3. Gespräch mit Goethe.

[116] Ich höre es gar gern, wenn Sie von der Leber weg referiren und urtheilen.

Goethe an Zelter.


Ich hatte nach Goethe's Rath nicht allein auf der Reise, sondern auch in Berlin ein Tagebuch geführt, glaubte gehörig vorbereitet zu sein, und freute mich auf die Unterredung mit dem außerordentlichen Manne. Als aber der Tag kam, an welchem ich ihn sprechen sollte, überfiel mich mein altes Uebel, die Schüchternheit, und stieg, je näher die Stunde rückte, in erschreckenden Graden. Was hell in meinem Kopfe dagelegen hatte, wie die Gegenstände in einem erleuchteten Saale, fing an, sich zu verdunkeln, es war, als würde von einem unsichtbaren Geisterathem eine Kerze nach der andern ausgeblasen, und als[116] mich meine zögernden Schritte endlich an die Thür des Goethe'schen Hauses geführt, waren alle bis auf die letzte verlöscht. Während der Bediente mich anmeldete, stand vor der Thür nur mein hämmerndes Herz.

Aber auch diesmal verscheuchte der Zauber des Empfangs meine peinliche Verlegenheit. Ohne auf eine Eintrittsformel von meiner Seite zu warten, begann Goethe sogleich: »Ich habe gute Nachrichten über Ihr Auftreten in Berlin erhalten. Zelter spricht sich sehr anerkennend über Ihre Leistungen als Virtuos und Componist aus und findet den Beifall, den Sie gefunden, vollkommen gerechtfertigt. Ich gratulire.« Und als ich auf diese gütige Rede mit Nichts als einer stummen Verbeugung zu antworten wußte, fuhr er mit der Frage fort, wie es mir zu Muthe gewesen, als ich vor dem fremden Publikum der großen Stadt erschienen.

Ich erwiderte, daß ich den ganzen Tag und bis zum Heraustreten auf die Bühne die schrecklichste Angst empfunden habe, als aber das Orchester das Tutti begonnen, mir der Muth plötzlich gekommen sei wie den Soldaten in der Schlacht.

»Ja«, sagte er lächelnd, »die Natur reagirt nicht blos gegen die leibliche Krankheit, sondern auch gegen[117] die geistigen Schwächen; sie sendet in der steigenden Gefahr stärkern Muth. Die Kriegshelden mögen besonders davon zu erzählen wissen. Wie war Zelter?« fragte er.

Ich erzählte, daß ich mich eines außerordentlich freundlichen Empfangs von ihm zu erfreuen gehabt habe, wie freilich mit Excellenz gütiger Empfehlung zu erwarten gewesen. Doch sei mir in Berlin Angst vor dem Besuch gemacht worden; der – etwas derben Natur des Mannes wegen.

»Ja«, sagte Goethe, »er hat sich bei den Berlinern in Respect zu setzen gewußt; er wird seine Gründe gehabt haben. Das Völkchen besitzt viel Selbstvertrauen, ist mit Witz und Ironie gesegnet und nicht sparsam mit diesen Gaben. Haben Sie diese Erfahrung auch gemacht?«

Ich bemerkte, daß mich meine Unbedeutendheit davor geschützt; denn außer einigen gutmüthigen Witzen hätte ich Nichts dergleichen wahrgenommen, im Gegentheil überall freundliches Entgegenkommen gefunden.

»Ein Zeichen«, sagte Goethe, »daß Sie mit Bescheidenheit aufgetreten sind. Berichten Sie mir zuerst, welche Stücke Sie in Berlin gesehen.« Er setzte sich und bedeutete mir, dasselbe zu thun, woraus ich[118] mit geheimer Freude schloß, daß er zu einer längern Unterhaltung geneigt sei. Erst nach wiederholter Einladung nahm ich gegenüber auf einem Stuhle Platz.

Ich nannte »Ferdinand Cortez«, »Emilia Galotti,« »Deodata« von Kotzebue, mit Chören, Liedern u.s.w. von Anselm Weber, »Die Zauberflöte«, worin Unzelmann den Papageno gegeben, »Die Entführung aus dem Serail«, Unzelmann als Pedrillo, »Die falsche Prima Donna« und »Das letzte Mittel«. Auch dem Concert eines Klaviervirtuosen habe ich beigewohnt.

