Aufenthalt in Amsterdam

[172] Wir mußten einstweilen unten in der Gaststube abtreten, um darin zu frühstücken, darauf trug ich den Koffer mit dem Hausknecht nach dem Zimmer, worin mein Herr logieren sollte. Beim Eintritt sah ich in dem Alkoven jemanden im Bette liegen und erhielt auf Befragen zur Antwort, daß es ein Engländer wäre, weshalb ich ihm mit »Good morning« zusprach, worauf er mit »I thank you« antwortete.

Man denke sich mein Erschrecken, als ich ein Weilchen darauf zum Auspacken der Sachen wieder auf das Zimmer kam und ebendiesen Herrn darin in seinem Blute liegen sah. Es war ein gräßlicher Anblick! Er hatte sich mit dem Rasiermesser die Gurgel durchschnitten und das Messer auf den Teller gelegt, worauf man ihm das Frühstück gebracht hatte. Ich machte sogleich Lärm; alles eilte herbei, aber da war an kein Leben mehr zu denken.

Dergleichen Vorfälle sind in Amsterdam nichts Neues, daher wurde auch aus diesem Selbstmorde nicht viel gemacht; man sandte bloß nach der Polizei, welche zwei Männer schickte, die den Unglücklichen in einen Sack steckten, worin sie ihn in eine vor dem Hause auf einer Schleife stehende Portechaise legten und fortfahren ließen.

Sowie der Tote aus dem Zimmer war, hatt ich Gelegenheit, die beispiellose Reinlichkeitsliebe der Holländer zu bewundern: Es kamen zwei Weibspersonen, die, nachdem sie das Bett fortgeschafft hatten, das Zimmer reinigten.[172] Eine hatte ein Gefäß mit Kalk und einen Pinsel, womit sie die Blutflecken überstrich, von welchen den andern Tag keine Spur mehr zu sehen war.

Unter dem Nachlasse des Unglücklichen fand man einige in sehr harten Ausdrücken abgefaßte Briefe seiner Eltern aus London, in deren letztern sie ihm zwar einen Wechsel auf zweihundert Stück Guineen beigelegt, aber ihn zugleich ermahnt hatten, das Geld gut anzuwenden. Erst vor drei Tagen hatte er es gehoben, aber sogleich in ein verrufenes Spielhaus getragen, worin er sich vorher schon eine venerische Krankheit zugezogen hatte. Der Verlust seiner Gesundheit und seines Geldes riß ihn daher zum Selbstmorde hin.

Quelle:
Sachse, Johann Christoph: Der deutsche Gil Blas oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers. Von ihm selbst verfasst, Berlin 1977, S. 172-173.
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Der deutsche Gil Blas oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers
Der deutsche Gil Blas. Eingeführt von Goethe. Oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers