Reise über Oschatz nach Dresden

[133] In Oschatz, wohin ich ging, traf ich kurfürstliche Wagen an und hatte das Vergnügen, daß man mich auf meine Bitte bis eine halbe Stunde vor Dresden mitnahm. Da hier die Wagen von dem Stallmeister rangiert wurden, so stieg ich ab und ging langsam nebenher. Auf einmal hieß es »Marsch«, und im Nu waren mir die Wagen aus dem Gesicht. Ich lief, was ich konnte, hintendrein, ohne sie einholen zu können, und hielt daher meine Sachen, die ich ohne Vorwissen des Kutschers auf dem Wagen gelassen, für verloren, um so mehr, da ich nicht gefragt hatte, von welcher Suite der Kutscher wäre. In später Abenddämmerung kam ich nach Dresden, lief und frug darin hin und her, bis an den Freiberger Schlag, wo ich im Gasthofe »Zum Palmbaum« abtrat. Hier frug ich nach der Wohnung des Dresdner Mannes, welcher mir in Leipzig Unterkommen zu Dresden zu verschaffen versprochen hatte. Niemand wollte diesen Mann kennen. Daß sich Gott erbarme, sagt ich seufzend zu mir, du hast den weiten Weg hieher gemacht und solltest von dem scheinbaren Biedermanne getäuscht worden sein? Das wär ja entsetzlich.

Während ich mein Abendessen voller Sorgen verzehrte, beobachtete mich der Wirt sehr scharf und frug mich endlich, woher ich wär und kam, ob und bei wem ich[133] gedient hätte etc. Ich beantwortete seine Fragen ganz aufrichtig, worauf er endlich lächelnd sagte: »Nun glaub ich's, daß Sie der Mann wirklich sind, den mir Ihr Freund empfohlen hat, welcher Ihnen hier eine Kondition verschaffen will. Verzeihen Sie mir, daß ich Sie nicht gleich berichtete; man muß vorsichtig sein, denn es gibt viele Landstreicher, die schon manchen ehrlichen Mann getäuscht und hinters Licht geführt haben! Erst neulich hat ein solcher Schuft meine Frau übers Ohr gehauen. Gedulden Sie sich nur bis morgen, denn heute können Sie schwerlich zu Ihrem Freunde kommen, da er sehr weit von hier wohnt.«

Jetzt fiel mir ein schwerer Stein vom Herzen, besonders als er mich versicherte, daß ich meine Sachen wiederbekommen würde, indem er einen Freund bei dem kurfürstlichen Marstall hätte, zu dem er den folgenden Morgen mit mir gehen wolle. Glücklicherweise traf seine Prophezeiung ein, denn der kurfürstliche Hofkutscher hatte sich schon selbst alle mögliche Mühe gegeben, mich ausfindig zu machen, um mir meine Sachen zuzustellen, die ich unversehrt erhielt.

Das Angenehmste war die freundschaftliche Aufnahme, die ich bei meinem Gönner fand, denn dieser verdung mich nicht nur für ein billiges bei meinem Wirte, den er vierzehn Tage lang für mich bezahlte, sondern verschaffte mir auch bei dem Herrn Hofrate Tonau eine recht erwünschte Kondition, welche mich in den Stand setzte, meiner Frau verschiedene Male Unterstützung an Gelde zuzusenden, worüber ich mir jedesmal einen Postschein ausstellen ließ.

Während dieses Dienstes nahm ich Gelegenheit, die Sehenswürdigkeiten Dresdens in Augenschein zu nehmen; so sah ich auf der Rüstkammer einen isabellfarbenen geschmückten Hengst, dessen Mähnen neun Ellen, der Schweif aber zwölf Ellen lang war und welchen König August der Zweite geritten haben soll, wobei die Mähnen Pagen, den Schweif aber Stallbedienten getragen hätten.[134]

