Im Kurorte und in der Sommerfrische.

[84] Dem guten Tone gilt es gleich, ob und aus welchen Gründen man sich zu längerem Aufenthalte in einen Kurort begiebt, und es wäre lächerlich zu behaupten, daß er solche Reisen vorschreibt. Im Gegenteile, er verbietet sie, wenn die pekuniären Verhältnisse sie nur unter vielen Opfern und nachträglichen Entbehrungen gestatten. Die angegriffene Gesundheit kann auch daheim wieder hergestellt werden; die Beschwerden der Berufsarbeit können ebenso gut am heimatlichen Herde, wie in der Ferne ausgeglichen werden, und wer an Zeitüberfluß und Langeweile leidet, thut wohl, diese Dinge durch fleißige Arbeit aus der Welt zu schaffen.

Wer sich aber entschließt, an irgend einem anderen Orte die heißen Monate zu verbringen, der vergesse niemals ganz die Rücksichten, welche er seinen Mitmenschen schuldet. Dieselben werden hier keineswegs vollständig hinfällig, wenn sie auch nicht in ihrem gewöhnlichen Umfange aufrechterhalten werden können.

Die sensiblen gesellschaftlichen Standesunterschiede fallen fort Jeder gilt für das, was er scheint. Beim Zusammentreffen am Brunnen, bei Tafel, auf Spaziergängen, im Konzerte grüßt man einander mit freundlicher Artigkeit, und hieraus entwickelt sich leicht eine oberflächliche Bekanntschaft und ein freundschaftlicher Verkehr. Freilich wird eine gewisse Vorsicht geboten sein; denn der Schein trügt sehr häufig. Sind auch die Freundschaften gewöhnlich nicht von längerer Dauer als der Badeaufenthalt, so ist es doch wenig angenehm, unliebsame Erinnerungen mit nach Hause zu nehmen oder gar nachträglich allerlei Ärgernisse von seinen Freunden zu haben. Auch bliebe es immerhin peinlich, die im Bade geschlossene Bekanntschaft in der Heimat aus triftigen Gründen verleugnen zu müssen, obgleich es gang und gäbe ist, sich durch dieselbe keineswegs unbedingt zu binden, sondern sie nur, wenn wünschenswert, weiterzupflegen.

Deswegen empfiehlt es sich auch, diejenigen, welche man durch längeren Aufenthalt im Bade kennt, nicht ohne weiteres den neueren Bekannten vorzustellen, vielmehr erst diesbezügliche Wünsche abzuwarten und darauf zu achten, daß diese auch gegenseitig seien.

Sieht man sich genötigt, den Verkehr mit irgend jemandem bereits im Bade einzustellen, so sei man bedacht, dieses in recht unauffälliger Weise zu thun, um ja keinen Grund zu offenen Mißhelligkeiten zu geben. Ein langsames Zurückziehen entspricht der feinen[84] Sitte am besten, und hält man in der Folge einen kühlen, höflichen Verkehr aufrecht, so verhindert dieses am sichersten bittere und böse Gefühle, welche durch einen plötzlichen Bruch zu leicht erweckt werden.

Dringend aber ermahnen wir diejenigen, welche durch besondere Verhältnisse in den Fall kommen, in der Fremde ein Bündnis für's Leben schließen zu wollen, doppelte Vorsicht anzuwenden. Wir warnen ernstlich vor übereilten Verlöbnissen und raten zu den gründlichsten Erkundigungen vor Abschluß eines solchen. Wer das Licht der Wahrheit nicht zu scheuen hat, wird sich durch Nachfragen nicht beleidigt fühlen. Darum gehe man offen zu Werke und behandle diese Vorbedingungen als etwas ganz Selbstverständliches.

Wer in Begleitung seiner Familie oder doch wenigstens mit einigen Gliedern derselben im Badeorte weilt, hat inbezug auf Verkehr mit anderen Kurgästen ungefähr das zu erfüllen, was der gute Ton ihm in der Heimat vorschreibt, wenn auch ohne das peinliche Ceremoniell. Eine einzelne Dame aber hat hier, noch mehr wie sonst, die Verpflichtung, sich der größten Zurückhaltung zu befleißigen, um ihren Ruf nicht zu gefährden. Es läßt sich nichts dagegen einwenden, daß sie einen Kurort besucht, besonders, wenn dieses aus Rücksichten für ihre Gesundheit geschieht. Aber es ist nötig, daß sie in der Fremde viel ängstlicher auf die Wahrung der Formen bedacht sei, als in der Heimat, wo jedermann sie kennt, und ein etwaiger Übergriff zuweilen ohne jede unangenehme Folge sein kann.

Um eine passende Wohnung zu finden, wendet sie sich am sichersten an die Kurdirektion und wählt besser eine Privatpension, wie ein Hôtel. Weder in Toilette noch in Haltung oder Benehmen darf sie die allgemeine Aufmerksamkeit herausfordern, und für weitere Ausflüge muß sie sich einer Familie anschließen. Fehlt es ihr für die abendlichen Réunions an einer passenden Begleitung, so muß sie denselben fern bleiben, während sie Konzerte und Wohlthätigkeitsvorstellungen allein besuchen kann. Logiert sie im Hôtel, so wird es wenig angenehm für sie sein, an der allgemeinen Tafel teilzunehmen. Läßt sich dieses jedoch nicht vermeiden, dann gebrauche sie wenigstens die Vorsicht, sich einen festen Platz vom Kellner belegen zu lassen, damit sie des fatalen Suchens beim Eintritte in den Eßsaal überhoben ist. Im Lesezimmer kann sie nicht gut verweilen, wenn rauchende Herren darin sind. Es bleibt ihr alsdann nichts übrig, als die Zeitungen in das Musikzimmer mitzunehmen und nach beendeter Lektüre wiederzubringen.

Auf der Promenade, auf Spaziergängen sei sie sehr vorsichtig in der Annahme von Herrenbegleitung; am sichersten ist es, sie lehnt dieselbe ab und schließt sich anderen Damen an.[85]

Reist eine erwachsene Tochter mit ihrem Vater ins Bad, so muß dieser sie möglichst überallhin begleiten. Sollte er das aus irgend welchem Grunde nicht können oder wollen, so hat er sie unter den Schutz älterer Damen zu stellen.

Von dem Verkehre zwischen Herren und Damen bei den Abendgesellschaften und Tanzkränzchen gilt dasselbe, was wir in den diesbezüglichen Kapiteln sagten.

In der Sommerfrische gestaltet sich das Leben wesentlich anders, wie im Bade. Gewöhnlich sucht man sie nicht allein, sondern in Begleitung seiner Familie auf.

Man wähle thunlichst einen der Heimatstadt nicht allzu nahen Ort. Weitab von derselben, in einem einsamen Gebirgsdorfe stärkt man im Umgange mit der herrlichen Natur Körper und Geist sicherer, als wenn man das Stadtthor in 25 Minuten erreichen kann und in eben derselben Zeit von allen lieben und nicht lieben Freunden und Bekannten erreicht werden kann. Bei solcher Nähe wird man schon bei den Abschiedsbesuchen, welche man in seinem Verkehrskreise vor dieser, wie vor einer Badereise, zu machen hat, nicht umhin können, davon zu sprechen, daß die Entfernung gering und der Weg bequem ist. Ein Wort giebt das andere, und eine Einladung macht sich ganz von selbst; sie wird von dem guten Tone sogar verlangt. Andererseits erwartet derselbe allerdings von den Freunden, daß sie solch eine Aufforderung nur als eine notgedrungene Höflichkeit ansehen. Es wäre sehr unvorsichtig und taktlos, die »Sommerfrischlinge« daraufhin ohne weiteres überfallen zu wollen. Dieselben wußten ja, als sie die Einladung aussprachen, selbst noch nicht genau, in welcher Weise sich ihre Verhältnisse auf dem Lande gestalten würden, und ob es ihnen wirklich möglich sein würde, Gäste angemessen aufzunehmen. Darum warte man geduldig eine zweite oder dritte Aufforderung ab, ehe man sich zu Fuß oder zu Wagen mit den Seinigen zum Besuche der Freunde aufmacht. Von Überraschungen raten wir auch dann ganz ab. Das Heranschaffen der Vorräte ist in den Dörfern stets mit Hindernissen verknüpft, und jede Hausfrau wird es dankbar empfinden, wenn man sich, möglichst mit Angabe der Personenzahl, anmeldet. Durch diese einfache Rücksicht gewinnt sie Zeit, alles Nötige zu ordnen und kann sich ihrem Besuche mit größerer Ruhe und Freudigkeit widmen, als wenn ein Überfall stattfindet. Die mit frohem Herzem gebotene Gastfreundschaft nehme jeder ebenso an und bewahre den gütigen Wirten eine herzliche Dankbarkeit.

Zwischen den Mietern und dem Besitzer der Sommerwohnung muß ein gutes Einvernehmen angestrebt werden: ein ausgesucht[86] höflicher, aber reservierter Verkehr entspricht den Verhältnissen am besten. Einen Antrittsbesuch schuldet man weder ihm, noch sonst jemandem im Dorfe, höchstens dem Pfarrer.

Damit die Differenzen wegen des »Soll und Habens« gegenüber dem Wohnungsgeber nicht Anlaß zu Streitigkeiten geben, ist es geraten, auch hier, wie bei sonstigen Mietsverträgen, alles schriftlich festzustellen. Im übrigen halten wir das aufrecht, was bereits über das Verhältnis zwischen Wirt und Mieter gesagt wurde. Hinzuzufügen wäre nur noch, daß, wenn es sich, wie wohl in den meisten Fällen, um eine möblierte Wohnung handelt, jeder Mensch von Lebensart den Hausgeräten dieselbe Schonung schuldig ist, welche er seinen eigenen daheim zollt. Brennende Zündhölzer auf den Teppich zu werfen, die Cigarrenasche an den Polstermöbeln abzustreifen, den frottierten Fußboden durch schmutzige Stiefel zu verderben u. dgl. erlaubt sich kein wirklich Gebildeter. Auch den Kindern und Dienstboten gestatte man keinerlei Vergewaltigung fremden Eigentums.

Liegt der Sommeraufenthalt im Gebirge, so werden häufig Partien nach den nahen Aussichtspunkten übernommen. Der Sommerfrischler verwandelt sich also in einen Touristen und unterliegt als solcher allem, was der gute Ton von diesem fordert. Vorzüglich empfehlen wir ihm, nicht in abfälliger Weise über Land und Leute zu urteilen, sich im Riesengebirge nicht das Chamounixthal oder in der sächsischen Schweiz den Montblanc zu wünschen. Wenig angebracht wäre es ferner, die einfachen Gastwirtschaften auf den Kämmen oder in den Dörfern mit den eleganten Restaurants der Vaterstadt vergleichen zu wollen und in große Verwunderung über den geringen Komfort und die hohen Preise auszubrechen.

Auch empfehlen wir dem Ausflügler Toleranz gegen die Religion des Landes, in welchem er wandert. Es zeugt von wenig vornehmer Gesinnung, alberne Bemerkungen über Heiligenbilder zu machen oder die einfache Tracht der lutherischen Geistlichen zur Zielscheibe des Spottes zu wählen.

Viele haben die Gewohnheit, in den an den Aussichtspunkten ausgelegten Fremdenbüchern ihre Witze zu deponieren. Wir möchten behaupten, daß es seiner ist, nur seinen Namen einzuschreiben. Besonders Damen sollten sich nie verleiten lassen, hier durch Knittelverse od. dgl. ein Denkmal zu errichten. Noch schrecklicher als die Fremdenbuchpoesie finden wir das Gravieren, Bepinseln und Bekritzeln von Felsen, Mauern, Statuen u.a. Es ist ein wahrhaft greulicher Anblick, hier in buntem Durcheinander die Namen derjenigen zu finden, welche sich dermalen bis dorthin verstiegen hatten.[87]

Zum Schlusse erwähnen wir, daß die Badereisenden und Sommerfrischler ihren Bekannten bei der Rückkehr recht bald einen kurzen Besuch machen müssen, um sich von neuem in die Geselligkeit einzuführen.

Quelle:
Schramm, Hermine: Das richtige Benehmen. Berlin 201919, S. 84-88.
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