3. Basler Professur 1870–1897

[114] 15. Dec. 1897.


Vielleicht hat kein Leser meiner »Christlichkeit unserer heutigen Theologie« annehmen mögen, daß ich es mit dem Vorschlag, mit dem ich das Schriftchen beschließe, ernst meine, und ich selbst behaupte nicht, mir seiner Zeit eingebildet zu haben, es werde nun flugs nach meinem Rath sich eine Ecke der Welt einzurichten beginnen, überhaupt allzuviel Gedanken an die Frage der sogen. »Ausführbarkeit« meines Vorschlags gewendet zu haben. Damit gebe ich aber noch nicht zu, daß ich ihn nur so hingeworfen hätte. Jedenfalls habe ich selbst nach diesem Recept fortan als Lehrer der Theologie gelebt. Ich habe nicht gelehrt, was ich glaubte, d.h. was ich wollte, sondern was ich für zweckmäßig, d.h. für meine sogen. Pflicht hielt.

Mit jenem Schriftchen habe ich vor nunmehr bald 25 Jahren zunächst nur mir selber zu helfen gedacht. Ich ertrug den falschen Schein, den mein Amt auf mich warf, nicht länger, vermochte jedenfalls nicht mehr auf dem Gebiet der Theologie wissenschaftlich zu arbeiten, ohne für mich und Andere die Bedingungen klar gestellt zu haben, unter denen ich es allein noch mochte. Die Grundbedingung war kurz gesagt die: Niemand sollte mich noch für das ansehen, wofür ich jedenfalls nicht angesehen sein wollte, nämlich für einen Vertreter des Christenthums. Ich wußte längst, daß ich das nicht war und mich als Theologe kritisch dazu verhielt, nun wollte ich mir für dieses Wissen Luft ein für alle Mal verschaffen, unter dem Titel eines wohlbestallten Lehrers der Theologie die Feder zu einer Kirche und Christenthum betreffenden Arbeit nicht anders mehr ansetzen müssen als unter der erklärten Voraussetzung, daß mir mein Beruf nur noch als Stätte gelte, um mir selbst ein wissenschaftliches Verständniß der eben genannten Dinge zu verschaffen. Nicht einen Augenblick habe ich diesen Gedanken in mir gehegt[115] ohne das Bewußtsein, daß er mir Opfer auferlegen und keineswegs nur die Freiheit, die ich mir dabei nahm, schenken würde.

Vor Allem stand mir, sobald ich mich ausgesprochen hatte, fest, daß ich mir für immer die Rückkehr auf einen Lehrstuhl der Theologie in Deutschland verlegte, und das mit Sonnenklarheit, und dieser Klarheit habe ich, wie jeder anderen, viel zu danken. Selbst gute Freunde, die mir den Anspruch »berufen« zu werden nicht absprachen, habe ich bisweilen eine gewisse Neigung anzumerken gemeint, mich für verbittert zu halten darüber, daß es nie geschehen ist. Im Gegentheil: ich nehme es keiner Culturbehörde übel, daß sie mich nicht gemocht hat, und danke es jeder, die etwa im Falle gewesen sein sollte, es anders zu machen, daß sie mir die Verlegenheit einer Berufung erspart hat, eine Verlegenheit, die darin bestanden hätte, daß ich abzulehnen die Miene annahm, was anzunehmen für mich gar keine Möglichkeit bestand. Auch habe ich mich ja selbst stets mucksmäuschenstill gehalten, um mir diese Verlegenheit zu ersparen, mich durch Bücherschreiben mindestens nicht »unübersehbar« gemacht und sonst im strengsten Sinne keinen der mehr als zehn Finger gerührt, die in diesen Dingen von solchen, die sich bemerklich machen zu müssen oder zu dürfen glauben, sich rühren lassen. Aber nicht nur in dem angegebenen Sinne nahm ich, als ich meine Christlichkeit geschrieben hatte, an, daß meiner Laufbahn als Lehrer der Theologie ein unüberwindliches Hemmniß in den Weg gelegt sei, ich wußte nicht anders als daß ich meine Professur überhaupt aufs Spiel setzte. Nun weiß ich noch bis auf den heutigen Tag nicht das Geringste davon, daß sich irgend jemand damals in Basel mit dem Gedanken befaßt hätte, mir diese Professur zu nehmen, außer mir. Auch hänge ich bei der Hochachtung, die mir stets für die im ausgezeichneten Sinne bedachtsame Art des damaligen Basler Regiments geblieben ist, und auch für die Stille, in der damals meine[116] ganze, hier zur Sprache gebrachte Angelegenheit sich abgewickelt hat, der Annahme, daß es wirklich niemand gethan hat, eher an, als daß ich mich gern daran irre machte. Sagen will ich hier nur, daß jedenfalls die Art, wie ich hier am Orte mit meiner eigenmächtigen Declaration über Theologie unangefochten blieb, die von mir ohnehin nicht im geringsten verkannte Verpflichtung dazu, neben mir selbst auch das einmal übernommene Amt noch etwas gelten zu lassen, nur gesteigert hat. Ich hätte mich unter Umständen nicht so sehr gescheut mich als Professor der Theologie meiner Behörde unangenehm zu machen, es hat mir stets am Herzen gelegen, der mir hier gegebenen »Unannehmlichkeiten« möglichst wenig zu bereiten und sie das Problematische der »Annehmbarkeit« ihres Professors möglichst wenig empfinden zu lassen. Nie bis auf den heutigen Tag, wo ich aus ihrem Dienst als Lehrer entlassen bin, habe ich Ursache gefunden, diese meine Anerkennung der mir durch sie gesetzten Schranken zu bedauern, bin ich auch ohne Hoffnung, ihren Dank im selben Maaße zu verdienen, wie sie sich den meinen gesichert hat.

Denn einen sonderbaren Professor der Theologie hat sie an mir stets gehabt und zwar einen solchen, der zwar, wie sich das von selbst versteht, nicht stets und von vorneherein, so klar über sich selbst war, wie er es bei diesem späten Rückblick auf seine Laufbahn sein kann, indessen doch schon in dem bestimmten einzelnen Moment, der, indem ich von meiner »Christlichkeit« ausging, hier ins Auge gefaßt ist, mit leidlicher Deutlichkeit selbst die Eigenthümlichkeit der Lage, in der er sich fortan als Lehrer der Theologie befand, übersah und sich über die Glätte des ihm gewiesenen Wegs im Allgemeinen keinen Illusionen hingab.

Hier halte ich einen Augenblick an, um mir deutlich zu machen, was ich will: kurz gesagt, so gut ich es aus Erinnerung nur kann, möglichst treu und ausschließlich beschreiben, wo ich in dem hier fixierten Moment mit meinen Gedanken[117] stand, nichts erklären und noch weniger etwas rechtfertigen, was auf diesen Blättern meine Absicht vollends nicht ist. Ich lasse also z.B. in den folgenden Auseinandersetzungen die Frage ganz außer Betracht: wie war ich überhaupt dazu gekommen, Theolog zu werden, wie mit der Theologie auch wieder so auseinander gekommen? Auf sich beruhen lasse ich, wie ich nach Basel gekommen bin, d.h. wie es zu einer Berufung hierher gekommen. Davon können andere jedenfalls besser erzählen als ich. Was mich anbetrifft, so war ich schon ein paar Jahre am Orte, als ich in den Stand gesetzt wurde, mehr davon zu sagen, als nach AG. 8, 40 der Evangelist Philippus hat darüber sagen können, wie er nach Azotus gekommen ist. Bei Seite bleibt auch was überhaupt von persönlichen Einflüssen, die mich insbesondere in dem bezeichneten Augenblick umgaben, meine Gedanken und Entschlüsse aus unmittelbarster Nähe bestimmten: befand ich mich doch z.B. gerade damals in der Periode, ich will nicht sagen meiner innigsten, aber doch meiner continuirlichsten, nämlich täglichen Beziehungen zu Nietzsche, der in allem was mich anging, seit ich ihm wirklich näher gekommen war, überhaupt magna um nicht zu sagen maxima pars fuit. Das sind lauter Fragen, die hier unter Umständen nicht zu übergehen wären, und über die, da ich allein über sie etwas weiß, ich auch insbesondere etwas zu sagen hätte. Ich schweige aber für jetzt und habe im Sinn so zu sagen nur eine einzelne Ecke der Landschaft meiner Gedanken zu beschreiben – es muß mir hier, wo ich zu mir selbst rede, gestattet sein, mich so preciös auszudrücken, überhaupt mir alle nur wünschenswerthe Freiheit zu nehmen, deren ich zur Deutlichkeit bedarf. Ich fahre nun fort.

Wofür ich im Moment, da ich meine Christlichkeit schrieb, das größte Interesse hatte – ein weit größeres als jetzt, da ich dieses schreibe, wo ich zu alt bin und schon zu sehr von Kräften, um mir noch den Luxus eines solchen Interesses zu[118] gestatten – das war das historische Problem des Christenthums. Die liebste Vorstellung war mir, damit mich nun als »musicirendes Englein« sozusagen an meinen Studiertisch zu setzen und zuzusehen, wie weit ich damit käme. In dieser Stimmung lag mir nichts so fern als in dem Sinne mit dem Christenthum »fertig zu werden«, daß ich nur dafür zu sorgen hätte, ihm Eins oder das Andere anzuhängen, was am Besten dazu helfen könnte, ihm den Rest zu geben. Gesetzt ich wäre überhaupt der Mann, der sich in seinem Leben mit Gedanken dieser Art getragen hätte, der ich ganz und gar nicht bin, was ich damals wollte, war das jedenfalls nicht. Es war mir vielmehr ganz recht, mir selbst das Christenthum als Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung zu conserviren und als solcher war es mir besonders lieb und werth, und knüpften sich mir Hoffnungen daran. Damit ist aber ohne weiteres gesagt, in welchem Sinne ich nun doch damit fertig war, und wodurch es mir nicht möglich war, mich über die Art meines persönlichen Verhältnisses zum Christenthum zu täuschen. Indem es mir etwas nur noch als wissenschaftliches Problem war, hatte es ganz aufgehört, mir noch zu sein, wozu es in der Welt sein will, als was es in der Welt gilt und womit es Gegenstand religiösen Glaubens ist. Darnach gestalteten sich sofort die Grundzüge des Amtes vor mir, dessen weitere Führung ich auf mich nahm. Ich denke, ich vermeide am Besten unnötige Umschweife und Allgemeinheiten, indem ich sofort auf die Vorstellung eingehe, die ich mir vom Verhältniß machte, in das ich zu den Zöglingen zu treten hätte, mit deren Förderung mich mein Amt betraute, und auch das mag zur Abkürzung des Verfahrens dienlich sein, wenn ich das Geheimniß, bei dem ich schließlich zu landen gedenke, sofort in seiner ganzen und ganz unverläugneten Dürftigkeit preisgebe. So schütze ich mich wenigstens am Besten vor dem Mißverständniß, als sei es mir hier darum zu thun, mich als Vorbild für künftige Lehrer der Theologie hinzustellen, und so sei es denn gesagt,[119] daß ich nie etwas Weiteres als Lehrer auf meinem Katheder erstrebt habe, als meine Zuhörer leidlich für ihre Examina zu befähigen und allenfalls zu einem ebenso leidlichen wissenschaftlichen Aufsatz aus einem der von mir vorgetragenen Fächer in den Stand zu setzen, doch dieses schon, ich fürchte, nur unter ganz bedeutenden Zumuthungen an ihr eigenes Zuthun.

Auf eine so schächerhafte Auffassung meiner Aufgabe als Lehrer sah ich mich aber gewiesen vor Allem dadurch, daß ich niemals der Einbildung angehangen habe, als ob ich im Stande sei, etwas am Grundschaden dieser Aufgabe zu bessern, der darin begründet war, daß ich den Glauben, den ich bei meinen Zuhörern voraussetzte und zu dessen Verkündigung ich sie zu erziehen hatte, nicht theilte. Niemand konnte weniger als ich selbst darüber zweifelhaft sein, daß meine Zöglinge die Kosten dieses Schadens zu tragen haben würden. Mich indessen darein zu finden, daß ich ihnen nicht helfen konnte, wäre mir gar nicht möglich gewesen ohne das Bewußtsein, daß ich zu diesen Kosten einen nicht unerheblichen Antheil auch meinerseits beitrüge. Dieser Antheil bestand in dem still gefaßten und, ich muß sagen, auch still in mir behaupteten Entschluß – um gleich die Fächer zu nennen über die ich vorzutragen hatte – das Neue Testament ohne Tendenz zu erklären und die Kirchengeschichte ohne Tendenz zu erzählen.


20. Dec. 1897.


Das mag ja manchem klingen, als hätte ich hier im Sinne, meine Vorlesungen für Leistungen eines Genies auszugeben, Anderen wiederum, als wollte ich mich ins Licht dabei bewiesener heroischer Selbstlosigkeit stellen. Wie fern mir beides liegt wird eine Beschreibung des Thatbestandes dieser Vorlesungen, den ich mit meinen Worten in Wirklichkeit meine, zeigen.

Wenn ich nämlich in der damit bezeichneten Weise das Neue[120] Testament erklärt und die Kirchengeschichte erzählt habe, so habe ich das nur fertig gebracht, indem ich ihnen eine Behandlung zutheil werden ließ, die einer »genialen« gerade entgegengesetzt war. Ich habe sie selbst als Objecte meiner Aufgabe auf Dimensionen reducirt, welche tief unter ihnen standen, und mich selbst auf einen entsprechend tiefen Standpunkt gestellt.


20. Dec. 1899.


Das Neue Testament auf meinem Katheder ohne Tendenz erklärend und die Kirchengeschichte ohne Tendenz erklärend, habe ich stets von diesen Dingen ohne den Antheil, der ihnen zukommt, geredet. Ich habe mich beim Neuen Testament auf die schlichteste, im beschränktesten Sinne, den man mit dem Wort zu verbinden vermag, philologische Interpretation seines Wortlauts beschränkt unter möglichster Enthaltung von jeder höheren, sei es die Form, sei es den Inhalt seiner Bücher betreffenden Kritik, welche auf Erschütterung des religiösen Ansehens dieser Bücher gerichtet gewesen wäre. Und wenn ich von philologischer Interpretation gesprochen habe, so giebt es auch dabei sofort eine Vorstellung, der ich wehren muß. Meine Ausdrucksweise könnte für meine exegetischen Vorlesungen das Praedicat von Musterleistungen grammatischer Interpretation zu beanspruchen scheinen. Sie sind dies vielmehr ganz und gar nicht gewesen, und dies sehr begreiflicher Weise nicht. Denn ganz abgesehen davon, daß sie so beschaffen außerhalb meines Berufs gestanden und eine Vorbildung vorausgesetzt hätten, die ich nicht besaß, konnte mir selbst gar nicht in den Sinn kommen, ihnen in diesem Sinne nachzuhelfen. Denn so sehr ich mir bewußt war, daß sie der »Nachhülfe« bedurften, am wenigsten war ich der Meinung, daß ihnen diese Nachhülfe durch eine möglichst stattliche Ausstattung mit grammatischer Kunst und Gelehrsamkeit durch mich zutheil werden könne. Am Unerläßlichen es nur nicht allzu empfindlich[121] fehlen zu lassen, darauf allein konnte sich verständiger Weise mein Bestreben dabei richten, mir die Mittel zu etwas mehrerem zu verschaffen verhieß mir nicht die geringste Genugthuung, am wenigsten das Bewußtsein der Erfüllung meiner Aufgabe näher zu kommen.

Quelle:
Overbeck, Franz: Selbstbekenntnisse. Frankfurt a.M. 1966, S. 114-122.
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