»Wie sind Ihnen die Schauspieler und Sänger im Verhältniß zu den unserigen erschienen?«

Ich habe, erwiderte ich, im Ganzen keinen Unterschied gefunden. In den Stücken, die ich gesehen, waren die Fächer alle mit geschickten Leuten besetzt, eine hervorragende Größe, als welche mir Iffland in seinen Gastdarstellungen bei uns erschienen ist, befand sich nicht darunter. Doch glaube ich eine Eigenschaft der Berliner Künstler hervorheben zu müssen, deren Mangel an den unserigen mir durch den Vergleich mit jenen erst aufgefallen ist.

»Welche?« fragte Goethe.

Mehr Plastik in den Stellungen und Bewegungen aller dortigen Darsteller. Der Anblick der von[119] ausgezeichneten Tänzern ausgeführten großen Ballete mag wohl günstigen Einfluß ausüben.

»So ist es«, sagte Goethe. »Da aber dieses Bildungsmittel für äußere anmuthige Repräsentation nur an wenigen Bühnen vorhanden sein kann, so sollten Alle, welche sich der Schauspielkunst widmen wollen, vorher tüchtige Tänzer, Fechter werden, vor Allem sich im Zeichnen und Malen üben.«

Ich bemerkte dazu, daß mir der Mangel jener Plastik an unserm Unzelmann, als ich ihn mit den Berliner Schauspielern habe agiren sehen, ganz vorzüglich und fast widerwärtig, besonders sein watschelnder Gang, aufgefallen sei, daß ich dagegen an Wolf diesen Abfall nicht bemerkt, und er sich in dieser Hinsicht in Berlin wohl gebessert habe.

»Das Letztere ist ein Irrthum«, sagte Goethe, »Wolf war von Haus aus eine noble Natur und er brachte edle und anmuthige Körperhaltung schon mit, als er bei uns die Bühne betrat. Zudem zog ihn sein ernstes Wesen mehr zum Tragischen. Der Komiker, und zu solchem besitzt Unzelmann allein Talent, ist mehr auf groteskes Figurenspiel angewiesen. Welche Vorstellung«, fragte er darauf, »hat Ihnen am besten gefallen?«

Dem Musiker, versetzte ich, »Ferdinand Cortez«.[120]

»Erzählen Sie mir davon«, sagte Goethe.

Ich muß mir zu bemerken erlauben, daß es die erste Vorstellung war, die ich in Berlin sah. Den mächtigen Eindruck kann ich Euerer Excellenz freilich nicht beschreiben. Alles war mir neu, und Alles erschien in einer Größe und Vortrefflichkeit, die ich bis dahin nicht geahnt hatte.

»Begreifen Sie darunter auch die Ausführenden, oder nur die reichere und glänzendere äußere Ausstattung?« fragte Goethe.

Bei uns, erwiderte ich, find die Hauptfächer besser besetzt. Unser Bassist Stromeier und unsere Sängerin Frau von Heigendorf stehen im Gesange, Letztere auch im Spiel höher. Den Schmelz unsers Tenoristen Moltke habe ich ebenfalls nicht wiedergefunden. Unser Orchester darf sich wohl auch mit jedem andern in der exakten Abführung messen. Aber die numerische Stärke des Berliner, verbunden mit der vortrefflichen Ausführung unter Spontini, der sein Werk selbst dirigirte, ergriffen mich wunderbar. Das Orchester war mit dreißig Violinen, zehn Cellis, sieben Contrabässen, sechs Klarinetten u.s.w. besetzt. Als Spontini erschien, in dem überfüllten Hause eine lautlose Stille eintrat, und auf einen Wink des Kommandostabes die ganze Orchestermasse[121] mit dem Thema der Ouvertüre in kriegerischen Enthusiasmus ausbrach, stürzten mir die Thränen aus den Augen, ja ich schluchzte so, daß ich das Taschentuch vor das Gesicht halten und den Kopf hinter die Brüstung der Gallerie zurückziehen mußte, da die Nebensitzenden verwundert auf mich sahen.

Goethe lächelte und sagte: »Solcher Natur sollten Alle vor der Bühne sein, dann würde sich der Künstler seiner gelungenen Mühen freuen. Das Glück jener Stunden zeigt sich jetzt noch in Ihren Augen.«

Ich schlug bei diesen Worten des Dichterfürsten die Augen beschämt zu Boden, denn ich hatte hastig und mit verstärkter Stimme gesprochen, und glaubte in seinen Worten und Mienen eine leise Ironie über meine Darstellung zu bemerken.

Goethe mochte wohl errathen, was in mir vorging, denn er fuhr mit Freundlichkeit fort: »Es ist das beneidenswerthe Glück der Jugend, die Eindrücke in aller Frische und Kraft zu empfangen und zu genießen. Bei zunehmender kritischer Erkenntniß versiegt allgemach die Quelle jener ungetrübten Freuden. Jeder Mensch ist ein Adam, denn jeder wird einmal aus dem Paradiese – der warmen Gefühle vertrieben.«[122]

Mit Ausnahme der wenigen Glücklichen, wagte ich, mich ehrfurchtsvoll vor Goethe verbeugend, hinzuzusetzen, die Weisheit sammelten und sich doch die Gefühle der Jugend ungeschwächt erhalten.

Ich hätte diese meine jugendliche plumpe Aeußerung gegenüber dem größten und gefeiertsten Geiste des Jahrhunderts gern in das Meer der vergessenen Dummheiten versenkt; da sie aber Veranlassung giebt, einen kleinen Beitrag zur Charakteristik dieses außerordentlichen und auch jetzt noch in mancher Beziehung verkannten Mannes zu liefern, so habe ich sie nicht verschweigen wollen. Goethe ließ mein albernes Kompliment an sich vorübergehen, ohne durch Wort oder Miene Mißfallen kund zu geben. – Und das hat mir den Vorgang so tief ins Gedächtniß gedrückt und mich gerührt, so oft ich daran gedacht. Daß ein derartiges Kompliment von einem unbedeutenden jungen Menschen läppisch erscheinen mußte, unterliegt keinem Zweifel. Auch hat Goethe ähnliche Armseligkeiten von bedeutenderen Personen wohl derb zurechtgewiesen; aber er sah seine Leute an. Wäre in meiner Aeußerung nur der leiseste Anklang von jener anmaßenden Einbildung bemerkbar gewesen, ihm etwas Geistreiches und Verbindliches sagen zu wollen, so würde er dem unangenehmen Eindruck,[123] den es auf ihn gemacht, sicherlich Ausdruck gegeben haben. Es würde ihm zu Muthe geworden sein, wie mir, als ein fremder Virtuosenkollege, dem ich einst auf einer Wanderung durch die Stadt Goethe's Haus zeigte, emphatisch ausrief: »Welch ein großer Mann wohnt hier!« Die treuherzige, aus der Seele quellende Begeisterung, die Ehrfurcht und Liebe, die sich in meinen Zügen und Augen gewiß unverkennbar offenbarten, sagten ihm jedoch, daß meine Aeußerung unwillkührlich aus einer warmen jugendlichen Seele geflossen sei, und die Natur ehrte er im kleinsten Zuge, wie in ihren erhabensten Erscheinungen. Er tolerirte also mein ungeschicktes Kompliment und fragte, als hätte er es gar nicht vernommen, was ich über die theatralische Darstellung der Oper weiter zu berichten wisse.

Ich schilderte ihm ausführlich die Pracht der Decorationen, den Reichthum, die geschickten und anmuthigen Evolutionen des eingewebten Ballets, die der Natur treu nachgeahmte Anordnung und Ausführung des Scenischen, den Zug z.B. der Krieger des Cortez bei Nacht über das Gebirge, Fußvolk, Reiterei, Artillerie u.s.w.

Goethe hörte aufmerksam zu, seine sinnenden Augen schienen auf die fernen Gegenstände selbst zu[124] sehen, und seine freundlichen Züge drückten die Freude an den bunten Bildern aus, die meine Schilderungen an seiner Einbildungskraft vorüber führten.

Als ich geendet hatte, äußerte er: »Ja, das ist der Vortheil reicher Mittel, daß die Intentionen der schaffenden Künstler die würdige Ausführung finden können, während bei einer kleinen Bühne die Phantasie des Anordners überall durch knappen Raum beschränkt wird, mit einem Dutzend Soldaten große Schlachten, Volksscenen, mit gewendeten und umgeflickten Gewändern neue Kostüme, mit einer vorhandenen vaterländischen Walddecoration die Pracht einer tropischen Vegetation darstellen muß Indessen die Sache hat auch ihre Nachtheile. Was hat Ihnen an Spontini's Musik vorzüglich gefallen?«

Ich erwiderte, daß mich zunächst die außerordentliche Kraft, die südliche Gluth, Wahrheit und Plastik des Ausdrucks mächtig ergriffen habe.

»Was verstehen Sie unter Plastik des musikalischen Ausdrucks?« fragte Goethe.

Den bestimmten Anschlag und das Festhalten eines jeden Gefühls im Ganzen und jeder Regung im Einzelnen, erwiderte ich. Ist z.B. die Zärtlichkeit zu schildern, so ist sogleich mit dem ersten Takte die Zärtlichkeit da, und so lange diese Empfindung[125] dauert, ist jede Note und jeder Klang, sind Zeichnung und Colorit, Melodie und Begleitung ohne das Hereinschimmern einer andern Gemüthsfarbe vorhanden. Tritt kriegerischer Muth auf, so verkünden ihn die ersten Töne und Klänge aufs Bestimmteste und Schärfste. Und so fließt nirgends etwas Unbestimmtes ein, Jedes ist ganz, was es seiner Natur nach sein soll und muß.

»Ich habe das bei der Vestalin allerdings auch empfunden«, sagte Goethe.

Zu dieser Plastik, fuhr ich fort, trägt außerordentlich Viel bei die Kürze, Gedrängtheit und Einfachheit der Construction aller einzelnen Gedanken, sowie der ganzen Form. Es sind die einfachsten, die man sich denken kann.

»Das mag sein«, sagte Goethe. »Gleichwohl kann ich nicht leugnen, daß die Musik zur Vestalin mir zu geräuschvoll erscheint, und mich bald ermüdet. Empfinden Sie das nicht auch bei seiner Musik?«

In den ersten Proben, versetzte ich, kam mir das Gefühl. Es verschwand aber bald, und jetzt erscheint mir die Instrumentation nicht mehr zu geräuschvoll, sondern nur als ein saftiges und blühendes Colorit. Auch Mozart's Musik wurde im[126] Anfang für überladen erklärt, was doch jetzt Niemand mehr findet.

»Es muß doch aber eine Grenze geben«, sagte Goethe, »über die hinaus man nicht gehen kann, ohne den Ohr unerträglich zu werden.«

Die giebt es ganz gewiß, versetzte ich. Allein daß ein großer Theil der Hörer jetzt schon die Spontini'sche Musik verträgt, dürfte beweisen, daß sie diese Grenze noch nicht überschritten hat.

»Es mag so sein«, sagte Goethe; »doch fahren Sie fort in Ihrem Referat. Was haben Sie mir von Emilia Galotti zu berichten?«

Das war eine schreckliche Vorstellung für mich, versetzte ich.

»Wie das« fragte Goethe.

Das Publicum, fuhr ich fort, führte zu dem Trauerspiel auf der Bühne ein Lustspiel auf, das mir das Herz zerriß. Es gastirte ein Wiener Schauspieler als Marinelli. Er schien die Rolle nicht schlecht zu spielen; allein er sprach im Wiener Dialekt und dazu auch, als habe er – den Schnupfen. Kaum hatte er angefangen zu sprechen, so wurde das Auditorium unruhig; bald fing man an zu scharren, zu lachen, und dies wiederholte und steigerte sich bei jedem Auftreten des Unglücklichen, so daß er[127] zuweilen durch den Rumor gänzlich unterbrochen wurde. Kam von den mitspielenden Personen eine Aeußerung auf Marinelli vor, die auf den Gast bezogen werden konnte, so geschah's vom Publikum. So bei den Worten der Gräfin ›Armer Sünder!‹ wo ein allgemeines Gelächter und Bravorufen ausbrach. Der Arme fiel dann gänzlich aus seiner Rolle, schlug die Augen wehmüthig beschämt zu Boden und faltete wie um Mitleid bittend die Hände. Ich konnte das Elend nicht mit ansehen, verließ das Schauspielhaus und fragte mich verwundert, ob ich in Berlin im königlichen Schauspielhause gewesen sei!

»Nun ja«, sagte Goethe, »und weil wir die Rohheit und Rücksichtslosigkeit der Menge kennen, und um solche Skandale zu vermeiden, alle Mißfallensbezeigungen bei uns nicht dulden, wirft man uns Beschränkung der Freiheit vor. Der ausbleibende Applaus ist Demüthigung genug für den Künstler.«

Hier fuhr ich etwas keck mit der Bemerkung heraus, daß, wenn ich zu befehlen hätte, auch keinerlei Art von Beifallzeichen gegeben werden dürfe. Denn es werde alle Illusion und Stimmung, in welche mich Dichter und Darsteller versetzt, durch das Händeklatschen und Bravorufen zerrissen.[128]

Auch auf den Schauspieler äußere es einen nachtheiligen Einfluß, denn er müsse, um den Applaus hervorzurufen, Mittel anwenden, die oft mehr auf die Masse der Zuschauer berechnet seien, als aus dem Wesen der Rolle hervorgehen. Die meist outrirten Abgänge zeigen das.

Der letztere Grund schien Goethe zu gefallen; er nickte beifällig mit dem Haupte. Doch bemerkte er dazu: »Es wäre wohl gut, wenn diese Sitte von Haus aus nicht bestünde. Da sie aber einmal vorhanden, so ist sie nicht mehr ohne Nachtheil zu beseitigen. Der Schauspieler ist daran gewöhnt und bedarf ihrer als Sporn. Er würde ohne die Hoffnung auf diesen hörbaren Lohn ermatten.«

Uebrigens, setzte ich hinzu, habe ich bei dieser Gelegenheit bemerken können, in welcher Achtung Wolf bei den Berlinern steht. Er spielte den Grafen Appiani. Mochte der Tumult noch so arg sein, sobald Wolf erschien, trat allgemeine Stille ein, und rauschender Applaus erschallte bei seinem Abgange.

»Das«, sagte Goethe, »söhnt mich einigermaßen wieder mit den Berlinern aus. Die Gewalt einer edeln Natur ist freilich groß. Und ich habe noch keinen zweiten Schauspieler gesehen, der durchgängig sich eine solche Würde in allen seinen Rollen bewahrt[129] hätte, als Wolf. Selbst in der Darstellung der gemeinsten Charaktere schimmerte bei aller Wahrheit der ihm angeborne Adel seines Wesens durch. Sprachen Sie nicht auch von Deodata?« frug Goethe weiter. »Welchen Eindruck machte das Kotzebue'sche Ritterstück auf Sie?«

Einen dramatischen Genuß habe ich davon ganz und gar nicht gehabt. Da aber Ew. Excellenz verlangt haben, daß ich meine Gedanken unverhohlen ausspreche, so muß ich zu meiner Schande gestehen, daß mir an diesem Abende die Bedeutungslosigkeit des Stücks fast willkommen war; denn da mich kein Interesse an die Handlung fesselte, konnte ich meine ganze Aufmerksamkeit auf die Scenerie richten, deren Pracht noch weit über die im Cortez hinaus ging. Es war kein dramatischer, aber ein vollkommener Panoramengenuß. Eine Mondscheinscene im Walde z.B. war von einer Vortrefflichkeit, daß ich ganz und gar nur Auge war und kaum weiß, was dabei auf der Scene vorgegangen ist. Die Eroberung und Verbrennung einer Burg erschien mir als das Vollkommenste, was die Bühne zu leisten fähig sei. Ich wäre daher auch nicht im Stande, Ew. Excellenz eine Relation des Inhalts dieses Schauspiels zu geben.

»Ich finde das sehr natürlich«, äußerte Goethe,[130] »aber auch sehr bedauerlich. Die guten Leute bedenken nicht, wohin die übermäßige äußere Pracht zuletzt unausbleiblich führen muß. Das Interesse für den Inhalt wird geschwächt und das Interesse für den äußern Sinn an dessen Stelle gesetzt. Doch es wird sicherlich auch wieder eine Reaction eintreten. Ich werde es freilich nicht erleben, vielleicht Sie nicht. Erst müssen die Decorationsmaler und Maschinisten dem Publicum nichts Neues mehr bieten können, das Publicum von dem Prunk bis zum Ekel übersättigt sein. Dann wird man zur Besinnung kommen und das jetzt zurückgedrängte Aechte wieder hervorgeholt, auch gutes Neues hinzugeschaffen werden.«

Kommt es so, wie Ew. Excellenz sagen, bemerkte ich, so bleibt doch die Lectüre für Jeden übrig, der sich nicht in den Pfuhl des Gemeinen mit stürzen will.

»Ja«, sagte Goethe, »die Buchdruckerkunst ist ein Faktor, von dem ein zweiter Theil der Welt- und Kunstgeschichte datirt, welcher von dem ersten ganz verschieden ist; daher wir auch mit Folgerungen aus dem ersten auf den zweiten Theil nicht mehr auskommen.«

Dieser Gedanke überraschte mich durch seine für[131] mich gänzliche Neuheit. Ich erwartete gespannt eine Erörterung desselben. Leider ging Goethe gleich zu weiteren Fragen über die andern von mir genannten Stücke über, und ich konnte Nichts thun, als die neue Ansicht in mir festhalten, um sie gelegentlich selbst weiter zu untersuchen.

»Wie war«, fragte Goethe, »die Musik von Anselm Weber zu Deodata?«

Sie schien mir, antwortete ich, dem Sujet angemessen und durchaus in dem Totalton des Ritterthums gehalten zu sein.

»Danach«, sagte Goethe, »wäre ja Weber unter die größten Componisten zu zählen. Nichts setzt eine stärkere Phantasie und Dichtungskraft voraus, als den Schein eines dem Stoff entsprechenden Totaltones über ein ganzes Werk zu verbreiten.«

Ich habe jedoch, sagte ich, bei dieser Gelegenheit die Bemerkung gemacht, daß diese große Eigenschaft einem Kunstwerke unter gewissen Umständen ohne alles Verdienst von Seiten des Künstlers eingeprägt werden kann.

»Wie das?« fragte Goethe.

Anselm Weber's Stil, wenn ich nicht lieber sagen soll Manier, erwiderte ich, ist eine Nachahmung des Gluck'schen, Reichardt'schen, überhaupt[132] der älteren Meister. Seine Musik zu dem Ritterstücke scheint aus dem glücklichen Umstande hervorgegangen zu sein, daß seine künstlerische Subjectivität mit dem Gegenstande zusammentraf. Seine Manier hat von Haus aus etwas Alterthümliches. Er würde der modernsten Handlung denselben musikalischen Totalton geben müssen und sich keineswegs in einen andern umstimmen können.

»Das mag wohl sein«, sagte Goethe. »Und was haben Sie von dem ›Letzten Mittel‹ zu berichten?«

Fast etwas Aehnliches, erwiderte ich, wie von der Weber'schen Musik. Es war die vollkommenste theatralische Vorstellung, die ich in meinem Leben gesehen habe, bis auf die kleinste Rolle vollkommen. Obwohl ich nun außer Wolf keinen der anderen Mitspieler jemals gesehen hatte, so kann ich doch nicht annehmen, daß alle gleich große Schauspieler sein sollten. Ich glaube daher annehmen zu müssen, daß ein besonders günstiger Zufall jeder Rolle die dafür geeignetste äußerliche Persönlichkeit sowohl als auch die innere Subjectivität zugetheilt habe, wodurch eine seltene Natürlichkeit durchgängig in das Ganze kam.

»Das ist eine gute Bemerkung«, sagte Goethe.[133] »Solche glückliche Zufälle giebt es allerdings, nur gehören sie leider unter die seltenen Ausnahmen.«

Obwohl ich an Goethe noch keine Ermattung des Interesses an der Unterhaltung spürte, besorgte ich doch schon längere Zeit, ihn zu langweilen; ich bemühte mich daher, meine Referate immer kürzer zu machen, und überging deshalb Manches. Als er nach der Zauberflöte fragte, bemerkte ich darüber und über die Entführung aus dem Serail blos, daß in diesen beiden Opern theatralische Ausstattung wie Spiel und Gesang ungleich schlechter als bei uns ausgefallen seien. Unzelmann, der in ersterer als »Papageno«, in letzterer als »Pedrillo« gastirt, habe keinen besondern Erfolg errungen. Auch sei das Orchester weit geringer besetzt gewesen, als bei der Spontini'schen Oper. Beide Werke seien gegen die anderen Vorstellungen, die ich gesehen, aufs Aeußerste abgefallen. Das Aergste aber, was mir in künstlerischer Hinsicht vorgekommen, habe ich in dem Concert eines Klaviervirtuosen erlebt.

Hier verlangte Goethe eine ausführliche Schilderung, um sich, wie er sagte, den Zustand genau vergegenwärtigen zu können.

Ich schalte hier ein, daß ich Goethe die Namen der bei dem Concert Betheiligten nannte, sie aber[134] aus Gründen, die man billigen wird, hier verschweige. Daß das Concert, begann ich, von keiner berühmten Künstlerautorität ausging, wußte ich. Der Concertgeber ist ein außer Berlin ganz unbekannter Klavierlehrer schon in vorgerückten Jahren. Das Lokal war ein länglicher, schmaler Saal, dessen eine Hälfte das Orchester, die andere Hälfte ein nicht sehr zahlreiches und wie mir schien auch nicht sehr gewähltes Auditorium einnahm. Das Erste, was mir unangenehm auffiel, war ein nonchalantes, fast geringschätzendes Benehmen des Dirigenten (ein königlicher, jetzt verstorbener Musikdirector). Wie ein Pfau stolz vor dem Publicum hin- und herschreitend, präludirte er auf seiner Violine wohl eine Viertelstunde ganz laut. Nach der ziemlich mittelmäßig ausgeführten Ouvertüre trat eine Dilettanten-Sängerin vor in einer solchen Angst, daß die Notenpartie in ihren Händen sichtbar zitterte. Obgleich ihre Stimme nicht übel war, so vermochte das arme Wesen doch keinen Ton natürlich hervorzubringen. Sie tremolirte durchgängig und so auffallend, daß es zuweilen in förmliches Meckern überging. Sie mochte sonst eine den Berlinern bekannte achtbare Person sein, denn das Publicum ließ sich die Production gefallen und applaudirte sogar ein wenig[135] am Schlusse. Ich habe in meinem Leben keinen komischeren Vortrag gehört, und nur das Mitleid mit der Armen hat meine Lachmuskeln in Ruhe gehalten. Hierauf setzte sich der Concertgeber selbst an den Flügel und das Tutti zu einem Hummel'schen Concert begann. Nach ungefähr 20 oder 30 Takten des ersten Solo's war er mit dem Orchester so vollständig zerfallen, daß – aufgehört und vom Solo an noch einmal begonnen werden mußte. Mir fuhr der Schreck in alle Glieder, und ich glaubte, der Virtuos müßte vor Scham in Ohnmacht sinken. Aber Nichts weniger. Er blieb ruhig, als sei das eine ganz natürliche Sache, kam auch ohne ein zweites solches Unglück durch, aber fast immer in Zwiespalt des Tempo's mit dem Orchester. Und wie viel Noten er fallen gelassen oder falsch gegriffen, weiß ich nicht zu sagen. Als habe ein neckischer Kobold die Anordnung des Concerts behufs immer komischerer Steigerung übernommen, trat nun ein alter Bratschist mit Variationen auf. Hier triumphirte endlich die Komik. Der Mann arbeitete die nichtswürdige altmodische Composition mit einem solchen Aufwand äußerer burlesker Mimik und Gesticulation ab, daß ein ironisch donnernder Beifallssturm am Ende dieser Production gar nicht aufhören wollte, worüber[136] der Alte sehr glücklich zu sein schien. Im zweiten Theil trat die Sängerin und nach ihr der Concertgeber in ähnlicher Weise wieder auf. Doch ich fürchte Excellenz zu langweilen, und –

»Nein«, fiel Goethe ein, »fahren Sie fort. Kam denn gar keine gute Production zum Vorschein?«

Ein Virtuos machte eine schöne Ausnahme, und zwar auf meinem Instrumente. Er war ein ausgezeichneter Künstler.

»Nun«, sagte Goethe, »da wünsche ich zu erfahren, in welchem Verhältniß Sie ihn zu sich gefunden haben.«

Diese Frage that mir außerordentlich wohl; denn ich konnte daraus entnehmen, daß mir Goethe Selbstkenntniß und Ehrlichkeit zutraute.

Ich antwortete nach meiner innersten Ueberzeugung: In dem Firlefanz der Finger mag ich etwas mehr leisten können, in schönem Ton, mannigfaltigster Nuancirung, Schattirung und scharf ausgeprägtem Gefühlsausdrucke ist er mir unendlich überlegen, und hat meine Abneigung gegen mein Virtuosenthum nur noch mehr gesteigert. Es ist ein qualvoller Zustand, zu wissen und zu fühlen, wie ein Tonstück vorgetragen werden sollte, und dann doch etwas[137] ganz Anderes, Matteres zum Vorschein zu bringen.

»Machen Sie nicht zu große Ansprüche an sich und täuschen sich selbst?« fragte Goethe.

Ich bitte um Verzeihung, Excellenz, erwiderte ich, von Täuschung kann nicht die Rede sein, wenn man an Andern bemerkt, daß sie haben, was einem fehlt.

»Wenn Sie glauben, sich richtig zu beurtheilen, so würde ich rathen, eine Thätigkeit aufzugeben, die Ihnen keine Befriedigung gewähren will.«

Wenn es auf mich ankäme, erwiderte ich, so hätte ich das längst gethan. Zunächst hätte ich studirt.

»Hm!« sagte Goethe, »das alte Lied vom falschen Platze!«

Ich erschrak.

