Tischgebet. Moderne Ritterdienste. Nötigen. Ein- und Zugießen von Wien.

[245] Das Tischgebet, werden Viele sagen, ist keine Etikettenfrage, sondern Herzenssache eines frommen gläubigen Menschen. Dieser Einwand läßt sich wohl hören, wenn es sich um das Tischgebet am Familientische handelt. Im Allgemeinen aber soll man keine Scheidewand ziehen zwischen Etikette und zwischen wahrem, innerem Taktgefühl, dem Takt des Herzens. Die Etikettenregeln sind entschieden die besten, die sich vor dem Herzen und dem Verstande des Menschen, dem sogenannten gesunden Menschenverstand, rechtfertigen und begründen lassen. Jedenfalls kann man es wohl als eine Etikettenfrage betrachten, ob bei feierlichen Diners[245] ein frommer Gastgeber dem Drange seines Herzens folgen soll, das Tischgebet laut vor seinen Gästen zu verrichten. Um hier in jedem einzelnen Falle mit einem kurzen Ja oder Nein gerecht zu urteilen, müßte man die wahren inneren Beweggründe kennen, aus denen Jemand als Gastgeber laut und offen vor seinen Gästen das Tischgebet verrichtet oder dies unterläßt. Ein Schwächling wäre der, der sonst immer das Tischgebet laut verrichtet, aber sich vor Gästen genirt, seine Frömmigkeit laut zu bekennen. Noch unangenehmer aber wirkt auf gerade Menschen ein scheinbares Prahlen mit Frömmigkeit, ein aufdringliches Zurschautragen derselben. Wer das Bedürfnis hat, vor Tisch zu beten, kann in Gegenwart von Gästen sein Tischgebet ja auch leise verrichten. Weshalb soll der Gastgeber auf die Gläubiggesinnten unter seinen Gästen den Druck ausüben, ihre frommen Gedanken bei Beginn der Tafel in den engen Rahmen eines bestimmten lauten Gebetes zu zwingen! Mehrere der üblichen Tischgebete enthalten die Worte »tägliches Brot«; darunter nun alle Leckereien zu verstehen, die man bei einem feierlichen Diner mehr oder minder vorgesetzt bekommt, das wird der Phantasie selbst[246] eines sehr frommen Menschen manchmal widerstreben. Eine bekannte harmlose Anekdote, deren Wiedergabe wohl nur Frömmler tadeln dürften, ist es, daß Jemand bei einem besonders guten Diner, das er sich oft wieder wünschte, meinte, heute müsse man eigentlich beten: »Unser heutiges Brot gieb uns täglich!« Wie gesagt, es ist schwer, bei diesem heiklen Thema ein bestimmtes Urteil zu fällen; durch mein Für und Wider möchte ich nur meine Ansicht begründen: Es kann Jemand ein religiös gewissenhafter Mensch sein und auch in diesem Falle ein Gegner lauter Tischgebete bei feierlichen Diners sein. Wer ein solches Diner als ein Attentat auf die Gesundheit des menschlichen Magens betrachtet und deshalb einen besonderen Anlaß zum Gebet zu haben glaubt, auch der kann ja in stiller Weise diesem seinem Drange folgen.

Wenn man sich in einem vornehmen Hause zur Tafel niedersetzt, ist es Sitte, den Damen beim Untersetzen des Stuhles behilflich zu sein. Wenn die Gastgeber über Diener verfügen, so sind in einem besonders vornehmen Hause die Diener instruirt, den ersten unter den zu Gast geladenen Damen diesen Dienst zu erweisen. Bei[247] einer großen Dienerschar werden manchmal auch ältere oder besonders zu ehrende Herren unter den Gästen mit dieser Hilfeleistung bedacht. Dies Unterschieben des Stuhles hat natürlich geräuschlos und langsam vor sich zu gehen. In den ersten Gesellschaftskreisen gilt es als eine ritterliche Aufmerksamkeit, wenn der Herr seiner Tischdame diesen Dienst erweist und ihr beim Niedersetzen durch Unterschieben des Stuhles behilflich ist, falls kein Diener hierzu angewiesen ist. Wer ungewandt ist, unterlasse lieber einen derartigen Ritterdienst, sintemalen dieser dann auf den Charakter einer Hilfeleistung nicht mehr Anspruch hat, wenn die Dame zu einer unfreiwilligen Kniebeuge verleitet wird oder gar eine Etage tiefer, auf den Fußboden, zu sitzen kommt.

Ueber Benehmen bei Tisch überhaupt, speziell wie man als Formenmensch ißt, sprach ich in meinen ersten Plaudereien. Man soll in seinem Benehmen keinen Unterschied machen, ob man nun allein in einem stillen Kämmerlein sein Mittagbrot verzehrt, oder ob man als Teilnehmer an einem feierlichen Diner, als Wirt oder Gast schmaust: nur dann werden Einem gute Manieren zur zweiten Natur werden und[248] den Eindruck des Selbstverständlichen machen. »Heute derf m'r nicht mit'm Messer in den Mund fahren oder mit der Gabel in den Zähnen stochern, denn heute sind Gäste da« – eine also begründete Anstandslehre verrät herzlich wenig Verständnis für den Zweck und den ästhetischen Wert natürlicher guter Formen. Auch Kindern sollte man nicht sagen: »Eßt heute manierlich, denn heute sind Gäste da!« Kinder sollen sich imm er bemühen, appetitlich und sauber zu essen, ihrer selbst wegen und ihrer nächsten Angehörigen, ihrer täglichen Umgebung wegen. Dadurch beugt man für spätere Jahre am besten der unliebsamen Kritik vor: »Der oder Die hat keine Kinderstube gehabt.« Es giebt Eltern, die gerade in Gegenwart von Fremden an ihren Kindern herumtadeln; manche glauben sich selbst und ihre Kinder in ein günstiges Licht zu setzen durch Redensarten wie: »Sonst seid Ihr immer so artig, und gerade heute, wo Besuch da ist, seid Ihr ungezogen.« – Ja, das ist dann eben für den Besuch ein sonderbares Pech, so sonderbar, daß der Besuch geneigt ist, an der Wahrheit solcher elterlichen Worte zu zweifeln.

Wie beim Niedersetzen zur Tafel, so wird[249] während des ganzen Diners der Gentleman sich bemühen, seinen Nachbarinnen, besonders seiner ihm gewöhnlich zur Rechten sitzenden Tischdame, die üblichen Aufmerksamkeiten zu erweisen; im löblichen Eifer, möglichst zuvorkommend zu sein, muß man sich natürlich davor hüten, lästig zu fallen. Damen zum Trinken zu animiren, namentlich Damen, mit denen man nicht näher bekannt ist, gilt im Allgemeinen in den ersten Gesellschaftskreisen für unfein. Ueberhaupt ist es entschieden vornehmer, jedes Nötigen zu Speise und Trank thunlichst zu unterlassen, auch seitens der Gastgeber. Sich als Gast zu geniren, ist veraltet. Man betrachtet es heutzutage als ganz selbstverständlich, daß die Wirte ihren Gästen die dargebotenen materiellen Genüsse gönnen und sich freuen, wenn den Gästen Alles mundet. Das sogenannte Nötigen aber ist auch vom gesundheitlichen Standpunkt aus zu verurteilen, es kann zur Folge haben, daß Gäste aus lauter Verlegenheit oder aus falscher, thörichter Höflichkeit mehr essen und trinken, als es ihrem eigentlichen Willen und ihrem Behagen entspricht. Redensarten der Gastgeber wie »Es schmeckt Ihnen wohl nicht« oder »Sie können doch noch nicht satt sein«,[250] diese etwas trivialen Redensarten sollen liebenswürdige Besorgnis ausdrücken, sind aber vielen Menschenkindern höchst lästig. Wenn man es dazu hat und sich Gäste einladet, ist es selbstverständlich, daß man seinen Gästen auch gestattet, von Speise und Trank, solange es ihnen beliebt, zuzulangen; es ist kleinlich und spießerlich, als Gastgeber dies durch Redensarten immer noch zu betonen und so viel Wesens damit zu machen, ob und wieviel die Gäste essen und trinken. Ich kannte einen Gastgeber, der der Sitte des Nötigens entgegenarbeitete, indem er sich nicht genirte, einem Gaste zu sagen: »Der Wein oder dies Gericht ist etwas schwer, es könnte Ihnen schaden, wenn Sie zuviel davon genießen«. Solche Worte sind noch lange kein Beweis einer mangelnden Freigebigkeit des Gastgebers, sie können im Ernst und gut, im Interesse der Gesundheit des Gastes, gemeint sein. Gäste, die so altmodisch sind, auf ein Nötigen zu warten, und nicht gerade dem Hungertode nahe, sondern scheinbar in gutem Futterzustande sind, kann man als Wirt am erfolgreichsten von ihrer Zimperlichkeit kuriren, wenn man sie darben läßt. Das ist für den Gast gesund und für[251] den Gastgeber billig! In Wirklichkeit wird man diese grausame Heilmethode allerdings nur selten anwenden!

Beim Herumreichen und Weitergeben von Speisen durch die Gäste selbst, hat man als Herr darauf zu achten, daß man seiner Dame das Zulangen bequem macht, ihr die betreffende Schüssel dicht an ihren Teller heranhält, aber erst dann präsentirt, wenn die Dame bereit ist, zu nehmen und z.B. nicht schon eine zweite Kompottschüssel hastig darreicht, während sie noch von der ersten Schüssel zulangt. Nur seiner rechten Nachbarin wird man während des Zulangens eine Schüssel halten können, da die links sitzende Dame ja von einer ihr von rechts her präsentirten Schüssel nur schlecht nehmen könnte; eine besonders gewandte Dame, die den Herrn auf ein solch' kleines Versehen nicht aufmerksam machen will, wird in einem solchen Fall einfach dennoch zulangen, so geschickt oder ungeschickt sie dies eben bewerkstelligen kann. Will sie sich dieser Unbequemlichkeit nicht unterziehen, – und keine Dame, wenigstens auf Gesellschaften, muß wollen – dann nimmt sie eben dem Herrn die Schüssel oder Schale usw. ab und bringt selbst die[252] Schüssel in eine fürs Zulangen bequeme Lage zu ihrem Teller.

