Serviette. Besteck und Service. Rauchfrage. Andere Höflichkeitsrücksichten im Restaurant.

[371] Im Anschluß an mein Servietten-Thema der letzten Plauderei möchte ich Interessenten auch mein Spezial-Geheimmittel verraten, um das Herabfallen der über die Knie gebreiteten Serviette zu verhindern. Ob dies Mittel geschmackvoll ist, darüber sind andere vielleicht anderer Ansicht; als durchaus praktisch habe ich diese meine unpatentierte Erfindung erprobt. Ich stecke einen Serviettenzipfel während des Essens in eine Westentasche. Einmal passierte es mir allerdings, daß ich mit einer also befestigten kleinen Serviette, über welcher ich den Ueberrock zugeknöpft hatte, aus einem Restaurant von dannen zog. Aber zerstreut soll oder braucht man ja nicht unbedingt zu sein. Eine[371] nähere Veranlassung zu diesen Zeilen gibt mir der Umstand, daß ich jüngst an der Table d'hote neben einem älteren vornehmen Herrn saß, der seine lose über die Knie gelegte Serviette tatsächlich dreimal herunterfallen ließ.

Besondere Fischmesser hat man nur in wenigen Hotels und Restaurationen allerersten Ranges. Wirte, die darauf Wert legen, ihrem Lokal einen vornehmen Anstrich zu geben, werden in Ermanglung von Fischmessern dann aber zum Fisch den Gästen als Besteck zwei Gabeln servieren; denn Fisch mit zwei Gabeln zu essen gilt nicht nur als vornehm, sondern ist in der Tat praktisch. Eine der Etikette unkundige Unschuld vom Lande oder aus der Kleinstadt, die sich über eine solche zweite Gabel alteriert, könnte vielleicht durch die Auskunft beruhigt werden, daß die zweite Gabel »nur zum Zähnestochern« hingelegt worden sei.

Schauderhaft sind in vielen Lokalen die winzig kleinen Kompott-Teller. Was vorhanden ist, muß in einer sparsamen Wirtschaft natürlich verbraucht werden; aber wenn ungeschickte Küchenseen Puppen-Servicestücke zerschlagen, sollte man sie – nicht die Küchenseen, sondern die Servicestücke – durch solche größeren Formates allmählich[372] ersetzen. Ein Witzblatt, ich glaube die »Fliegenden Blätter«, schilderte einst in Bild und Wort das Verfahren eines Wirtes, der die bestellten Portionen dadurch glaubte groß erscheinen zu lassen, daß er sie durch einen ungewöhnlich kleinen Pikkolo auftragen ließ. Ich fand die Anekdote schon durch das Bild gut, obwohl sie kaum dem wirklichen Leben entnommen ist. Auf den Hintergedanken aber, daß der Wirt betreffs der verabreichten Speisen die Wahnvorstellung eines größeren Quantums erregen wolle, kann man zuweilen kommen, wenn Speisen auf winzig kleinen Tellern serviert werden.

Es kommt vor, aber sollte nie und nimmer vorkommen, daß in einem öffentlichen Lokal ein Gast mit dem ihm gerade eine Schüssel präsentierenden Kellner Zwiesprache hält, und daß hierbei Gast und Kellner über die Schüssel geneigt sprechen. Es ist doch vielen schon unangenehm, wenn ein Gericht, von dem sie später auch zulangen wollen, vom bloßen Atem eines andern berührt wird. Noch gerechtfertigter ist ein solches Gefühl des Unbehagens, sobald ein solcher Anderer beim Sprechen jene schreckliche Gewohnheit hat, die man in Schlesien bei[373] Säuglingen mit dem klangvollen Namen »Sabbern« bezeichnet. Wie als Gast eines Privathauses und auch – schon der Uebung wegen – allein im trauten Heim, so soll man auch in öffentlichen Lokalen als Gast jedes laute Schmatzen beim Essen, lautes Hantieren mit Teller und Besteck, jedes Klirren des Porzellans, schrilles Kratzen des Bestecks auf dem Porzellan beim Schneiden sorgfältigst vermeiden. Außer durch scharf geschliffene Messer läßt sich dem leicht vorbeugen durch vorsichtiges langsames Schneiden und ganz besonders dadurch, daß man die Messerschneide in schräger Richtung beim Schneiden hält und nicht senkrecht zum Teller mit heftigem Druck das Fleisch durchschneidet. Wenn man selbst von einem Gericht zulangt, so soll man sich, wie schon früher erwähnt, bekanntlich nicht mehr nehmen, als man sicher ist auch vertilgen zu können; denn es gilt im allgemeinen für etikettewidrig, Speisereste auf dem Teller liegen zu lassen. Die Etikettenpflicht des Aufessens fällt dann entschieden fort, wenn man z.B. in einem öffentlichen Lokal das Gericht gleich auf dem Eßteller vorgesetzt bekommt. Durchaus logisch ist die viel verbreitete Ansicht, daß man auch als Gast[374] in einer Familie einen großen Teller Suppe nicht zu leeren braucht, da man sich ja das große Quantum Suppe nicht selbst genommen hat.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich folgendes erwähnen: Auch jene Gastgeber, die, wie der Schlesier sagt, »es gerne geben,« tun gut, ihre Freigebigkeit bei der Suppe zu zügeln. Es ist eine ungesunde, unnatürliche Gastlichkeit, seine Gäste verleiten zu wollen, von irgend einem Gericht mehr, als ihnen dies behaglich ist, zu essen. Namentlich vom usuellen ersten Gericht des Mittagsmahles, von der Suppe, sind viele gewohnt, nur wenig zu essen. Andere lassen dies Gericht der vorhandenen oder ersehnten schlanken Taille wegen oder aus anderen Gründen auch ganz fortfallen. Es ist deshalb schicklicher und sachgemäßer, seinen Gästen den Suppenteller nur mäßig füllen zu lassen und lieber, namentlich in einem kleinen vertrauten Kreise, nachher zu fragen, wer von den Gästen noch einen zweiten Teller Suppe zu haben wünscht. Ein sehr scharfzüngiger Gesellschaftsmensch äußerte mir gegenüber, im allzuvollen Suppenteller zeige sich die Sparsamkeit der Hausfrau, die es erstrebe, daß man nach einem[375] großen Quantum Suppe dann von den übrigen teureren Gerichten nicht mehr viel zu sich nehmen könne. Es dürfte wohl eine Ausnahme sein, wenn ein solcher Verdacht einmal nicht ausschließlich boshaft, sondern auch nebenbei zutreffend sein sollte.

Viele Menschen belästigt es bekanntlich, wenn, während sie essen, in ihrer Nähe geraucht wird. Es ist deshalb im allgemeinen Sitte, daß der Rauchlustige in einem öffentlichen Lokal Gäste, die an demselben Tisch sitzen und essen, vorher fragt, ob sie sein Rauchen stören würde. Wer noch höflicher sein will, wird unter Umständen während dieser Zeit das Rauchen unterlassen, beziehungsweise, ohne eine Miene zu verziehen, das Rauchen einstellen und seine bereits brennende Zigarre fortlegen, wenn er sich eben besonders zuvorkommend benehmen will oder von seinen Tischgenossen annehmen kann, daß sie vielleicht nur aus Liebenswürdigkeit gegen sein Rauchen keinen Einspruch erheben, aber in Wirklichkeit sich dadurch doch belästigt fühlen. Ich fand oft, daß gerade – nach ihrem Aeußern zu urteilen – einfache Leute sehr zartfühlend und viel zu gutmütig sind, um durch Verneinung der üblichen Anfrage »Stört[376] es, wenn ich rauche?« nicht den Fragesteller für seine Höflichkeit zu belohnen. Die Frage der Rauchbelästigung ist keine eigentliche Frage, auf die man ein Ja oder ein Nein er wartet, sondern in Wahrheit nur eine höfliche Ankündigung, daß man eben jetzt rauchen werde. Etwas stumpfsinnig in Befolgung des Schemas »F« der Höflichkeitsregeln finde ich es. wenn jemand die Rauchfrage auch in einem übervollen öffentlichen Bierlokal stellt, wo der kondensierte Dunst durch eine einzige weitere Zigarre augenscheinlich nicht mehr verstärkt werden kann.

