Fernere Begebenheiten im Jahre 1782

[107] In der gewissen Zuversicht, daß mir es wegen eines Dienstes nicht bangen dürfte, reisete ich nur zwei Stunden weit, nämlich nach Hannover, wo ich wirklich sogleich einen neuen Dienst erhielt, welchen ich aber erst in drei Wochen antreten konnte. Um diese Zwischenzeit angenehm anzuwenden, nahm ich mir vor, eine Fußreise zu meinen Eltern zu machen und bei dieser Gelegenheit meine Pflegeeltern Bostels in Zarrentin mit zu besuchen. Ich nahm meinen Weg über Celle, Lüneburg und Artlenburg, wo ich mich über die Elbe setzen ließ.

Als ich nach Zarrentin kam, war ein anderer Besitzer vom Gute Bostels, welcher sich zu Tode gearbeitet hatte, und die Frau Bosteln lebte vom Altenteil, einer Abgabe, welche ihr der jetzige Gutsbesitzer zu ihrem Lebensunterhalte bezahlen mußte. Sie freute sich außerordentlich, mich noch einmal und noch darzu in einer so vorteilhaften Gestalt zu sehen, bewirtete mich aufs beste und bedaurte, daß ich nicht bis zum Tode ihres Mannes bei ihnen geblieben wäre, weil sie mir dann gewiß das Gut hätte zuschreiben lassen.

Ich antwortete, daß es doch nicht hätte sein sollen, ließ mir von ihr erzählen, wie es ihnen seit meiner Entfernung[107] gegangen wäre, und erhielt zur Antwort, daß sie seit dem Brand tüchtig gearbeitet hätten und da sie kaum ihr Haus eingerichtet, wäre ihr Mann gestorben und sie genötigt worden, die Wirtschaft aufzugeben. Ich setzte am Folgetage meinen Weg zu meinen Eltern über Seedorf fort und sprach bei dem Herrn Magister Schuricht ein, welcher mir große Ehre widerfahren ließ; beim Abschiede wiederholte er die Worte, welche er mir in meinem Testimonium erteilt hatte, standhaft bei der christlichen Religion zu bleiben, weshalb er mir die Gnade und den kräftigen Beistand Gottes von Herzen anwünschte.

Es war ihnen lieb, daß ich sie besuchte; aber sie tadelten mich, daß ich nicht bei meinem Herrn geblieben wäre: deshalb verweilt ich mich nicht lange bei ihnen, sondern ging zu meinem Bruder nach Dutzow, wo ich mir mit Jagen die Zeit vertrieb. Ich war kaum acht Tage daselbst, als mich ein neuer Unfall traf. Ich befand mich eben mit dem Jäger im Walde, als ich vorwitzig eine Axt ergriff, um mit einem der Holzhacker gemeinschaftlich einen Klotz zu spalten; zum Unglück hieb der Mensch zu weit vor und mir durch die rechte Hand, so, daß der kleine Finger mir nur noch an der Haut hing. Für Schrecken fiel ich in Ohnmacht, und die Leute wußten in der Angst kein anderes Mittel, als mir die Wunde mit Urin zu waschen, mich zu verbinden und zu meinem Bruder zu bringen, bei dem ich bis zu meiner Heilung blieb. Durch diesen Unfall, welcher einen steifen Finger zur Folge hatte, verlor ich nicht nur die Fähigkeit, fernerhin Musik (das Klavier) zu treiben, sondern auch den mir in Hannover ausgemachten Dienst, welchen man, während der Kur meiner Hand und Abwesenheit, einem andern gegeben hatte.

Jetzt sah ich fast keinen Ausweg vor mir, als zum Landleben zurückzukehren; aber dies hatte jetzt seine Reize für mich verloren, und der Bedientenstand war mir lieber geworden; die bisher gemachten unangenehmen Erfahrungen[108] schreckten mich nicht ab, denn ich dachte, es gebe ja doch auch noch Herrschaften, die ihre Dienerschaft menschlich behandelten.

Um meine Niedergeschlagenheit zu zerstreuen, schlug mir mein Bruder an einem trüben Tage vor, auf einem Kahne nach einer im Schaalsee liegenden Insel zu fahren und daselbst wilde Enteneier zu suchen, deren es im Schilf in Menge gab. Nachdem wir die Löcher des schadhaften Kahns mit Moos verstopft hatten, sprang ich hinein, mein Bruder band ihn vom Baume los und zog ihn eine Strecke am Ufer fort, um zu sehen, ob es gutgehen würde. Auf einmal strauchelte er und ließ das Seil fahren. Im Nu hatte der Wind ihn so weit vom Ufer abgetrieben, daß ich bei aller Anstrengung ihn nicht an das Ufer zurückrudern konnte. Die Tiefe des Wassers machte es meinem Bruder unmöglich, ohne sich der Gefahr des Ertrinkens auszusetzen, den Kahn wieder ans Ufer zu ziehen; ängstlich rannte er hin und her um ein Hülfsmittel, während immer mehr Wasser in den Kahn drang; schon stand ich bis über die Knie darin, als ich verzweiflungsvoll das Ruder von mir warf und meinen gewissen Untergang erwartete. Aber auch hier bewies mir Gott seinen Beistand, indem er einen fischenden Fischer, der mich von fern das Ruder hatte wegwerfen und die Hände ringen sehen, zu schneller Rettung auf seinem Kahn herbeiführte. »Unbesonnener Mensch«, rief er mir zu, »geschwind steig über! Wie konntest du dich in einem so morschen Kahn auf den See wagen? Danke Gott, daß ich dich noch zu rechter Zeit gewahr wurde, einige Augenblicke später warst du verloren.« – Als ich, ohne mich zu verantworten, in seinen Kahn übergeschritten war, band er den meinigen ins Schlepptau; aber die Heftigkeit des Windes, dem er entgegenrudern mußte, nötigte ihn, ihn wieder loszulassen, und so bracht er mich in seinem kleinen Nachen glücklich ans Land.

Not lehrt beten! In meiner Herzensangst hatt ich alle Gebete hergesagt, die auf meine gefährliche Lage Bezug[109] hatten, und den Beschluß machte der 121. Psalm: »Gott ist meine Hülfe«. Ich nahm die Warnungen des hülfreichen Fischers zu Herzen und schied unter Versicherungen der wärmsten Dankbarkeit von ihm.

Da ich meinem Vater in seinen Geschäften nicht an die Hand gehen konnte und zu Hause mancherlei Unannehmlichkeiten erfuhr, so beschloß ich, nach erfolgter Heilung, nach Hannover zurückzukehren. Meine Mutter brachte meine wenige mitgebrachte Wäsche in Ordnung, vermehrte sie mit einem Paar neuen Hemden und Strümpfen und wünschte mir mit meinem Vater Glück und Heil auf den Weg.

Quelle:
Sachse, Johann Christoph: Der deutsche Gil Blas oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers. Von ihm selbst verfasst, Berlin 1977, S. 107-110.
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Der deutsche Gil Blas oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers
Der deutsche Gil Blas. Eingeführt von Goethe. Oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers