Die Schule der Gesellschaft

Die Schule der Gesellschaft

[18] Ein wirklicher Meister hat Routine. Anlagen und Talente können sich entwickeln – aber sie bedürfen zu ihrer Vollendung einer Mätresse – die »Routine« heißt.

Man ist leicht geneigt, dieses Wort falsch auszulegen und den »Routinier« als etwas Verächtliches hinzustellen. Das ist unrecht. Routine – anders übersetzt, bedeutet: die in die Praxis übertragene Erfahrung.

Wenn ich zum erstenmal etwas erlebe, wird mein vielleicht sehr starkes Gefühl durch eine Art Unbeholfenheit, die ich zu verbergen suche – beeinträchtigt. Wenn sich eine ähnliche Situation wiederholt, werde ich mich der Sache selbst mehr widmen können, nicht Angst haben müssen, mich falsch oder ungeschickt zu benehmen, und allmählich so zur Virtuosin auf den schwierigsten und verschiedensten Gebieten werden.

Man darf auch Blasiertheit nicht mit Routine verwechseln! Eine blasierte Frau ist meistens reizlos, eine routinierte Frau, deren Empfindungen ebenso stark und aufrichtig wie die einer Achtzehnjährigen sein sollen, kennt Steigerungen, sie paßt sich dem jeweiligen Augenblick feinfühligst an und verschwendet – wenn es darauf ankommt – im vollsten Maße.

Wo Routine und Gefühl Hand in Hand gehen, sind Ratschläge überholt! Aber durch Lesen und Hören, durch Reden und Denken kommt man nicht soweit – es gibt nur eine Lehrmeisterin, die ihres Amtes mit unerhörter Härte und wenigen Anerkennungen waltet, aber sie ist die beste und nicht zu schlagende und nennt sich: Die Schule der Gesellschaft!
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Die Schule der Gesellschaft

Quelle:
Reznicek, Paula von: Auferstehung der Dame. Stuttgart 7[o.J.], S. 18-20.
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