»Erst Manieren – dann Moralen« –

[97] Der gute Oskar Wilde hat goldrecht! Das Moralische eines Menschen geht mich zunächst gar nichts an. Aber seine Manierlosigkeit kann zur Last fallen, unerträglich, irritierend und unheilvoller wirken, als irgend jemand mit einem sogenannten »schlechten Charakter«, der verborgen im Innern blüht.

Ich will mit Leuten zusammen sein, bei denen ich mich nicht über jedes Wort ärgere, die nicht durch geschmacklose Kleidung auffallen, die nicht mit Zeigefingern wie mit Fernstechern arbeiten, die mit Gabel und Messer nicht wie mit Zahnarztinstrumenten umgehen, und die ihr Sprechorgan nicht so laut hantieren, als sei es ein Megaphon beim Sechs-Tage-Rennen.

Ich finde es widerlich, wenn sich Fräulein X ungeniert vor der vierzigjährigen Frau L. durch die Türe drängt, wenn der grasgrüne niedliche Backfisch der sechzigjährigen Gattin eines Diplomaten ein scharfes »shakehand« absolviert, anstatt sich galant über die Hand zu beugen, unmöglich, wenn der Ehemann oder Begleiter immer auf der rechten Seite der Dame spaziert (ausgenommen an der Fahrdammseite, wo dies als Schutz gelten kann), kompromittierend, wenn sich Verheiratete oder sonst Befreundete vor anderen moralische Ohrfeigen geben, um von sonstigen Agressivitäten ganz zu schweigen. »Schmutzige Wäsche vor anderen Leuten waschen«, heißt unerzogen sein. Es gibt viel mehr unerzogene Menschen, als man wünscht, aber wahrscheinlich viel moralischere, als man ahnt, was wir aber gar nicht wissen wollen.

Denken Sie immer wieder daran – keine Manierlosigkeiten! Es ist mit der »guten Kinderstube« wie mit den Pocken – wer sie einmal durchgemacht hat, ist gezeichnet. Die »Gezeichneten« sind die Lieblinge der Welt – ihnen stehen die Tore offen, sie werden Karriere machen. Lieber einen Handkuß zuviel als einen Blumenstrauß zu wenig, verschwenden Sie Ihre Liebenswürdigkeiten – in anderen Dingen dürfen Sie dann entsprechend geiziger sein ...[97]


»Erst Manieren - dann Moralen« -

Quelle:
Reznicek, Paula von: Auferstehung der Dame. Stuttgart 7[o.J.], S. 97-98.
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