte mit meinem Zuge dem Feinde entgegen. Ich bekam ein mörderisches Feuer und fiel, nachdem mir der Tschapka vom Kopf, der Säbel aus der Hand geschossen war und ich eine Schußwunde durchs linke Knie bekommen hatte, vom Pferde. Von meinen Ulanen waren 18 teils verwundet, teils gefallen.

Ich hatte zuerst die Besinnung verloren, und als ich wieder zu mir kam, sah ich nichts mehr vom Regiment. Mein Knieschuß schmerzte mich sehr, und starker Blutverlust nahm mir die Kräfte. Französische Infanteristen, die herankamen, bat ich um Wasser, doch konnten sie mir keins geben, fingen aber statt dessen an, mich auszuplündern. Sie schnitten mir die Knöpfe von der Ulanka ab, rissen an der Rettungsmedaille, die sie aber nicht abbekamen, und suchten nach Geld. Zufällig hatte ich jedoch so gut wie nichts bei mir, und schimpfend über den Mißerfolg trollten sie ab.

Etwas später näherten sich mir einige Chasseurs à pied, denen ich noch heute von Herzen dankbar bin für ihre Hilfe. Sie trugen mich in ein Gehölz, das ihre Truppe, eine Kompagnie Jäger, besetzt hatte. Ihr Hauptmann, Emil Jolly, nahm sich meiner sehr kameradschaftlich an, verband mich, reichte mir zu trinken und zu essen. Ich übergab ihm meine Visitenkarte und einen Brief, den ich an meine Mutter geschrieben hatte.

Er riß dann aus seinem Notizbuch ein Blatt, schrieb seinen Namen darauf und darunter die Worte: ›Honneur au courage malheureux!‹ Dies Blatt ist noch in meinem Besitz, es wird hoffentlich lange in meiner Familie bleiben und als Andenken an jene Zeit und an die edle Tat des Feindes in Ehren gehalten werden. Emil Jolly wollte mich in ein Feldlazarett tragen lassen, doch ehe das geschehen konnte, war das Lazarett durch Granaten in Brand geschossen. Nun ließ er mich in einen Brückendurchlaß legen, da das Gehölz von unserer Korpsartillerie und der des Korps XI – 220 Geschütze – unter Feuer genommen wurde. Den Ausgang des Brückendurchlasses ließ er durch Sättel und Kürasse verbarrikadieren.

Sehr unangenehme Stunden – die Zeit schien mir endlos – begannen für mich. Unsere Artillerie übersäte das Gehölz förmlich mit Granaten, und Jolly verließ mit seiner Kompagnie sofort die Stellung.[138]

Wie lange ich so lag, weiß ich nicht. Als endlich das Geschützfeuer verstummte, suchte ich, auf allen Vieren kriechend, mein Versteck zu verlassen. Vorsichtig schob ich die am Eingange liegenden Kürasse beiseite und steckte den Kopf heraus, um mich nach Hilfe umzusehen.

Eine Zuave hatte mich entdeckt und sofort sein Gewehr auf mich angelegt. Doch auch ich hatte ihn bemerkt und zog mich schleunigst wieder in meinen Bau zurück. Jetzt sprang mein Zuave den Graben herunter, in der freundlichen Absicht, mich zur Strecke zu bringen. Aber er ließ von seinem Vorhaben ab, wohl in dem Gefühl, von seiner Truppe beobachtet zu werden. Gleich darauf erschien auch eine Patrouille Emil Jollys, der ihn gesehen hatte, und entfernte den Zuaven von meinem Aufenthalt.

Etwa zwei Stunden lag ich dann noch im Graben, bis unsere Gardejäger das Holz nahmen und mich Graf Pourtalès aus dieser greulichen Lage befreite. Das Füsilierbataillon des 1. Garderegiments hatte sich inzwischen auch in unserer Stellung festgesetzt, und zwei ihrer Krankenträger legten mich auf ihre Gewehre, diese als Tragbahre benutzend, bis ich zu meiner Erleichterung bald darauf eine wirkliche Tragbahre erhielt und nach Givonne gebracht wurde. Alle Lazarette waren überfüllt, doch endlich fand ich Unterkommen in einem Hause, in dem hauptsächlich Franzosen lagen. Am 5. verließ ich mit einem Transport Verwundeter Givonne. An der belgischen Grenze wurde uns zuerst die Durchfahrt verweigert, da dem Vorpostenkommandeur noch nicht bekannt war, daß auf diplomatischem Wege der Durchmarsch von Verwundetentransporten von der deutschen Regierung bei der belgischen erwirkt war. So mußten wir lange auf der Chaussee in der Sonnenglut halten, bis es unsern Johanniterrittern gelungen war, für uns freie Fahrt nach Bouillon zu erwirken.

Dort erregte unsere Ankunft großes Aufsehen. Franzosen, die beim Anbruch der Schlacht dorthin geflohen waren, beschimpften uns auf das gröblichste, als wir auf dem Marktplatz der Stadt hielten, wo ein Kloster lag. Die Schwestern, die das rohe Benehmen der Franzosen bemerkt hatten, ließen das Tor zum Klosterhof öffnen und nahmen uns auf. Nachdem sie uns gut verpflegt hatten, fuhren wir, ein paar Stunden später, weiter bis Libramon, wo ich bei freundlichen Bürgersleuten ein gutes Quartier fand.

Als wir am anderen Morgen zur Bahn transportiert wurden, trafen wir dort Mac Mahon mit der Herzogin, die ihren Mann persönlich von Sedan abgeholt hatte. Um Mittag kamen wir in Lüttich an. Da sich vorher die Nachricht schon verbreitet hatte, daß ein größerer[139] Verwundetentransport ankäme, so war dort eine ungeheure Menschenmenge versammelt. Die Anwesenden rissen sich förmlich um uns Verwundete, jeder wollte uns Erfrischungen reichen.

Mit dem nächsten Zuge ging es nach Aachen. An der deutschen Grenze wurden wir von einem Festkomitee empfangen, und ein Veteran von 1813 hieß uns im Vaterlande in feierlicher Ansprache willkommen. Am 8. langte ich in Potsdam an und wurde nun von den Primanern des dortigen Gymnasiums in einem Krankenwagen in die Wohnung meiner Geschwister gefahren ....«

Drei Wochen später war mein Schwager so weit hergestellt, daß er nach dem Lazarett der Prinzessin übersiedeln konnte, und auf Wunsch der Hohen Frau stellte ich mich nun dort und in der Baracke zur Verfügung, um für die Pflege verwandt zu werden. Bisher war uns Offiziersfrauen, da wir nicht gelernte Krankenpflegerinnen waren, nur der leichte Dienst in den Lazaretten anvertraut worden, Binden legen, den Patienten das Essen bringen, sie eventuell füttern, Briefe für sie schreiben usw. Da aber hier in der Baracke die pflegende Schwester erkrankt war, fragte mich der Arzt, ob ich es übernehmen wollte, die Schwester während ihrer Krankheit zu vertreten und ihm die nötigen Handreichungen bei dem Verbinden und den Operationen zu leisten.

Selbstverständlich sagte ich ihm ohne weiteres Besinnen zu, denn an pflegenden Kräften mangelte es, aber mir bangte davor. Wenn ich auch immer selbst die Kniewunde meines Schwagers gereinigt und verbunden hatte, so war es doch noch ganz etwas anderes und mir völlig Neues, was mir nun übergeben wurde. Doch auch hier, wie so oft im Leben, habe ich es erfahren, daß, wenn Gott uns eine Pflicht zuweist, er uns auch die Kraft gibt, sie zu erfüllen, wir müssen nur fest seiner Durchhülfe vertrauen. Weder die Operationsmesser, noch die bloßgelegten Wunden hatten – wie ich gefürchtet – einen Schrecken für mich. Ich war froh, daß mir nachher in der Typhusbaracke, zusammen mit einem Pfleger, die Aufsicht übergeben wurde, konnte ich doch da einem sterbenden Franzosen noch die letzten Liebesdienste erweisen und ihm in seiner Muttersprache tröstende Worte sagen.

Tod, Krankheit und Wunden, die mir in diesen Wochen so greifbar nahe traten, verschärften in meinem Herzen eine unbestimmte Sorge, die mich bezüglich meines Mannes erfaßt hatte. Einige hingeworfene Äußerungen in seinen Briefen, sowie verschiedenes andere kam dazu, um dem Gedanken, daß mein Mann erkranken würde, immer mehr Wahrscheinlichkeit zu geben. Schließlich war ich fest davon überzeugt, daß mich über kurz oder lang solche Nachricht erreichen würde. Ich machte mich[140] daher auf ein paar Stunden frei und fuhr nach Berlin zum Großonkel Wrangel. Mein Mutterchen war freilich zuerst entsetzt gewesen bei dem Gedanken, daß ich möglicherweise mitten in das Kriegsleben hineinreisen wolle. Aber nicht nur die Erlaubnis, sondern auch der brennende Wunsch meines Mannes, mich im Fall einer Erkrankung oder Verwundung bei sich zu haben, stand mir zur Seite, daher hatte sie auch völlig meinen Entschluß begriffen und nur zur Bedingung gestellt, daß ich diese eventuelle Reise nicht mutterseelenallein unternehmen sollte. Ein alter Onkel meines Mannes, Baron Kaas, dessen Sohn auch bei der 2. Gardedivision stand, bot sich bereitwillig an, mich, eintretenden Falles, begleiten zu wollen.

Es war mir völlig klar, welche Schwierigkeiten für eine Frau zu überwinden waren, um die Erlaubnis zu erhalten, zur Kriegszeit in Feindesland hereingelassen zu werden und weiter zu kommen. Für mich war diese Schwierigkeit dadurch erhöht, daß sich meine Bitte noch nicht auf etwas Positives stützen konnte.

Nun hatte ich dem Großonkel die Sorge um meinen Mann gestanden und ihn gebeten, mir die nötigen Papiere zu verschaffen, damit ich, im Fall mein Mann mich brauchen sollte, sofort abreisen könnte. Der alte Herr wollte zuerst nichts davon wissen, stellte mir das Durchkommen als äußerst fraglich hin und redete mir dringend ab. Als er aber sah, daß ich mich nicht einschüchtern ließ, schwieg er einen Augenblick und fragte dann mit großem Ernst: »Hast ihn denn so lieb?« Mir traten die Tränen in die Augen, antworten konnte ich nicht.

Da nahm er meinen Kopf in seine beiden Hände und küßte mich auf die Stirn. »Sollst zu ihm reisen, wenn er dich braucht, trautstes Marjellchen, und Gott behüte dich«, sagte er.

Wir fuhren zu den Fürsten Pleß und Ujest, welche die Sachen vom Roten Kreuz bearbeiteten, und, unterstützt vom Großonkel, trug ich mein Anliegen vor. Die Herren äußerten ihr Bedenken, wollten mir die Sache als eine unnötige Sorge ausreden, aber schließlich erhielt ich doch für mich und einen Begleiter Paßkarten mit unserem Namen, als Krankenpfleger und Krankenpflegerin, geschickt in die Lazarette zu ... Name und Datum mußten fortbleiben, die konnten erst zu einer späteren Zeit hineingesetzt werden. Die weiße Armbinde mit dem roten Kreuz bekam ich aber gleich mit. Nun ließ ich mir noch einen schlichten, dunkelgrauen Anzug machen, wie ihn die freiwilligen Pflegerinnen trugen, und ging nie von zu Hause weg, ohne zurückzulassen, wo ich aufzufinden sei für den Fall, daß eine Nachricht vom Kriegsschauplatz eintreffen sollte. Jetzt war ich einigermaßen beruhigt, denn ich hatte an vorbereitenden[141] Schritten getan, was in meiner Macht stand, und konnte mich nun wieder ganz der Pflege im Karlslazarett widmen.

Die täglichen Briefe meines Mannes lauteten sehr befriedigend, er war wohl und fühlte sich außerordentlich zufrieden in seiner Stellung. Die Quartiere bei der Zernierung von Paris wechselten, waren aber alle durchgehend gut, und das einzige, was mein Mann als etwas sehr Peinliches empfand, war das Requirieren, zu dem er oft genötigt war und sich dann immer bemühte, es möglichst schonend einzurichten. Zur Freude meines Schwagers meldete er auch, daß dessen Pferd bei Beaumont irrtümlicherweise von einem Offizier des 4. Garderegiments als Beutepferd aufgegriffen und ihm jetzt zugesandt sei. Es hätte damals einen Schuß über die rechte Fessel bekommen und einen Streifschuß an der Schulter, wahrscheinlich von der Kugel, die seinem Reiter die Knieverwundung beigebracht hätte.

»Wie ein großartiges Manöver kommt mir vorläufig die ganze Geschichte hier vor«, erzählte mein Mann. »Man hört wohl von kleinen Scharmützeln, aber zu ernsten Gefechten ist es noch nicht gekommen.«

Auch die Briefe meines Vaters waren in dieser Zeit nicht mehr von kriegerischen Ereignissen erfüllt. Er schrieb, daß das ungenießbare Essen aufgehört habe und sie zu wohlschmeckenden Mahlzeiten durch seinen neuen Koch, Fritz Mayer vom Regiment 84, gekommen seien.

Bis zum Ende des Feldzugs begleitete diese treue Seele, wie mein Vater ihn nannte, das Hauptquartier der 18. Division und erfreute die Herren durch seine treffliche Kochkunst und seine unverwüstliche Laune, und bis an sein Lebensende erhielt mein Vater zu seinem Geburtstage einen Glückwunsch von Fritz Mayer.

Über das Lagerleben in St. Hubert finden sich noch einige Aufzeichnungen, in denen mein Vater schreibt: »Wir haben uns an das tägliche Feuern von St. Quentin und Plappeville gewöhnt, ja wir wundern uns jetzt schon, wenn einmal dieser Morgengruß von den Forts ausbleibt.

Mein braver Kapellmeister vom Regiment 85 wollte der erste sein, der mir zu meinem Geburtstage eine Aufmerksamkeit erzeigte. Am 27. September beim Dunkelwerden bemerkte ich, wie sich von dem gegenüberliegenden Lager eine Art Fackelzug auf St. Hubert zu bewegte. Die Leute hatten Lichter auf Stöcke befestigt und darüber Weinflaschen gestülpt, um sie vor dem Wind zu schützen. Das waren die 85er, die mich mit einer Serenade überraschten. Tags darauf, beim herrlichsten Wetter, brachten mir sämtliche Musikkorps ein Morgenständchen, und dazu brummte und donnerte Fort St. Quentin.[142]

Auch die Offizierkorps der Truppenteile, die nicht hart vor dem Feinde lagen, kamen und sprachen mir in herzlichster Weise ihre Glückwünsche aus. Koch Mayer hatte ein brillantes Mittag zusammengestellt und imponierte uns sogar dabei mit einer brennenden Eistorte. In heiterster Laune schlürften wir nachher unseren Mokka im Garten.

Jetzt ist aber wieder schauderhaftes Wetter, um so mehr freute ich mich der Liebesgaben, die reichlich anlangten und die ich an meine still darbenden Leute verteilen konnte. Bei meinen Besuchen der Vorposten tat ich tiefe Blicke in die immer mehr zunehmende Demoralisation des Feindes. Die Deserteure kamen truppweise und flehten meine Leute an, sie gefangen zu nehmen, da sie sonst verhungern müßten.

Auch für uns gestaltet sich der Aufenthalt im Lager immer schlimmer, besonders flößen mir die nur oberflächlich verscharrten Leichen Besorgnis ein, und ich muß immer mehr Kranke nach Deutschland zurückschicken.

Die Truppen haben, um den Verkehr einigermaßen in dem aufgeweichten Boden zu erleichtern, eine Art Steinstraße unter unsäglicher Mühe hergestellt, die sich bei dem furchtbaren Wetter als eine große Wohltat erweist. Das Lager der Regimenter 85 und 36 sieht besonders traurig aus. Die leicht gebauten Hütten sind teilweise vom Sturm niedergerissen und weggeschwemmt, auch die Dächer fehlen gänzlich diesen provisorischen Bauwerken. Auf den Trümmern ihrer armseligen Wohnstätten sitzen nun Offiziere und Mannschaften und versuchen einigermaßen ihre triefenden Kleider zu trocknen. Wann wird die ersehnte Kapitulation von Metz erfolgen, so fragt einer den andern, und ein jeder erwartet es von Tag zu Tag ....«

»Longeville, den 29. Oktober. Ein bedeutungsvoller Tag! Depeschen werden die Nachricht von dem Abschlusse der Kapitulation von Metz schon in die Heimat getragen haben und ebenso den Befehl, den wir erhalten haben, daß die Truppen in die feindlichen Forts einzurücken hätten.

Heute mittag 12 Uhr sollte ich mit zwei Bataillonen, zwei Geschützen und einem Pionierdetachement das Fort St. Quentin besetzen. Die beiden Bataillone vom Regiment 11 und 84, die so lange in Chatel und Rozerieulles gestanden hatten und dem Feinde unausgesetzt gegenüber gewesen waren, bestimmte ich zu diesem Ehrendienst. Ich ritt mit meinem Stabe und zahlreichen Offizieren voran.

Ein gußartiger Regen schlug uns entgegen, als wir das Dorf Lessy erreichten und dort unseren Weg durch das vollzählige Armeekorps des Generals Ladmirault nahmen. Vorher hatte ich mir durch meinen Adjutanten[143] die Zusicherung des Generals einholen lassen, daß den Truppen bei ihrem Durchmarsch durch Lessy, das Ladmirault noch besetzt hielt, kein Hindernis in den Weg gelegt werden sollte.

Während neun Wochen hatten sich diese selben Franzosen und Preußen gegenübergestanden und fast täglich Schüsse gewechselt. Jetzt zogen zwei preußische Bataillone unbefangen und furchtlos durch ein vollzähliges französisches Armeekorps. Teils mit offenem, teils mit verbissenem Grimme sahen die Franzosen auf den Durchmarsch. Einige fluchten, andere aber drängten sich an die Soldaten, um Schnaps oder Zigarren bettelnd, was ihnen auch von den gutmütigen Holsteinern, den 84ern, reichlich gespendet wurde. Die Schlesier dagegen vom Regiment 11 gingen weniger darauf ein.

Der Weg durch Lessy und hinauf in der Schlucht zwischen Plappeville und St. Quentin war gründlich aufgeweicht und total ausgefahren. Die rechts und links liegenden Lagerplätze der Truppe zeigten sich in noch schlimmerem Zustande als bei uns, und die vorbeiziehenden französischen Soldaten flößten mir in jeder Beziehung wahrhaftes Mitleid ein. Unterdessen hörte der Regen auf, die Sonne durchbrach die Wolken und umleuchtete mit grellen Strahlen die Spitze des Mont St. Quentin. Wie Jubel ging mir's durch das Herz, war dies doch die Stätte, um die wir so heiß gekämpft und oft so schwer gedarbt hatten.

Von der Einsattelung zwischen den beiden Forts wandte sich ein neu geschütteter Weg rechts herum und führte ziemlich steil hinauf in das Fort, vorbei an vielen noch unvollendeten fortifikatorischen Arbeiten. Hart vor diesem Fort bog der Weg nochmals scharf nach rechts und ging über eine kleine Place d'armes in das Tor des Forts, vermittelst einer unfertigen Brücke, die nur auf zwei Holzböcken ruhte, kein Geländer hatte und überhaupt höchst verfänglich erschien. Vor dieser Brücke machte mein Vortrupp halt und besah sich aufmerksam dieses merkwürdige Gerüst, welches sie jetzt nur noch von einem Ziele trennte, das ihnen wochenlang als der glorreiche Endpunkt dieser mühevollen Arbeit erschienen war.

Auch ich betrachtete mir das wacklige Ding, und unwillkürlich mußte ich an die verfängliche Brücke von Laon denken. Um alle aufsteigenden Grübeleien abzuschneiden, ritt ich als erster hinüber und in das Fort hinein, wo mir ein französischer Offizier die Schlüssel von St. Quentin übergab. Welch ein trauriges Bild bot sich uns aber jetzt im Innern dieses Forts! Die Pferde versanken bis an die Knöchel im Schmutz, rechts, längs des Wallganges, lagen leere und volle Pulverfässer, zerschlagene Waffen und Instrumente von mehreren Musikkorps. Links an der Mauer türmten sich zwischen umgestürzten Geschützen Pferdekadaver[144] auf, und in den Kasernenräumen waren alle Plätze, die nicht mit abgelieferten Waffen gefüllt waren, derartig absichtlich beschmutzt, daß ihre Verfassung jeder Beschreibung spottete.

Um die eben abziehenden Feinde nicht noch im letzten Augenblick besonders zu reizen, war es ausdrücklich untersagt, ein Hoch auf den König auszubringen. Da ich aber doch nicht die Besetzung des stolzesten aller Forts ohne eine gewisse Feierlichkeit vorübergehen lassen wollte, so mußte ich mir etwas anderes ausdenken. Ich ließ die Truppen, enggeschlossen, sich hintereinander aufstellen mit der Front gegen den Wall, auf den beide Bataillone ihre Fahnen aufpflanzten. Zwischen diesen wehenden Feldzeichen entfaltete der Oberst von Klitzing eine große weiße Fahne mit dem preußischen Adler. Sobald diese sich entrollte und der schwarze Königsvogel lustig über den Wällen flatterte, stimmten die beiden mitgenommenen Musikkorps die Nationalhymne an. Noch einmal leuchtete die Sonne auf den wehenden Fahnen und blitzte auf den Instrumenten, dann versank sie hinter einer schwarzen Wolkenwand. Von neuem strömte gleich darauf der Regen auf Fort St. Quentin und die besiegte Feste nieder.

In den sehr beschränkten Unterkunftsräumen hatte nur das Bataillon vom Regiment 84 Platz gefunden, während das vom Regiment 11 nach Sey ins Kantonnement abrückte. Nachdem ich mir noch die halb eingegrabene Kanone angesehen, die mich fast täglich mit einem Morgengruß erfreut hatte, trat ich in den oberen Kasemattenturm, in dem Kittlitz, den ich zum Kommandanten des Forts ernannt, ein Frühstück besorgt hatte. Das erste Glas schäumenden Sekts weihte ich unserem Könige, dann brachte Blumenthal das Wohl des Prinzen Friedrich Karl aus.

Nach diesen Feierlichkeiten ritt ich über Lessy nach Rozerieulles, wo sich das Regiment 11 sammelte, um mit mir zusammen nach Longeville zu rücken. Mein Quartier hier ist ganz gut, ich benutze die erste Ruhestunde heute, um zu schreiben. Eben will ich mich schlafen legen, da kommt der Befehl, daß wir, statt der versprochenen drei Ruhetage, morgen ganz früh abmarschieren sollen, da unsere Gegenwart bei Orleans dringend gewünscht würde.«

1

Im wesentlichen wurde diese Einteilung bis zur Kapitulation festgehalten.

Quelle:
Liliencron, Adda Freifrau von: Krieg und Frieden. Erinnerungen aus dem Leben einer Offiziersfrau, Berlin 1912, S. 145.
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