Gewöhnlich hat man bei Diners außer Gläsern für besondere Weine, für leichten weißen und roten Tischwein einfachere Gläser, und zwar für den Weißwein grüne und für den Rotwein weiße Gläser. Man achte als Herr darauf, seiner Tischdame zuerst und dann sich selbst den betreffenden Tischwein in das richtige Glas zu gießen. Roter Wein in grünem Glase beleidigt das Auge eines Menschen mit Schönheitssinn. Gewöhnlich hat man den Tischwein in besondere geschliffene Karaffen umgefüllt, man gießt also dann seiner Dame ein, ohne sich vorher die ersten Tropfen ins eigene Glas gegossen zu haben. Beachtenswert ist es, daß man die Gläser stets nur mäßig voll gießt und lieber dafür öfter eingießt. Der Wein hält sich in der Flasche frischer. Auch die Rücksicht auf einen eventuellen Tatterich verbietet ein Eingießen bis an den Rand oder auch schon bis nahe an den Rand des Glases. Beim direkten Eingießen aus einer eigentlichen Weinflasche ist es bekanntlich Sitte, ein etwas umständliches Verfahren zu beobachten. Man gießt sich da die ersten Tropfen zunächst ins eigene Glas,[253] füllt dann das Glas seiner Tischdame oder seines Zechkumpans – außer bei Diners kann man ja, dem Himmel sei's gedankt, auch noch wo anders Wein trinken – und gießt sich dann, als dritten und letzten Teil dieser etwas schwülstigen Manipulation, erst sein eigenes Glas voll, d.h. nie happig voll, sondern stets auch beim eigenen Glase, wie schon gesagt, einen breiten Rand lassen! Man begründet diese Umständlichkeit damit, daß oben in der Flasche Teilchen vom Korken oder vom Siegellack schwimmen können, die man aus Nächstenliebe lieber sich selbst einverleibt. Auch sind manche Weine, wie z.B. südländische Weine – so der herrliche italienische Orviëto, wer zufällig mal zwischen Florenz und Rom einhersaust, der mache in Orviëto Station, – zwecks besserer Konservirung oben mit einem geringen Oelaufguß versehen, dessen nachbarliche Nähe vielleicht die Weinzunge des Zechers verspüren könnte, der den obersten, diesem Oelaufguß zunächst befindlichen Teil des Weines ins Glas bekommt. Diesen aufopfernden menschenfreundlichen Zweck, nicht zur Sache, nämlich nicht zum Wein gehörende Bestandteile, wie Korken, Siegellack, Oel, lieber selbst[254] zu verschlingen, diesen Zweck würde man allerdings noch sicherer erreichen, wenn man zuerst das eigene Glas füllte und dann dem lieben Nächsten eingösse. Ich erlaube mir somit, dies Verfahren als das zweckentsprechendste und einfachste einer wohlwollenden Beachtung und Nacheiferung – ich schenke nie anders ein – ergebenst zu empfehlen. Dieser Vorschlag ist jedenfalls leichter zu beachten, als die Einführung meiner Ideal-Spargelteller, von denen ich in einer meiner letzten Plaudereien sprach. Es ist eine viel verbreitete Ansicht, man dürfe nicht zugießen, sondern ein Glas erst wieder füllen, wenn es ganz geleert ist. Man hat mir aber erzählt, im Lande des deutschen Weines, am Rhein und an der Mosel, gössen sowohl die formellsten Formenmenschen wie biedere Alltagsleute zu, und dort muß man das doch wissen! Außer diesem Autoritätsbeweis sprechen aber noch zwei Umstände für das Zugießen in ein noch nicht geleertes Glas. Der im Glase befindliche Rest kann ja für einen Schluck zu gering sein und die Mühe des Glasansetzens und Trinkens nicht lohnen. Beim Zugießen von Wein kann man den lieben Nächsten auf seinen Weinverbrauch hin schwer kontrolliren,[255] und mancher Bacchusjünger fühlt sich in solch unerkanntem Zustande wohliger und sicherer. Wer der Sitte des Zugießens huldigt, setzt sich allerdings leichter der Gefahr aus, zu viel zu trinken; und auf diese Weise kann man vielleicht auch den Aberglauben erklären oder vielmehr den Glauben als richtig begründen: »Wenn man zugegossenen Wein trinkt, bekommt man die Gicht!«[256]

Quelle:
Pilati, Eustachius Graf von Thassul zu Daxberg: Etikette-Plaudereien. Berlin 3[1907], S. 245-257.
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