VII. Eine Philippica.

[142] Kein Dichter ist schon bei seinen Lebzeiten so gefeiert, kein Dichter aber auch bei seinen Lebzeiten so verunglimpft worden, als Goethe. Alle Menschen sind von Gottes Gnaden hochgeborene Besserwisser. Wer ein Ding nicht genau so macht, wie ich es mir vorstelle und wünsche, hat es nicht recht gemacht. Und nicht zwei Menschen haben die gleiche Vorstellung von einem Dinge, obwohl jeder Mensch seiner Meinung nach die beste davon hat. Aber auch den Menschen Goethe hat man vielfach angegriffen und aus einem Weltweisen im griechischen Sinne einen mit Schwächen und Lastern unserer modernen Zeit behafteten Alltagsmenschen machen wollen. Er soll stolz gewesen sein. Ich hege starken Verdacht, daß diejenigen, die ihn so genannt haben, ihm mit derselben Eigenschaft, nur nicht mit demselben[142] Recht dazu, entgegengetreten sind. Seiner Mannes- und Geisteswürde wußte er überall Respect zu verschaffen, aber kein Bescheidener wird Goethe stolz gefunden haben. Er habe eigentlich kein Herz gehabt! – Wer mag denn den Werther, den Egmont, den Faust u.s.w., wer mag die tausend klingenden Lieder unter Goethe's Namen der Welt aufgeschwärzt haben! – Daß er im Leben kein weinerlicher Hamlet gewesen, daß er die Stöße des Schicksals muthig parirte, oder, wenn er eine Wunde davon trug, nicht daran verbluten wollte, sondern sie zu heilen und den Schmerz, wie ein Mann und Weiser soll, zu verbergen suchte, das ahmt nach, wenn ihr könnt, aber sprecht ihm darum nicht das Herz ab!

Er soll vom Teufel des Egoismus besessen gewesen sein! Ja wohl! Er hat zu Schiller nicht gesagt: »Komm her, übernimm mein Amt, mein Haus, mein Vermögen, und laß dir's darin wohl sein, ich will dafür deine beschränkte Lage übernehmen.« Er hat überhaupt zuerst an sich gedacht, und dann erst an Andere. In diesem Punkte stehen wir Alle, Alle weit und hocherhaben über ihm! – Welcher Aufopferungen für Andere er aber dennoch und ganz im Stillen fähig war, haben neuere Schriften zur Genüge an den Tag gebracht.[143]

Endlich und vorzüglich war Goethe kein deutscher Mann! Warum? – Weil er andere Ansichten über das Erdentreiben, die jede Spanne lang in andern Farben schillernden Zeitwirren gehabt, weil er keine politischen Gedichte und Partei-Leitartikel geschrieben? Ich möchte wissen, mit welchem Auge der gute Theodor Körner seine Aufopferung im Jahre 1813 betrachten würde, wenn er im gegenwärtigen Jahre des Heils 1859 auf unsere deutsche Erde zurückkäme!

Das höchste Ziel des vernünftigen Menschen ist, alle Dinge so zu sehen, wie Gott sie sieht. Diesem erhabenen, ob freilich unerreichbaren Ideale hat Goethe sein ganzes Leben hindurch nachgestrebt, und er ist ihm wenigstens näher gekommen, als die allermeisten Menschen vor ihm. Seine Bestimmung war, über dem wirren Erdentreiben sinnend und brütend zu schweben, weise Gedanken daraus zu entwickeln, und die gefundenen Schätze der armen Menschheit zu ihrer Erleuchtung und Veredelung mitzutheilen. Wer kann sagen, er habe in dieser höchsten Beziehung mehr für die deutsche Nation gethan, als Goethe?

Doch fast ereifere ich mich! Um mich zu beruhigen, nehme ich den dritten Band von Eckermann's Gesprächen mit Goethe zur Hand.[144] Das ist ein Buch! Das lest und lernt Goethe kennen, nicht wie ihn die Journale geschildert, sondern wie er wirklich gewesen!

Worin liegt die Ursache der vielen Schmähungen auf Goethe? – H. Heine, der früher auch in diesem Fache mitgearbeitet, giebt ganz einfach und ehrlich an: das Agens seiner Invectiven gegen Goethe sei gewesen – der Neid. – –

Ja, wäre Goethe nicht gar so berühmt geworden, und hätte er zeitlebens als armer Teufel im Dachstübchen wohnen müssen – die ganze böse Literatur über ihn wäre vielleicht ausgeblieben. – Aber er war Minister! – Da werden Dichter geschätzt! dachten Manche, die auch Verse machen konnten, und – fort ging's nach Weimar. Sie hofften, wenigstens Hof- oder Staatsräthe daselbst zu werden. Wurden sie's nun aber nicht, so fuhren sie äußerst erzürnt zum Thore hinaus und gleich mit ihrem Aerger in das nächste Journal hinein. Mein Gott, anstatt sich über ihn zu erbosen, hätten sie lieber einmal fragen sollen, wie er sich zu so hoher Geltung gebracht. – Mit dem Genie allein ist's nicht gethan, würde Jeder zunächst an sich selbst seufzend erkannt haben. Sie hätten also seine Schriften von diesem Gesichtspunkte aus studiren sollen, ich meine nicht, was er darin [145] ausgesagt, sondern was er darin verschwiegen. Warum hat er z.B. seine Harzreise und so manches andere Gedichträthsel geschrieben? Warum hat er im ersten und zweiten Theil seines Faust so viel harte Nüsse hinterlassen, an denen die schärfsten Zähne noch vergeblich beißen, um den Kern aufknacken und genießen zu können? – Denkt nach! – Und wie hat er es angefangen, so hoch in der menschlichen Gesellschaft zu steigen? Hat ihn das gute Glück allein hinaufgehoben?

Das Glück! – Es hat sich was! –

Wenn man unter Glück jene günstigen Zufälle versteht, die unsre Wünsche vollständig ganz ohne unser Zuthun erfüllen, so hat es noch keinen einzigen glücklichen Menschen der Art gegeben. Versteht man aber unter Glück das unserem Streben zu Hilfe kommende jeweilige Eintreten günstiger Umstände, welche, behend ergriffen und weise benutzt, unsere Wünsche realisiren können, so hat Jedermann Glück. Die günstigen Anlagen, in höchster Potenz das Genie, kann man sich freilich nicht geben, die Benutzung und Geltendmachung desselben aber ist der Welt abzumerken und abzulernen. – Wenn von zwei gleich Begabten der Eine sehr Viel, der Andere sehr Wenig erreicht, so prüft und vergleicht Beider[146] Thun nur genauer, als es gewöhnlich geschieht, und ihr werdet sehen, daß der Weitergekommene mit stets offenem Auge jeden günstigen Moment gleich sah und geschickt beim Schopfe faßte, der Zurück- oder ganz Sitzengebliebene aber leichtsinnig daran vorüberging, oder, wenn er einmal gerade mit der Nase daran stieß, ihn entweder aus Trägheit nicht ergriffen hat oder aus Mangel an Welt- und Menschenkenntniß nicht benutzen konnte.

Die Sache, auf Goethe angewandt, ist die. Er studirte die Welt und die Menschen nicht blos, um sie in seinen Gedichten, Romanen, Schauspielen schildern zu können, er studirte die Welt und die Menschen auch, um sie für seine Zwecke benutzen zu lernen. Er wollte nicht, wie bis zu ihm gewöhnlich war, ein in der Gesellschaft blos gnädig geduldeter Dichter sein, sondern er wollte seinen Stand so hoch heben und geachtet machen, wie es ihm von Gottes Gnaden gebührt. Er studirte nebenher die Kunst, sich geltend zu machen. Kurz, er war ein ebenso großer Politiker in eigenen Diensten, wie Dichter. Da habt ihr das Geheimniß. Diese Kunst behielt er aber weislich für sich. Man muß die Welt nicht zu gescheidt machen.[147]

Quelle:
Lobe, Johann Christian: Aus dem Leben eines Musikers. Leipzig 1859, S. 142-148.
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