Eines Tages ging ich auf den Wall spazieren und durch den Graf Brühlschen Garten, ohne von der Schildwache bemerkt oder zurückgehalten zu werden. In Gedanken vertieft, ging ich fort, ohne zu wissen wohin, und kam an eine Treppe, die ich hinabging. Bald kam ich an eine nur angelehnte Tür und durch diese in einen Gang, den nur zwei mit eisernen Gittern versehene Fenster erhellten. Hier ward es mir plötzlich ganz unheimlich, so daß ich nicht wußte, ob ich wieder umkehren oder weiter vorwärts gehen sollte. Indem ich so sann, kam mir ein Geruch von Räucherpulver in die Nase, worauf ich weiterging. Nach meiner Meinung mußte ich in der Nähe der Brücke sein und glaubte einen Durchgang zu finden. Hierauf stieß ich auf eine zweite angelehnte Tür, an der ich ein Weilchen horchte, ehe ich sie zu öffnen wagte. In der Mitte des Zimmers stand ein Postament und auf diesem die Figur eines Kreuzes, auf der Seite eine Art von Bettstelle, mit verschiedenen Rädern und Federn; an der Seitenwand waren Schränke, aus deren einem ein Stückchen Goldborde heraushing. Die Neugier reizte mich, an dieser Borde zu ziehen; in dem Augenblick schnellte die Tür in die Höhe, und wie ein geharnischter Mann trat auf mich zu. Ich war halbtot für Schrecken, und meine Füße versagten mir den Dienst. Mir war's, als raunte die Gestalt mir die Worte ins Ohr: »Hüte dich, junger Mensch, und schweige, sonst bist du verloren!« Besinnungslos kam ich wieder an die Tür; als ich sie öffnete, tat es hinter mir einen Schlag, als ob alles zusammengefallen wäre. Ich wußte nicht mehr, wo ich war; endlich fand ich einen Ausgang, den ich niemals habe wiederfinden können.

Leichenblaß kam ich nach Hause, weshalb der Herr nicht eher ruhete, weil ich über die Zeit ausgeblieben war, bis ich ihm den Vorfall erzählt hatte. »Kerl! plagt dich der Teufel?« rief er, »wie bist du dahin gekommen?« – »Durch Zufall«, war meine Antwort, »aber was das zu bedeuten hat, weiß ich nicht!« – »Gut, daß du dir[135] gegen niemanden etwas davon merken läßt, es könnte dir schlecht bekommen!« – Auch ohnedies bekam es mir nicht gut, denn ich wurde vor Schrecken einige Tage gefährlich krank. Ob dieses geheime Gemach vielleicht eine Torturstube war, habe ich nicht erfahren können; daß es aber ein wichtiger Ort sein müsse, habe ich daher vermutet, weil mir die Schildwache bei mehreren späteren Versuchen, noch einmal dahin zu kommen, jedesmal den Zutritt streng verweigerte. – Vielleicht hatte der Aufwärter, als er geräuchert, in dem Wahne, daß niemand eintreten könne, die Türen sorglos offen gelassen.

Ich hatte einen sehr guten Herrn, welcher, bis auf die Frisur, die ich ihm nie zu Danke machen konnte, vollkommen mit mir zufrieden war, und ich dachte, jahrelang bei ihm bleiben zu können, als ein Postschein, der ihm zufällig in die Hände gefallen war, ihm meine Verheuratung verriet, welches ihn bestimmte, mir den Dienst aufzusagen, weil auch er nur ledige Bedienung verlangte. Der einzige Trost, welchen ich von ihm mit mir nahm, war ein außerordentlich günstiges Zeugnis und eine Empfehlung an den damaligen Herrn Rittmeister von Gersdorf, welcher einen Bedienten suchte.

Hätte ich Sprachkenntnisse und keine Frau gehabt, so hätt ich in Dresden mein gutes Auskommen haben können, aber so mußt ich auf den Wunsch, dazubleiben, verzichten und nach Oederan zum Herrn Rittmeister von Gersdorf reisen, welcher mich auf unbestimmte Zeit, solange mir es bei ihm gefiel, in Dienste nahm. Zeitlebens hätt ich bei diesem edlen, braven Manne bleiben mögen, so gut hatten seine Leute es bei ihm; da aber meine Frau mich in mehreren Briefen dringend aufgefordert hatte, zu ihr nach Weimar zurückzukehren, so konnt ich ihr länger nicht widerstehen, sondern bat, als im Frühlinge des Jahres 1785 das Regiment nach Wilsdorf bei Freyburg in Kantonierungsquartiere ging, um meinen Abschied, den er mir mit dem schmeichelhaftesten Lobe schriftlich erteilte, da sich ihm eben ein Stellvertreter angetragen hatte.

Quelle:
Sachse, Johann Christoph: Der deutsche Gil Blas oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers. Von ihm selbst verfasst, Berlin 1977, S. 133-136.
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Der deutsche Gil Blas oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers
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