Ich habe erzählen hören, daß in manchen Gegenden bei Bauernhochzeiten immer schon mittendurch zwischen den einzelnen Gerichten des Hochzeitsmahles geraucht würde. Einen Fall aus meinem Leben kann ich berichten, wo zwei Offiziere absolut keine Taktlosigkeit dadurch begingen, daß sie ebenfalls während eines Hochzeitsmahles zu rauchen anfingen. Ich habe schon öfter und mit Vorliebe in meinen Plaudereien Fälle angeführt, in denen es besondere Umstände als taktvoll erscheinen ließen, gegen den sogenannten guten Ton, gegen diese oder jene Anstandsregel oder vornehme Sitte zu verstoßen. Als junger Artillerieleutnant war ich[377] zugleich mit meinem Hauptmann und Batteriechef zur Hochzeit unseres Wachtmeisters eingeladen. Wir wurden besonders geehrt und saßen nebeneinander dem Brautpaar gegenüber. Nach dem Fisch präsentierte plötzlich ein Kellner meinem Batteriechef Zigarren; er rauchte sich eine solche, ohne eine Miene zu verziehen, an und sagte zu mir leise: »Ich habe zwar noch nie während eines Hochzeitsessens geraucht, aber wenn man uns Zigarren präsentiert, so wird das wohl eben hier so Sitte sein, und unsere Hauptpflicht ist, die Gemütlichkeit nicht zu stören.« Ich folgte dem gutgemeinten und vom Standpunkt »Takt des Herzens« auch tatsächlich guten Beispiel meines Hauptmanns, und wir pafften los. Ich merkte bald, daß dieser Vorgang den jungen Ehemann, unseren Wachtmeister, beunruhigte; auch waren die andern Hochzeitsgäste, meist Unteroffiziere der Batterie, seiner als wir beide und lehnten das Anerbieten des Kellners, der ihnen nach uns ebenfalls Zigarren präsentierte, dankend ab. Der Wachtmeister meldete darauf mit fast dienstlicher Miene: »Verzeihen, Herr Hauptmann, das ist ein Irrtum vom Kellner.« Das Bewußtsein, es gut gemeint zu haben mit unserem Rauchen,[378] entschädigte uns vollauf für den kleinen sogenannten Reinfall. Bekannt ist der Kalauer, durch den man das Schematische der höflichen Rauchfrage etwas ins Lächerliche ziehen will, wenn man statt der Frage: »Gestatten Sie, daß ich rauche?« mit gnädiger Miene seinem Nachbar erklärt: »Sie dürfen ruhig weiter essen, wenn ich auch rauche!«

Ich erlebte es bei einem Sonntagsausfluge, daß eine größere Gesellschaft in einem Lokal anfing Lieder zu singen, und daß verschiedene andere Gäste darüber unwillig wurden, obwohl nicht geschrieen, sondern tatsächlich recht nett gesungen wurde. Jene unwilligen Gäste hatten entschieden nur gewünscht, daß man sie vor Beginn des Gesanges um Erlaubnis gefragt hätte; und das wäre vom Standpunkt der Höflichkeit auch das entschieden richtige gewesen. Zum mindesten hätte sich der Leiter jenes improvisierten Gesangskonzerts durch die höflichen, an die übrigen Gäste gerichteten Worte »Wir bitten einige Lieder singen zu dürfen« nichts von seinem Mannesstolz vergeben. Erfolgt wider Erwarten auf eine solche höfliche Bitte eine unfreundliche Antwort, so ist damit auch noch nicht unbedingt Veranlassung zu einer oberbayerischen[379] Rauferei, weder in Taten noch in Worten, gegeben; sondern der Wirt entscheidet dann einfach, ob gesungen wird oder ob nicht, und die »bösen Menschen, die keine Lieder kennen« oder wenigstens nicht hören wollen, können ja eventuell einen ruhigen und geordneten Rückzug antreten.

Namentlich an kleinen Orten findet man in vielen Lokalen Phonographen oder Musik-Automaten, die manchem schon etwas überdrüssig geworden sind. Wer sich an diesen Tönen ergötzen will und das Bestreben hat, möglichst artig und zuvorkommend gegen den lieben Nächsten zu sein, wird zum mindesten gerade die dem Automaten zunächst sitzenden Gäste, die sich vielleicht lieber unterhalten würden, fragen, ob ihnen ein solcher musikalischer Ohrenschmaus nicht unangenehm ist.

Die gesellschaftliche Tugend möglichster Geräuschlosigkeit, über die ich mich schon öfters ausgelassen habe, soll man namentlich in öffentlichen Lokalen bei Begrüßung und in der Unterhaltung mit Bekannten ausüben. Das laute Titulieren, zumal im Verhältnis zum betreffenden eignen Ich hochstehender Personen, z.B. permanente Satzbildungen »Haben Exzellenz[380] schon usw.« – »Sind Exzellenz auch usw.« erweckt den Verdacht, als wolle man mit illüstrer Bekanntschaft renommieren. Ein Zeichen inneren Taktes ist es, herauszufühlen, wer von Bekannten in öffentlichen Lokalen begrüßt sein will, und ob dies durch eine stumme Verbeugung oder durch Worte zu geschehen hat. Eine gesellschaftliche Kunst, die in das Gebiet diplomatischer Etikette hinüberspielt, ist es, Bekannte sehen zu können, ohne sie so scharf und interessiert ins Auge zu fassen, daß man sie anstandshalber auch begrüßen muß. Die Etikette soll unseren äußeren Verkehr mit einander formell veredeln und verschönen, aber die Etikette soll keine freiheitsraubende Kette sein. Wenn A. den B. in einem öffentlichen Lokal antrifft und entweder selbst gerade seine Gesellschaft nicht haben möchte, oder wenn er die Möglichkeit annehmen kann, B. seinerseits würde momentan lieber auf eine Unterhaltung mit ihm verzichten, so wird er ihn am praktischsten nur durch eine stumme Verbeugung oder vielleicht auch gar nicht begrüßen, anstatt ihn durch phrasenhaften Begrüßungs-Wortschwall zu belästigen und ihn und sich selbst, obwohl mit innerem Widerstreben, zu einer Unterhaltung[381] »anstandshalber« zu zwingen. Verständige Menschen sollten viel zu stolz sein, um es übel zu nehmen, wenn sie einmal überhaupt nicht oder ohne die gewohnheitsmäßigen Redewendungen, sondern nur stumm begrüßt werden. Und für letzteres Verfahren kann es doch auch triftige Gründe geben; solche wird man annehmen, wenn man nicht von der pedantischen und unbequemen Leidenschaft erfüllt ist, sich gern verletzt zu fühlen, und andererseits, wenn man lieber zu milde als zu hart von seinem Nächsten urteilt.

Ein lautes Rufen nach dem Kellner in öffentlichen Lokalen, oder mehrfaches Klingeln oder geräuschvolles Klopfen an Glas oder Porzellan ist gewiß manchmal für das andere Publikum sehr lästig, aber es ist doch oft das einzige Mittel, um unaufmerksame Kellner, die ihre Gäste nicht im Auge behalten, empor aus holden Träumen zu rütteln. Solche geräuschvollen Winke seitens eines Gastes sind natürlich dann als störende Nervosität oder Radaulust zu verdammen, wenn gut geschulte Kellner auch auf den bloßen stummen Wink der Gäste reagieren, wie dies in unseren ersten vornehmsten Lokalen wohl durchgängig der Fall ist.[382]

Eine Untugend bemerkte ich hin und wieder an Kellnern, ein zu leises oder undeutliches Sprechen. Manche haben sich die Sprechweise angewöhnt und das süß-verbindliche Wesen, verbunden mit untertänigem Augenaufschlag, wie man solches bei Lehrlingen in kleinstädtischen Kaufläden oft beobachten kann. Solcher Sprechweise haftet die unverkennbare und löbliche Absicht an, besonders gefällig und verbindlich sein zu wollen. Schöner aber und bequemer für Gäste und Kellner ist eine natürliche und deutliche Sprache der letzteren. Es ist höchst lästig für den Gast, immer »Wie?« fragen zu müssen. Natürlicher Anstand ist immer vornehmer als unnatürliche Feinheit.[383]

Quelle:
Pilati, Eustachius Graf von Thassul zu Daxberg: Etikette-Plaudereien. Berlin 3[1907], S. 371-384.
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