Das Naturalienkabinett

[84] Ob es gleich nach Mitternacht war, so wurde doch noch Tee gemacht und dabei das Abenteuer besprochen. Erst gegen zwei Uhr des Morgens brachte mich das Mädchen zu Bette. Kaum eine Stunde lang mocht ich geschlafen haben, als mich das heftigste Bauchgrimmen aus dem Bette trieb. Ich tappte im Zimmer herum, suchte und suchte, aber – o Himmel, das Nachtgeschirr war nirgends zu finden. Wie sollt ich mir helfen? Meine Bedrängnis wurde immer heftiger, und so ergriff ich in höchster Not meinen Stiefel und – machte ihn zu einem Naturalienkabinett.[84] Zufrieden legt ich mich wieder nieder und schlief ruhig ein.

Am Morgen hörte ich, hoch halb im Schlummer, ein Gespräch, dessen Inhalt etwa folgender war:


»Dei Jüngken is drill und niedlich,

Von buten ganz flügg und aptitlich,

Wat mag hei von binnen nik sien.

Oehm glustern die Ogen im Koppe

Als eben die Kücken im Toppe,

Oh, wenn hei doch wär mien!«


Darüber wurd ich völlig munter, worauf eine betagte Magd mich mit folgenden Worten anredete:

»Hei is mi die rechte Gast, dat mut ick säggen; wer Stöören heft ihm leert, wie man die Stiefeln schmiert? Dat hef ich nirgends sehn noch hört, wie gü guh Stiefeln schmiert. Ik kam ganz ut mi sülvst, als ick dat Kackhus uteleert! En Trinkgeld mir mit Recht gebührt; vor Ärger beevt mi alle Knocken, mit gühchen Stiefelmacken. Mein Jüngkchen, ick hev di nick beschämt, nur zu dem Trinkgeld sich bequemt!!!«

Ich ließ mich nicht lumpen, sondern gab ihr nach Vermögen unter der Bedingung, zu schweigen, aber sie hatte doch geplaudert, und dieses Vorfalls wegen nahmen mich fast alle Hausgenossen und Gäste zur Zielscheibe ihres Witzes, dem ich mich nicht anders zu entziehen wußte, als daß ich mich fast den ganzen Tag über vor dem Hause aufhielt und mich über die Vorübergehenden belustigte. Bald kamen eine Menge aufgeschürzter Weiber mit Körben auf den Köpfen, in schwarzer altenburgischer Tracht, roten Hasen (oder Strümpfen) und langen Zöpfen, wie die Tiroler, und riefen ihre Waren aus; andere wieder mit Schubkarren riefen: »Stint und Sturen!« oder: »Melk, Melk!« oder: »grote Bohn, litge Bohn! Bocksen und Hasen!« (Hosen und Strümpfe! oder der Hamburger Ausrufer.) Das war ein Laufen und Rennen von Juden und Christen von früh bis in die Nacht wie auf der Messe.[85]

Eben als die Hausmagd aus der Türe trat, kam eine Frau in einem Mantel und rief: »Will gi wat maken?« – »Hören Sie, die Frau ruft Sie«, sagte das Mädchen. – Ich glaubte, es wäre wahr, und ging auf die Frau zu. Eh ich mich's versah, schlug sie ihren Mantel um mich, unter welchem sie einen Eimer verborgen hatte, dessen Duft mir seine Anwendung verriet. Wie der Blitz wickelt ich mich aus dem Mantel heraus und sprang mit drei Sätzen in das Haus, wo das Mädchen eben der Frau Ipsen erzählte, wie sie mich angeführt hätte. Alle lachten, und ich lachte mit, als ich erfuhr, daß dergleichen Weiber und auch Männer expreß in Hamburg herumgingen, um für eine beliebige Abfindung Notdürftige auf freier Straße ihrer Bürde entledigen zu lassen.

War nun das Mädchen mit dieser gelungenen Rache zufrieden oder hatte sie die kleine Abfindungssumme beruhigt, die ich ihr früh aufgedrungen hatte, kurz, von diesem Augenblick an bis zu meinem Abgang war sie wieder so freundlich und dienstfertig gegen mich, daß sie mir meine Sachen willig von der Post holte.

In Hamburg macht ich zuerst die Bemerkung, daß die Lebensmittel in großen Städten ungleich wohlfeiler als in kleinen Städten sind, vermutlich weil die Zufuhr in denselben weit größer ist. Daß dagegen die allzustarke Bevölkerung die Mieten verteuern müsse, ist sehr begreiflich.

Quelle:
Sachse, Johann Christoph: Der deutsche Gil Blas oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers. Von ihm selbst verfasst, Berlin 1977, S. 84-86.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Der deutsche Gil Blas
Der deutsche Gil Blas oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers
Der deutsche Gil Blas. Eingeführt von Goethe. Oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers