Vorrede zur ersten Auflage.

Es giebt über den Gegenstand, welcher in vorliegendem Werk behandelt ist, mehrere, sehr schätzenswerthe Werke, allein die Sache selbst, »der Mensch, seine Umgebungen und seine Verhältnisse,« ist zu wichtig, als daß sie nicht einer mehrseitigen Beurtheilung und Beleuchtung unterworfen werden dürfte. Man kann in diesem Zweige der practischen Philosophie nicht genug thun, was zu Austauschung der Ideen führt, die das Feld der Menschenkunde bereichern.

Der Zweck dieser Schrift ist mehr practisch, als für die speculative Philosophie berechnet. Erfahrungen sind das Buch der Geschichte, Erfahrungen des Einzelnen sind das Buch seiner Weisheit, und wer in vielseitigen Verhältnissen es sich zur Lieblingsbeschäftigung machte, die Dinge um sich her nicht leidenschaftlich zu behandeln, sondern den kalten – man mögte sagen, den satyrischen – Beobachter zu machen, der auch nur kann wohl durch seine Bemerkungen, deren Resultat er in Schrift niederlegt, andern nützlich werden. Selbst muß man in vielen Verhältnissen der Praxis gewesen sein, um über Praxis gründlich, mit Wahrheit schreiben zu können. So blickt es in Knigge's sehr geschätztem Werk »über den Umgang mit Menschen« überall durch, daß er in vielem Menschenverkehr gestanden, und daß er, ohne über der Leidenschaftlichkeit den wahren Sinn des Lebens zu vergessen, mit bewunderungswürdiger Nüchternheit auch die kleinen Reibungen des gesellschaftlichen Lebens beobachtete; so ist das Werk des Hofrath Pockels »über Gesellschaft, Geselligkeit und Umgang,« sehr anziehend, und dem Leser für seine individuellen Verhältnisse ansprechend, weil außer einer vielfachen Anführung dessen, was andere über diesen Gegenstand dachten, die Raisonnements[4] des Verfassers selbst von einer sehr glücklich aufgefaßten practischen Menschenkenntniß zeugen; – so würden Herder, Garve, Lichtenberg (wenn er nicht überall der drolligen Satyre den Vortritt ließe,) Meisterwerke geliefert haben, wenn sie mehr practische Kunde über die Mehrheit der Arten von Lebensverhältnissen gehabt hätten. Sehr aufrichtig, wahr und bescheiden bearbeiteten sie nur die Fächer practisch, welche sie kannten, und haben Garve's und Herders Schriften in den einzelnen Gegenständen einen Reichthum der Ideen, und eine gründliche Behandlung, welche nichts zu wünschen übrig läßt. – Kant in seiner »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht,« scheint selbst in der Vorrede es entschuldigen zu wollen, daß er die Empirie in ein philosophisches System bringen wollte, und so sehr der speculative Theil den großen Denker verkündigt, so viel läßt doch der practische Theil dem, der das Resultat der Erfahrungen nach den Ansichten eines Weltmannes sucht, zu wünschen übrig. – Die in dieses Feld einschlagenden Schriften eines Campe u.s. w. sind zu sehr pädagogisch, als daß sie den ansprechen sollten, der, schon in dem Weltstrudel selbst befangen, die Urtheile und Meinungen scharf beobachtender Empiriker zu wissen wünscht.[5]

Nach diesen Andeutungen ist die gegenwärtige Schrift, welche durchaus keine fremden Meinungen adoptirt hat, und ihren eignen, neuen Gang geht, zu beurtheilen. Die Welt duldet keine Ruhe, der Zeitgeist schreitet immer vorwärts, und aus den neuesten Andeutungen des Zeitgeistes ist diese Schrift entnommen, sie muß daher auch wohl viel Neues, viel Practisches enthalten welches alle Kathederphilosophie über diesen Gegenstand zu bemerken, nicht Gelegenheit hat. Besonders wird es dem Leser der zweite, practische Theil darthun, daß aus der Neuheit unserer Lage neue Ansichten und Bemerkungen genommen sind, welche früherhin, als die Welt noch weniger nach dem Kosmopolitismus sich hineigte, keinen Stoff zu allegemeinen Umgangsregeln abgeben konnten.

Ein Werk, wie das vorliegende, findet leicht seine Leser, da jeder vernünftige Mensch an Selbstkunde zuzunehmen wünscht, und lieber schriftlich als mündlich über den Umgang mit Menschen sich belehren läßt; ein jeder sucht auch das gern aufzufassen und sich anzueignen, was für die Eigenthümlichkeit seiner Lage gehört. Des Beifalls der Mehrzahl der gebildeten Lesewelt,[6] welche Vervollkommnung wünscht, darf der Verfasser daher gewiß sein, zumal er sich die möglichste Mühe gegeben hat, jede egoistische Ansicht, jede Partheilichkeit, wie man solche in den besten Schriften dieser Art so häufig findet, zu verbanen, und da die moralische Tendenz, welche der Absicht zum Grunde lag, da die Erhebung des Menschengeschlechts, anstatt daß viele Schriftsteller es mehr herabsetzen wollen, als es herabgesetzt zu werden verdient, gewiß überall hervorleuchtet.

Anders aber ist es mit der kritischen Beurtheilung, und für diese Herren nur wenige Worte.

Der Verfasser ist weit von der Anmaßung entfernt, öffentliche Beurtheilungen nicht achten, nicht beherzigen zu wollen, zumal wenn sie doctrinell, und nicht, durch das Herausreißen einzelner Sätze und hingeworfene Bemerkungen niederschlagend, den Zweck einer guten Kritik verfehlend sind. Die gute Absicht, welche die Feder führte, wird ihm immer eine große Beruhigung bleiben, jedoch äußert er den bescheidnen Wunsch, daß man auch die Rügen, welche jeder Dritte[7] leichter findet, in das Gewand der Anständigkeit hülle, welches, gewiß mit vollem Grund, so oft in diesem Buch empfohlen wird.

Im ersten Theil können strenge Philosophen sehr viel an dem System zu tadeln haben, sofern sie eine Consequenz darin aufsuchen wollten. Dergleichen Gegenstände lassen sich aber wohl nicht in eine rein logische Ordnung bringen, wenn der Zweck, daß das Buch für jeden Leser von einiger Bildung eine Ansprache finden mögte, erreicht werden soll. Der Verfasser folgte daher nur einen sehr natürlichen Ideengange, an den die Gegenstände des gemeinen Lebens, welche beleuchtet werden sollten, ungezwungen sich anreiheten. Ein Buch für das Volk ermüdet und wird weggeworfen, wenn der Leser erst mit Mühe sich in das System des Verfassers hineinstudieren soll; die allgemeine Einheit des Zwecks und der Ansicht muß nur beibehalten werden.

Eben so können strenge Philosophen tadeln, daß die Begriffe von Affecten, Leidenschaften, Gemüthszuständen u.s. w. nicht streng philosophisch geschichtet und geordnet sind; allein da der Verfasser, wie gesagt, nicht für die speculative,[8] sondern für die practische Philosophie schrieb, so folgte er dem Sinn der Mehrheit der Leser. Eben so sind oft da gar keine Definitionen angegeben, wo das Wort selbst schon allbekannt, und mit seinem wahren Begriff im intellectuellen Anschaun des Menschen da liegt; an andern Orten, wo eine vorherige Definition für nothwendig erachtet wurde, sind nicht die strengen Unterschiede der Schulphilosophie gemacht, z.B. Bei dem Begriff von »Zorn« und »Haß,« die hier vermengt zu sein scheinen. Alle Spitzfindigkeiten aber, welche den Leser kalt lassen oder ermüden, sollten entfernt werden, aus seinem alltäglichen Leben sollte er nur practische Bemerkungen wieder finden und beherzigen lernen.

Die einzelnen Wahrnehmungen, Beobachtungen u.s.w., womit der erste Theil schließt, konnten, als eine Sammlung einzelner Beobachtungen, in keine Ordnung gebracht werden; solche Mittheilungen scheinen nirgends am unrechten Ort zu sein, wo Menschenkunde gesucht wird, und gegeben werden soll.

Der zweite, der practische Theil, wird ohne weiteres sich selbst empfehlen; er ist aus dem[9] wahren Menschenleben gegriffen, und jeder Leser wird Wahrnehmungen darinnen finden, die ihm willkommen sind. Nicht allein, daß Knigge in seiner schätzbaren Schrift oft wichtige, practische Sätze so kurz hinwirft, daß der gewöhnliche Leser nicht aufmerksam genug darauf wird, so haben auch in der geraumen Zeit von dreißig Jahren die Sitten der Menschen sich geändert, so wie alle öffentlichen Verhältnisse andere Einwirkungen erhielten; die Welt ist unterdeß freier, leicht beweglicher geworden, und vieles von dem, was er sagte, ist dem jetzigen Zeitalter nicht mehr anpassend; eine Revision des Umgangsverhältnisses kann daher dem Publikum nicht unlieb sein.

Der Gegenstand selbst ist so groß, so anziehend wegen der Mannigfaltigkeit der Beobachtungen, daß man Folianten darüber schreiben könnte; allein Weitläufigkeit würde gerade der Sache selbst schaden; man würde dadurch in das Kleinliche fallen, und Bemerkungen hingeben, welche, aus der Localität entnommen, für das allgemeine Publikum unpassend sind. Diese Anführung wird es rechtfertigen, wenn der Verfasser nur kurz, in scharfen Umrissen die Grundlinien hinzeichnete, welche in jeder Menschenverbindung[10] dieselben sind; das Kolorit ist fast in jeder Stadt, ja, fast in jedem Bezirk einer Stadt anders. Wollte man auf diese Schattirungen sich einlassen, so müßte man ein besonderes Buch für die Residenzen, ein anderes für das Land, und noch eines für die Provinzialstäde schreiben, in welchen letztern besonders es einige harte Schlagschatten giebt.

Quelle:
Nicolai, Carl: Über Selbstkunde, Menschenkenntniß und den Umgang mit den Menschen. Quedlinburg, Leipzig 21818, S. IV4-XI11.
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