»Nein, nein«, sagte Goethe, der es bemerkte, gütig, »ich meine es im Ernst. Die Welt sähe anders aus, wenn ein Jeder in sein ihm zusagendes Element käme. Das soll nun einmal nicht sein. Nur Wenigen fällt dieses Loos.« Goethe sprach noch einige Gedanken dazu aus, die ich indessen bei mir behalten will. Er äußerte sodann: »Ist Ihnen auf der Reise hin und zurück, sowie in Berlin selbst noch Bemerkenswerthes vorgekommen?«[138]

Wenig, erwiderte ich, und wohl kaum Etwas, das werth wäre, vor Ew. Excellenz angeführt zu werden.

»Erzählen Sie«, sagte Goethe, »was Ihnen aufgefallen ist. Es giebt nichts Unbedeutendes in der Welt. Es kommt nur auf die Anschauungsweise an.«

Ich bemerkte, daß mich Kriegsgeschichten sehr interessirten, und daß ich auf der Hinreise mehrfache Gelegenheit gefunden, pikante Specialitäten über die Kriege von 1806 und 1813 aus dem Munde von Augenzeugen zu erfahren. Goethe ließ sich die Erzählung mehrerer solcher Fälle gefallen. Ich übergehe sie hier, da sie nicht in diese Blätter gehören. Endlich frug er mich, ob ich Neigung zum Soldatenstande gehabt oder noch habe.

Niemals, erwiderte ich; im Gegentheil ist es mir unbegreiflich, wie irgend ein Mensch Lust dazu haben kann. Kriegsgeschichten dagegen lese und höre ich mit großer Begierde.

Goethe äußerte dazu: »So kann einem also eine Sache zugleich widerwärtig und angenehm sein. Widerwärtig, wenn man sie selbst unternehmen soll, angenehm, wenn man sie an Anderen wahrnimmt. Wer diese Doppelgabe am ausgebreitetsten besitzt, ist[139] der Glücklichste in dieser Welt. Er kann niemals ohne Interesse sein, folglich niemals Langeweile empfinden.«

Es wurde mir bei dieser Rede plötzlich klar, was mir bisher nur dunkel vorgeschwebt hatte, woher nämlich der ungeheure Reichthum Goethe's an sentenziösen Gedanken rühre. Jedenfalls aus seiner von Jugend auf angenommenen Gewohnheit, über jede, auch die geringfügigste Erscheinung Betrachtungen anzustellen und irgend einen Allgemeingedanken daraus zu abstrahiren. Daher die Unzahl von Betrachtungen in seinen Schriften, von denen wir glauben, wir hätten sie ebenso gut finden können, weil sie so natürlich und überzeugend erscheinen. Daß wir sie aber, einmal gelesen, niemals wieder aus dem Gedächtniß verlieren, liegt in einem zweiten Grundsatz, den er sich gegeben: jedem Gedanken die klarste, anmuthigste, gefälligste Form zu verleihen. Nun verstand ich auch recht den Rath, den er mir in der ersten Unterredung gegeben: über Alles, was mir vorkomme, Betrachtungen anzustellen! Ja wenn er zu diesem Rathe auch seinen wunderbar hellen, durchdringenden Blick und scharfsinnigen Geist hätte mittheilen können! Es erklären sich aus diesen Abstractionen von jedem einzelnen concreten Falle[140] aber auch die scheinbaren Widersprüche, denen wir zuweilen in seinen Schriften begegnen.

Das Gespräch hatte bereits so lange gedauert, und noch war mir's nicht gelungen, Goethe an die räthselhafte Aeußerung zu erinnern, die er mir am Ende seiner ersten Unterredung zum eigenen Weiterbedenken auf den Weg gegeben. Aber auch heute sollte ich nicht darüber zur Aufklärung kommen.

Denn eben, als ich darauf zu kommen mir das Herz fassen wollte, trat der Diener ein und meldete, daß – servirt sei, worauf mich Goethe freundlich entließ.[141]

Quelle:
Lobe, Johann Christian: Aus dem Leben eines Musikers. Leipzig 1859, S. 116-142.
Lizenz:

Buchempfehlung

Schlegel, Dorothea

Florentin

Florentin

Der junge Vagabund Florin kann dem Grafen Schwarzenberg während einer Jagd das Leben retten und begleitet ihn als Gast auf sein Schloß. Dort lernt er Juliane, die Tochter des Grafen, kennen, die aber ist mit Eduard von Usingen verlobt. Ob das gut geht?

134 Seiten, 7.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon